14.06.09: Predigt Prof. Dr. Christoph Strohm

Predigt im Universitätsgottesdienst am 14. Juni 2009, Peterskirche, Heidelberg

Predigttext:  Luk 16,19-31

Prediger: Prof. Dr. Christoph Strohm

Liebe Gemeinde,

Irgendwo in Palästina, vor ungefähr zwei Jahrtausenden, hören die Menschen einem Mann zu, der folgende Beispielgeschichte erzählt: [Luk 16,19-31]

V19 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.V20 Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren V21 und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.V22 Es begab sich aber, daß der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.V23 Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.V24 Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.V25 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt.V26 Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.V27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus;V28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.V29 Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.V30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.V31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.


Die Zuhörenden reagieren sehr unterschiedlich auf diese Beispielgeschichte. Die Armen und Notleidenden und diejenigen, die sich schwer benachteiligt oder gar um ihre Lebenschancen betrogen fühlen, hören die Geschichte als Trost. Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit! Mein Leiden, meine Not wird nicht auf ewig festgeschrieben. Das, was ich als belastend und deprimierend erfahre, ist nicht das letzte Urteil über die Erfüllung oder Nichterfüllung meines Lebens. Vielmehr werde ich irgendwann und irgendwie entschädigt werden. Andere, die mit Wohlstand und Erfolg in Familie, Studium und Beruf gesegnet sind, empfinden die Beispielgeschichte eher als bedrohlich. Hier wird mir mein mühsam errungenes, mein hart erarbeitetes oder auch dankbar empfangenes Glück madig gemacht. Nicht nur wird es entwertet angesichts dessen, was letztendlich kommt, sondern mein Blick wird in bedrängender Weise auf den Armen vor der Tür gerichtet. Und dann ist es wieder da, das schlechte Gewissen angesichts meines Privilegs, in dem über die Maßen bevorzugten Teil der Welt zu leben, wo das tägliche Leben normalerweise eben nicht ein Überlebenskampf ist und wo man ganz unverdient vor den elementaren physischen Bedrohungen geschützt ist. Und es drängt sich einfach auf: Muss ich mich nicht als den reichen Mann identifizieren, auch wenn ich nicht in Purpur und feinstes Leinen gekleidet bin? Es sind ja nicht, von ein paar Ausnahmen abgesehen, die Menschen Afrikas, die von den gegenwärtigen ökonomischen Mechanismen profitieren, sondern wir hier in der sogenannten ersten Welt. Und weiter: Ist es das primäre Ziel dieser Beispielgeschichte, denen, die heute morgen hier in den Gottesdienst kommen, den Sensibleren, ihr Ungenügen und Versagen vorzuhalten?

Kehren wir noch einmal zurück nach Palästina. Hier wird die Beispielgeschichte wieder erzählt, irgendwo im Westjordanland, nun knapp zwei Jahrtausende später. Sie wird von manchem Zuhörer als Trost angesichts einer Besetzung, die von elementarsten Lebensmöglichkeiten abschneidet, gehört. Die Beispielgeschichte wird gehört im Angesicht einer Mauer, die in demütigender Weise das Eingegrenztsein und Ausgesperrtsein vor Augen führt. Die Geschichte tröstet insofern, als sie die Hoffnung nährt, dass die Verhältnisse sich einmal umkehren; dass aus den Besatzern die Besetzten und aus den Besetzten und Marginalisierten die Freien oder auch die Besatzer werden. Hier nährt die Beispielgeschichte das Gefühl der Rache. Nicht nur wird das Opfer einmal nicht mehr Opfer sein, sondern der Gewinner muss zum Verlierer werden. Das kann nicht der Sinn der Beispielgeschichte sein. Es entspricht jedenfalls gerade nicht dem Geist des Evangeliums, in dem wir die Geschichte heute lesen.

