Prof. Dr. Wilfried Härle - über 1. Kor 9, 7-14 - Predigtthema: Verdienter Lohn

Prof. Dr. Wilfried Härle

Predigt am 30.05.1999 über 1. Kor 9, 7-14 - Predigtthema: Verdienter Lohn
in der Peterskirche Heidelberg


Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, ob es andere biblische Texte gibt, in denen auf so engem Raum so viele Fragen gestellt werden wie in unserem Predigttext. Ich habe in den acht Versen zehn Fragen gezählt. Da liegt die Vermutung nahe, daß der Apostel mit der Gemeinde in Korinth ins Gespräch kommen und ihre Meinung erfahren will.
Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß unter den zehn Fragen keine einzige echte Frage ist. Es handelt sich ausnahmslos um sogenannte rhetorische Fragen, durch die die Angesprochenen zur Zustimmung veranlaßt werden soll. Paulus will mit der Gemeinde in Korinth nicht über das heikle Thema „Kirche und Geld“ diskutieren, sondern er will die Korinther davon überzeugen, daß er genauso wie die anderen Apostel das Recht hat, von der Gemeinde mit wirtschaftlichen Gütern versorgt zu werden. Das ist ihm offenbar deswegen wichtig, weil die Anerkennung dieses Anspruchs für ihn ein Zeichen ist, daß er von den Korinthern als ein rechtmäßiger Apostel anerkannt wird. Paulus selbst ist fest davon überzeugt, daß er trotz seiner Vorgeschichte als Christenverfolger und obwohl er den irdischen Jesus nicht kennengelernt hat, dennoch ein richtiger Apostel ist und daß ihm darum auch finanzielle Versorgung durch die Gemeinde zusteht.

Darüber will er mit den Korinthern nicht diskutieren. Dazu will er nicht ihre Meinung erfragen, sondern dazu will er ihre Zustimmung gewinnen. Und diesem Ziel dient der Einsatz der Kette von rhetorischen Fragen, mit deren Hilfe er Vergleiche aus dem Bereich des Militärs und der Landwirtschaft heranzieht, vor allem aber auf Aussagen und Bestimmungen aus der Heiligen Schrift, also aus dem Alten Testament verweist.

Eine solche Argumentationsstrategie kann dazu führen, daß die Angesprochenen sich nicht wirklich ernst genommen fühlen, daß sie den Eindruck gewinnen, sie sollten vereinnahmt werden und daß sie gerade deswegen den rhetorischen Fragen des Apostels mit steigendem Argwohn begegnen. Und dann kann irgendwann der Punkt erreicht sein, wo sie ihre Zustimmung verweigern. Dann wird nicht die gewünschte Einmütigkeit erreicht, sondern dann beginnt möglicherweise doch die Sachdiskussion, die gerade vermieden werden sollte – zumal bei einem so heiklen Thema.

Mir selbst geht es an einem Punkt so, daß ich Paulus die Zustimmung zu einer seiner rhetorischen Fragen verweigere. Wenn Paulus fragt: „Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen?“, dann sage ich: „Ja!“ Und wenn Paulus fortfährt: „Oder redet er nicht überall um unsertwillen?“, dann sage ich: „Nein! Gott redet auch um anderer Kreaturen willen“. Gott sorgt sich tatsächlich auch um die Ochsen, und wir sollten dem Apostel nicht folgen, wenn er eine der – ohnehin nicht so zahlreichen – biblischen Aussagen zum Tierschutz allegorisierend auf uns Menschen umdeutet. Oder haben wir Paulus damit möglicherweise gar nicht richtig verstanden? Sollte er, der im Römerbrief vom Seufzen der Kreatur schreibt, tatsächlich bestreiten wollen, daß Gott sich auch um die Tiere kümmert?

Der Einwand gegen das, was Paulus hier sagt, ist übrigens keineswegs neu oder erst durch das wachsende ökologische Bewußtsein entstanden. Zu meiner Überraschung fand ich schon in meiner alten Lutherbibel von 1656 zu dieser Stelle einen schönen, erheiternden Kommentar. Dort heißt es im Anschluß an die Frage des Paulus: „Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen?“: „Gott sorget für alle Ding, aber er sorget nicht, daß für die Ochsen geschrieben werde, denn sie können nicht lesen“. Damit bin ich nun ganz einverstanden. Und wenn Paulus das gemeint hat, dann ist dieser Stolperstein ausgeräumt. Dann können wir uns vermutlich mit ihm und untereinander gut darüber verständigen, daß das Alte Testament die Unsitte verbieten will, den Ochsen, die den Dreschschlitten über das Korn ziehen oder die mit ihren Füßen die Körner aus den Ähren stampfen müssen, bei der Drescharbeit das Maul zuzubinden, damit sie nur ja nicht von dem wertvollen Getreide fressen.

