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Kommt Obama als Heilsbringer zu spät?

26. November 2008
Der Heidelberger Amerika-Historiker Detlef Junker befürchtet, der neue US-Präsident könnte allzu hohe Erwartungen enttäuschen
Berufshistoriker, die weltgeschichtliche Krisen und Revolutionen, das heißt verlaufsbeschleunigte und zukunftsoffene Entscheidungssituationen und Prozesse zu verstehen und zu interpretieren suchen, wissen, dass es Voraussagen über die Zukunft nur geben könnte, wenn es keine Zukunft mehr gäbe. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist so eine offene Krisensituation. Sie hat uns mit ungeahnter Wucht und Globalität getroffen. Ihre Eintrittswahrscheinlichkeit in dieser Größenordnung lag außerhalb unseres Erwartungshorizontes.

Diese Krise, die die Größenordnung der bisher schwersten Krise seit Beginn der industriellen Revolution, der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932, erreichen könnte (nicht muss), macht in ihrer Unberechenbarkeit auch die Beantwortung der vieldiskutierten Frage nach den Konsequenzen der Wahl Obamas für das transatlantische Verhältnis zu einem riskanten Mix aus Erfahrungswissen, unsicheren Hypothesen und dem möglichen Zusammenspiel angenommener Variablen.

Schon meine erste Annahme ist nur eine begründete Vermutung, nämlich die Annahme, dass die Reaktion der amerikanischen Politik vor und nach dem Amtsantritt von Präsident Obama am 20. Januar 2009 auf diese Krise das transatlantische Verhältnis so lange dominieren wird, bis die Weltwirtschaft ein neues Gleichgewicht gefunden haben wird. Vorstellbar ist nämlich auch, dass parallel zur Weltwirtschaftskrise andere Ereignisse die Sicherheitspolitik wieder in den Mittelpunkt des transatlantischen Verhältnisses rücken könnte. Dies könnte zum Beispiel ein terroristischer Angriff auf die USA oder einen ihrer Bündnispartner, ein eskalierender amerikanischrussischer oder ein amerikanisch-iranischer Konflikt, die Destabilisierung Pakistans oder die nachhaltige Forderung der USA an die Europäer – insbesondere die Deutschen – sein, erheblich mehr Truppen für einen neuen Feldzug in Afghanistan zur Verfügung zu stellen.

Die USA und Europa sind weder auf die Weltwirtschaftskrise noch die militärischen Konflikte der Zukunft konzeptionell vorbereitet. Nach dem Scheitern des Versuchs der ersten Administration von George W. Bush, durch die Begründung einer unilateralen Pax Americana das zu versuchen, was den USA weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen war, gibt es keine allgemeine außenpolitische Strategie der USA mehr, nur noch Ad-hoc-Entscheidungen und eine lange Liste von Wünschbarkeiten.

Auch Europa hat, wie jeder weiß, noch keine einheitliche Außenpolitik für die Welt jenseits des Alten Kontinents gefunden. Solange wie die Alte Welt sich aus Sicht der Neuen Welt nicht an einer neuen Lastenteilung für die wirtschaftliche und militärische Stabilisierung der Welt beteiligt, wird Europa auch in der neuen Administration Obama und in den Denkfabriken Amerikas nur eine untergeordnete Rolle spielen – ungeachtet einer wohlfeilen, öffentlichen Rhetorik der Partnerschaft.

Die Weltwirtschaft braucht nichts dringender als ihr knappstes Gut, nämlich Vertrauen, und sie braucht es jetzt. Weil das für das 21. Jahrhundert disfunktionale amerikanische Wahlsystem dem neuen Präsidenten erst mit seiner Inauguration am 20. Januar 2009 Macht und Legitimation verleiht, könnte es für den Heilsbringer Obama, seinen globalen Vertrauensvorschuss, sein massives Investitionsprogramm in den USA und für seine mögliche Zustimmung zu einer globalen Regulierung der Finanzmärkte schon zu spät sein.

Die Entscheidung der G 20-Staaten, sich erst im April des nächsten Jahres wieder zu treffen, ist ein Eingeständnis der Ohnmacht und eine Abdankung der Politik. Sie zeigt, dass die politischen Klassen in den Nationalstaaten und internationalen Organisationen der dramatischen Entwicklung der Weltwirtschaft hinterhereilen. Das flüchtige Kapital scheint schneller zu sein als politische Entscheidungsprozesse. Die Krise könnte sich also weiter durchfressen, ein Verlauf wie während der Großen Depression könnte die Folge sein: Kreditkrise, Preisverfall, dramatischer Produktionsrückgang, gesunkene Nationaleinkommen, Massenarbeitslosigkeit, drastisch reduzierter Welthandel, ein neuer Protektionismus, ein Wettlauf nationaler Schutzmaßnahmen nach dem Motto „Rette sich, wer kann“, Radikalisierung an den linken und rechten Rändern der Gesellschaften.

Eine alternative Vorwegnahme der Zukunft grenzte an ein Wunder: Die Europäer einigen sich noch vor dem Amtsantritt des US-Präsidenten auf praktikable, das heißt durchsetzungsfähige Verfahren für ein transparentes und verantwortliches Risikomanagement auf den Finanzmärkten; Obama verkündet sofort nach seiner Amtsübernahme einen gewaltigen Wechsel in der Innen- und Außenpolitik der USA, besonders in der Wirtschafts-, Energie-, Klima- und Gesundheitspolitik; er überschwemmt, wie Franklin Delano Roosevelt 1933 in seinen berühmten ersten hundert Tagen, den zustimmungsbereiten Kongress mit Gesetzesvorschlägen. Die G 20-Staaten treffen sich noch im Januar und tragen mit amerikanischem und britischem Einverständnis das Modell der unregulierten, „freien“ Finanzmärkte zu Grabe, die Staaten der Welt einigen sich auf das ordoliberale Ordnungsmodell der „sozialen Marktwirtschaft“.

Leider wird dieses Wunder vermutlich ausbleiben, deshalb ist es wahrscheinlicher, dass es trotz der Euphorie über die Wahl Obamas zu einer Krise der enttäuschten Erwartungen im amerikanischeuropäischen Verhältnis kommen wird.
Detlef Junker
© Rhein-Neckar-Zeitung

Detlef Junker ist Gründungsdirektor des Heidelberg Center for American Studies (HCA)der Universität Heidelberg. Er leitete zuvor u.a. das Deutsche Historische Institut in Washington D.C. und war Inhaber des Curt-Engelhorn-Lehrstuhls für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg.

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