Die Beispielgeschichte zeigt ein paar auffällige Besonderheiten. Anders als in allen anderen Gleichnissen trägt hier eine der agierenden Personen einen konkreten Namen, Lazarus, zu deutsch „Gott kommt zu Hilfe“. Von der Hölle, wörtlich „Hades“, und der Frage des Hinüber- und Herüberwechselns zwischen Himmel und Hölle ist sonst im Neuen Testament nicht die Rede: „Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.“

In der Beispielgeschichte ist eine alte ägyptische Geschichte verarbeitet, die von einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Totenreich handelt. Im Lukasevangelium bekommt diese Geschichte eine neue Zuspitzung in dreifacher Hinsicht. Erstens geht es dem Lukasevangelium nicht um kleinkarierte und gefährliche – auch politisch gefährliche! – Rache, sondern um Gerechtigkeit aus Liebe. Lukas hat zahlreiche Worte Jesu gesammelt, in denen es um die Aufforderung an die Lebenden geht, die Armen nicht zu vergessen und sich nicht in dem Irrtum zu verlieren, dass das Sammeln von Schätzen auf dieser Welt in irgendeiner Weise Erfüllung und Heil für unser Leben verheißt. Im Gegenteil, sich auf den Reichtum zu verlassen, ist eine gefährliche Illusion, die den Blick für das Eigentliche verstellt. Es kann kein gelingendes Leben geben, wenn man dazu die Not des Nächsten verdrängen muss; oder wenn gar auf Kosten der Schwachen gelebt wird. Gelingendes Leben gibt es dann, wenn die eigene Freiheit in der Freiheit zum Dienst am Nächsten Erfüllung findet – so hat Martin Luther das in seiner Programmschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ formuliert. Die Freude herzuschenken, ist eine profundere Freude, als der Genuss materieller Dinge. Jeder Vater und jede Mutter wissen das. Und auch sonst hat wohl jeder die Erfahrung, dass geteilte Freude doppelte Freude ist.

 

Die zweite Zuspitzung der alten Geschichte im Munde Jesu wird an der Bewertung der beiden Hauptakteure deutlich. Zum Verhängnis wird dem Reichen nicht das Reichsein an sich, sondern sein Verhältnis zum Reichtum. Weil er auf sich selbst fixiert lebt und nur sein eigenes Lebensglück im Blick hat, ist das endgültige Urteil über ihn vernichtend. Aber wie den Reichen nicht sein Reichtum in die Hölle bringt, so bringt auch den Lazarus nicht seine äußere Armut in den Himmel. Er wird getröstet, weil er in all seiner Not auf Gottes Hilfe vertraut. Er gelangt zum Heil, weil er glaubt. Martin Luther hat das in einer Predigt am 15. Juni 1522 wie folgt ausgedrückt: „Daß er [sc. der Reiche] aber den Glauben nit gehabt hat, möget ihr daraus [=Folgendem] entnehmen; denn der Glaub’ ist ein solch’ Erkenntnis, dass einer meinet, er sei nicht würdig, dass ihn die Erde trägt, Er sei ganz nichts, und hält sich für den geringsten Menschen auf dem Erdboden, Wendet sich von den Dingen ab, die da etwas sind, und hält sich zu denen, die da nichts sind. Aber die Vernunft hebt ihre Augen auf und sieht an, was vor der Welt groß ist, verachtet das, da geringe und nichts ist, aber – wie Paulus sagt, I. Korinther 1, 27: ‘Gott erwählt die Ding, die närrisch und vor der Welt nichts sein, auf dass er zuschanden mache die Ding, die da weise und stark sein’, darum der Gläubige hält sich für nichts und tröstet sich allein an der göttlichen Barmherzigkeit: die hält er für seinen Reichtum [...]. Wiederum, alle Gläubigen sind Lazari, denn sie haben gleich den Willen, den Lazarus hier hat, verachten, was da groß und hoch von der Welt gehalten wird, werfen sich danieder, dienen und helfen jedermann, was sie vermögen, nehmen es an, wie es Gott mit ihnen fügt, befehlen sich Gott, geben’s ihm alles anheim und stellen’s alles auf Gott, mit ihnen zu schaffen nach seinem göttlichen Willen und Wohlgefallen.“ (Predigt am 15. Juni 1522, WA 10/III, 179,15-189,13 – Text leicht modernisiert).