Aber dann ist auch klar: Das gilt eben nicht nur für Tiere, sondern ebenso für Menschen. Allen Geschöpfen steht für ihre Arbeit ein angemessener Lohn zu. Sie haben ihn verdient. Arbeitslohn ist keine Sache der Gnade, sondern ein Rechtsanspruch, und das ist bei uns ja auch durch das Arbeitsrecht geregelt.

Aber ist denn nicht – so höre ich den evangelischen Einwand in mir – alles Gnade? Nein, es ist nicht alles Gnade. Denn wenn alles Gnade wäre, dann wäre „Gnade“ ein nichtssagendes Wort. Dann wäre nichts mehr wirklich Gnade. Man kann und soll es wohl als Gnade oder als Gottes Güte bezeichnen, wenn einem die Fähigkeit und Möglichkeit gegeben ist, sinnvolle Arbeit zu verrichten, und wenn einem dazu die Kraft und Begabung zuteil geworden ist. Aber die Arbeit selbst ist unsere menschliche Leistung und nicht Gottes Werk. Und darum verdient menschliche Arbeit – wenn sie ordentlich gemacht ist – ihren Lohn.

Das wird ja auch von niemandem ernsthaft bestritten. Problematisch wird es aber möglicherweise dort, wo dieser Grundsatz aus dem Bereich der Wirtschaft auf den der Religion, der Kirche und des Glaubens übertragen wird – wie Paulus das tut. Hier gilt doch: „Umsonst habt ihr ´s empfangen, umsonst gebt es auch“ (Mt 10,8b). Und deswegen dürfen kirchliche Verkündigungsdienste und z. B. auch Kasualien – wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen – nicht zu einer Handelsware gemacht werden, die man kaufen kann und die denen vorenthalten bleibt, die dafür nicht bezahlen können. Kirche ist kein Unternehmen und kein Konzern. Und trotzdem geht auch das Matthäusevangelium (wie Paulus im Ersten Korintherbrief) davon aus, daß diejenigen, die diese Botschaft umsonst weitergeben, erwarten dürfen, daß für sie gesorgt wird. Wie geht das zusammen?

Paulus sieht diesen Zusammenhang offenbar genauso, wie er in Matthäus 10 von Jesus beschrieben wird: „Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert“. Das heißt doch: Die Jünger sollen weder Vorräte mitnehmen, noch das Evangelium gegen Geld verkündigen oder Kranke gegen Bezahlung heilen, aber sie sollen darauf hoffen, ja damit rechnen, daß dort, wo das Evangelium angenommen wird, auch die Bereitschaft entsteht, die Boten angemessen zu versorgen.

Aber das kann mißverstanden und mißdeutet werden – damals wie heute. Immer wieder taucht die Vermutung auf, Pfarrerinnen und Pfarrer würden ja doch nur deshalb die christliche Botschaft vertreten, weil sie dafür bezahlt werden. Um diesen Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, hat Paulus das Recht, sich als Apostel von der Gemeinde versorgen zu lassen, niemals in Anspruch genommen, sondern sich durch seine handwerkliche Arbeit als Zeltmacher seinen Lebensunterhalt verdient. Ja, er setzt alle Ehre darein, daß er nie der Gemeinde zur Last gefallen ist und keine wirtschaftlichen Vorteile angenommen hat, um – wie er sagt – „dem Evangelium von Christus kein Hindernis zu bereiten“.

Unter Verweis auf dieses Modell wird immer wieder einmal der Vorschlag gemacht, Pfarrerinnen und Pfarrer sollten sich von einem „normalen“ bürgerlichen Beruf ernähren und ihren Dienst ehrenamtlich ausüben, wie es der Apostel getan hat. Das ist zweifellos eine legitime Möglichkeit, die durch das ehrenamtliche Pfarramt heute auch rechtlich geordnet ist. Und ich gehe noch einen entscheidenden Schritt weiter: Für die christliche Kirche ist es sogar lebensnotwendig, daß es Menschen gibt, die in ihrem bürgerlichen Beruf für ihren Glauben einstehen – als Hochschullehrer oder Ärztinnen, als Handwerksmeister oder Verkäuferinnen, als Techniker oder Schauspielerinnen. Wenn es das nicht mehr gäbe, dann wäre es für die christliche Kirche ein schwerer Verlust; denn das ist praktiziertes Christentum aller Gläubigen.