Das Lukasevangelium stellt uns in drastischer Weise zwei Lebensmodelle vor Augen, das eine gelingend und das andere gescheitert, trotz allem äußeren Schein. Entscheidend für das Gelingen ist der Glaube, der das Leben demütig und dankbar empfängt. Auch der Glaube selbst bleibt ein Geschenk, und doch wirken wir in eigentümlicher Weise mit an der Weichenstellung, ob wir in die Rolle des Reichen, der sich selbst um das Eigentliche bringt, oder ob wir auf den Weg des Lazarus geraten, der trotz all der erlebten, persönlichen Not nicht das Leben verliert, sondern gewinnt. Als ich vor vielen Jahren mein Vikariat absolviert habe, war ich in einem hinter dem Würzburger Hauptbahnhof gelegenen Stadtteil tätig. Es gab dort viele mehrstöckige Miethäuser, in denen teilweise schon lange und über Generationen Eisenbahnerfamilien wohnten. Als jungem Vikar kam mir unter anderem die Aufgabe der Geburtstagsbesuche bei den älteren Gemeindegliedern zu. Ich klingelte und wurde in Wohnungen eingelassen und erfuhr Lebensschicksale, die ich bis heute nicht vergessen habe. Da erzählte mir in der Abenddämmerung eine Frau, dass nicht nur ihr Mann, sondern auch ihre beiden Brüder im Zweiten Weltkrieg gefallen waren. Und ich lernte eine Frau kennen, die nicht nur ihren Mann nach langer Krankheit verloren hatte, sondern auch ihren ersten Sohn. Und dann sah ich auch ihren zweiten Sohn aufgrund der gleichen Krankheit blind werden und schließlich sterben. Immer wieder ging es in den Gesprächen mit denen, die einen hohen Geburtstag feierten, um die harte Erfahrung, dass Stück für Stück die Gesundheit genommen wurde, die Bewegungsfähigkeit und die vertrauten Menschen ringsherum. Was mich tief beeindruckt und in meinem Nachdenken bis heute nicht losgelassen hat, war der Sachverhalt, dass die Menschen sehr unterschiedlich auf diese Erfahrung reagierten. Die einen wurden bitter darüber und alles wurde noch schlimmer. Anderen aber war es gegeben, sich gerade angesichts all der Verlusterfahrungen über das bisschen Gesundheit, Bewegungsfähigkeit und die vertrauten Menschen, die noch blieben, umso bewusster und sensibler zu freuen.

Ich habe mir das bis heute nicht besser erklären können als damit, dass den letzteren so etwas wie Glauben geschenkt worden ist. Es waren aber auch die, die über lange Jahre die sensible Wahrnehmung des geschenkten Lebens aktiv und wohl auch diszipliniert eingeübt haben. In diesem Sinne ermutigt und ermahnt uns die Beispielgeschichte, dieses Vertrauen einzuüben und uns ja nicht von den Glücksverheißungen von Reichtum, Purpur und beruflichem Erfolg einlullen zu lassen. Es kann eben auch zu spät sein, und der Zugang zum Leben bleibt uns dann verschlossen.

 

Schließlich erhält die alte ägyptische Geschichte im Munde Jesu, wie sie uns Lukas berichtet, noch eine dritte neue Zuspitzung. Der gesamte hinzugekommene Schlussteil handelt davon, dass die Menschen Gottes Wort, das Gesetz und die Propheten, erhalten haben. „Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.“ Und dann hakt der Reiche noch einmal nach, ein drittes Mal, und bittet, seine Brüder mögen durch das besondere Zeichen gewarnt werden, dass einer von den Toten zu ihnen ginge. Aber die Antwort ist wiederum, dass sie das notwendige Wort – Mose und die Propheten – schon hören könnten, wenn sie nur wollten. Auch das Wunder einer Auferstehung von den Toten würde daran nichts ändern. Und hier liegt die evangelische Pointe der Geschichte. Es geht nicht um Wunder und besondere Zeichen, sondern um das Wort, das Leben schafft. Mit dem Wort, das Verheißung wie Weisung ist, haben wir alles. Unsere Vernunft neigt zu Hochmut und Zweifel. In den allzu menschlichen Geschichten der Bibel soll das Wort des lebendigen Gottes zu finden sein? In den armseligen Worten eines allzu menschlichen Predigers soll ich Gottes Wort für mein Leben hören? Unsere Vernunft sucht Zeichen und Wunder. Wahrer Glaube entsteht aber durch das schlichte Wort der Verheißung, der Weisung und der Deutung, das ergriffen wird. Der Evangelist Lukas hat das am Ende seines Evangeliums in der Geschichte von den Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus dem Auferstandenen begegnen und ihn anfangs gar nicht erkennen, zum Ausdruck gebracht. Als ihnen klar wurde, mit wem sie da das Brot gebrochen hatten, sprachen sie untereinander: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete?“ (Luk 24,32).

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 07.07.2009
zum Seitenanfang/up