Aber es wäre ein nicht geringerer Verlust, wenn es nicht mehr die Möglichkeit gäbe, daß befähigte, gut ausgebildete Menschen mit ihrer ganzen Arbeitszeit (und oft genug noch darüber hinaus) ansprechbar und erreichbar sind als Seelsorger, für die Gemeindeleitung, für den öffentlichen Verkündigungsauftrag in der Kirche. Ohne Not darf die Christenheit auf diese Möglichkeit nicht verzichten.

Aber vielleicht ist diese Notsituation schon näher, als wir denken. Was ist denn, wenn es immer weniger Menschen gibt, denen die Sache des Evangeliums auch einen finanziellen Beitrag wert ist. Was wird, wenn aus unterschiedlichen Gründen die Einnahmen der Kirchen so sinken, daß nicht mehr alle Ausgebildeten und Geeigneten ein Pfarramt bekommen und wenn viele Gemeinden ihre Pastorin oder ihren Pfarrer verlieren? Und wir reden ja hier nicht von einer abstrakten Möglichkeit, sondern von einer Realität, die über vielen Theologiestudierenden und Vikaren wie ein Damoklesschwert hängt.

Haben wir schon genug darüber nachgedacht, ob es nicht auch außerhalb der Institution „Kirche“ Interesse und Gelegenheit dafür geben könnte, daß Menschen ihre theologische Kompetenz so in die Wirtschaft und in das gesellschaftliche Leben einbringen, daß sie sich davon auch ernähren können? Die Urgemeinde spiegelt ja eine Situation wider, in der die Kirche erst dadurch entsteht, daß Christen dort wirken, wo von der christlichen Botschaft bislang noch nichts bekannt war – heute müßten wir entsprechend sagen: wo davon nichts mehr bekannt ist. Ob wir vom Neuen Testament und von der Urgemeinde lernen können, auch in dieser Hinsicht die Mauern der Kirche zu überwinden und wieder stärker in der Gesellschaft präsent zu sein?

Paulus selbst ist – wie gesagt – diesen Weg gegangen. Er hat um seine Anerkennung als Apostel und um sein Recht auf Versorgung gekämpft, aber er hat dieses Recht nicht in Anspruch genommen, sondern seine Ehre darein gesetzt, davon keinen Gebrauch zu machen. Das ist beeindruckend.

Aber noch viel mehr beeindruckt es mich, daß Paulus seinen Verzicht nicht zum Maßstab für andere macht. Wie leicht wäre es, sich mit einem solchen Verzicht als Vorbild darzustellen und anderen ein schlechtes Gewissen zu machen! Und wie häufig wird in der Kirche und durch die Kirche in der Gesellschaft der Versuch gemacht, Menschen in Sachen Geld ein schlechtes Gewissen zu machen. Das ist ein großes Übel. Wo dieser Versuch unternommen wird und gelingt, da stimmt dann bald nichts mehr. Da zeigt sich entweder, daß das Geld für uns oder andere zu einem Götzen, eben zum Mammon, geworden ist, der mit dem Glauben nicht vereinbar ist, oder daß der angeblich freiwillige Verzicht auf Geld zu einer moralischen Verpflichtung geworden ist, die mit Liebe nichts mehr zu tun hat. In beiden Fällen wird das Geld religiös aufgeladen und entweder abgöttisch geliebt oder verteufelt.

Indem Paulus darauf verzichtet, auf andere Druck auszuüben und ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, praktiziert und empfiehlt er einen freien Umgang mit dem Geld, der zeigt: Nur wer sein Geld mit gutem Gewissen haben kann, kann es auch mit freiem Herzen weggeben. Und nur wer es mit freiem Herzen geben kann, kann es auch mit gutem Gewissen haben. Haben, als hätte man nicht, sagt Paulus. Geben, so daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, sagt Jesus. Das ist in Sachen Geld, Lohn und Verdienst die Freiheit eines Christenmenschen, von der wir gar nicht genug haben und einander geben können.

In dieser Freiheit bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft.
 

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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