29.05.2005: Prof. Dr. Heinz Schmidt über Vaterunser: Vergib uns...

 

Predigt am 29. Mai 2005 in der Peterskirche Heidelberg

Text: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Prediger: Prof. Dr. Heinz Schmidt

 

 

Liebe Gemeinde,

vor kurzem ging ein Bild durch die Zeitungen. Jugendliche springen – so stand darunter – „unbekümmert“ über die Betonstelen des gerade eröffneten Holocaust–Denkmals in Berlin. Unbekümmert, d.h. unbeschwert von Schuldgefühlen. Mit dieser Schuld haben sie nichts mehr zu tun. Andere Jugendliche, die sich im Religionsunterricht mit dem ‚Vater unser’ beschäftigten, formulierten einen Antitext zu dessen fünfter Bitte: „Wir sind okay. Hilf uns, unsere Rechte zu erkennen und gib uns, was uns zusteht.“ Die theologische Rede von der schuldhaften Verstrickung aller Menschen sei ein Herrschaftsinstrument. Sie sichere dem Christentum die moralische Definitionsmacht. So hatte es Nietzsche gesehen: Das Leben drängt auf ganz andere Werte als das schwächelnde Christentum, das Leiden verherrlicht und ein permanent schlechtes Gewissen suggeriert. Deshalb vollzieht sich der Tod Gottes und das Christentum fällt. Der ursprüngliche Charakter des Lebens kann sich nun entfalten: als Werden und Vergehen ist es immer ein Kampf um Macht, in dem sich die Starken durchsetzen: Striving for Excellence. Die Dynamik des Lebens bringt je und je Menschen hervor, die die Fülle des Lebens samt seiner Grausamkeit verkörpern. Wenn überhaupt noch von Schuld die Rede sein darf, dann von der Schuld der Menschen, Ansprüche zu erkennen und sie machtvoll durchzusetzen. Es war der „Geniestreich des Christentums“ mit einem Gott, der sich aus Liebe für die Schuld der Menschen opfert, eben diese Menschen in ihrer Ohnmacht zu fixieren und sie so daran zu hindern, ihrem eigentlichen Wesen gerecht zu werden.

 

Die atheistische Unschuld ist unbekümmert. Selbstentfaltung, Macht und Lebensgenuss sind ihre Leitwerte, Verdrängung von Leiden und Diskreditierung von Schwäche sind die Folgen. Menschen ohne Schuld sind Menschen ohne Vergangenheit, unbekümmert, d.h. ohne Kummer über das, was Menschen einander antun, Herrenmenschen und Unmenschen.

 

Nun ist es aber keineswegs so, dass wir alle Schuld abstreiten würden. Auch die unbekümmerten jungen Menschen wissen, dass sie gelegentlich anderen etwas schuldig bleiben, genauso wie die erfolgreichen unter uns wissen, dass die eigenen Lebenserfolge von Zurücksetzungen anderer begleitet sind. Das ist so im Leben. Daher ist es notwendig und sinnvoll, sich gegenseitig zu verzeihen. Welches Quantum an Verzeihung lässt sich billigerweise erwarten?, fragte Petrus einmal seinen Meister. Siebenmal muss doch genügen. Das Böse, das wir uns gegenseitig antun, überbeansprucht normalerweise diesen Rahmen nicht und innerhalb dieser Grenzen ist Vergebung auch ein taugliches Mittel, um über Verletzungen hinwegzukommen, ganz abgesehen davon, dass es die anderen veranlasst, sich vorerst zurückzuhalten. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ entspricht so gesehen einer ganz plausiblen Alltagsregel, ohne die das Zusammenleben in Familie und Freundeskreis bis hin zur Völkerwelt gar nicht funktionieren würde. Aber Jesus antwortete damals: bis zu siebenundsiebzig Mal, also nicht nachzählbar, Vergeben ohne Grenzen! Das entspricht nicht mehr dem alltäglichen „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Denn diese Praxis ist begrenzt, sie bezieht sich nur auf das, was wir nach einer gewissen Zeit aus psychohygienischen Gründen ohnehin vergessen oder mit Milde betrachten würden, aber nicht auf das, was unsere Existenz gebrochen, unser innerstes Streben und Wollen verletzt und uns aus der Bahn geworfen hat. Spätestens wo Schuld tötet, vergeben wir nicht mehr. Das ist eine persönliche und eine politische Erfahrung.

 

Auch sechzig Jahre nach dem Ende der Völkervernichtung wird die Schuld noch aufgerechnet, auch wenn einige Jugendliche meinen, sich darum nicht kümmern zu müssen. Und täglich kommt neue Schuld dazu, als direkte und indirekte Folge. Die Untaten zwischen Juden und Palästinensern und der weltweite Terrorismus setzen diese Völkervernichtung voraus. Die Schuldgeschichte reicht aber noch viel weiter zurück und umfasst all das, was den Juden und den Muslimen jahrhundertelang von christlicher Seite angetan wurde. Selbst wer meint, all dies abblenden zu können, muss zugeben, dass er bzw. sie an der gegenwärtigen Ausbeutung der Erde und der Belastung des Klimas auf Kosten der Enkel und Urenkel Anteil hat.

Die Meinung des Petrus wird verständlich. Sieben Mal muss genügen, weil dies im Alltag pragmatisch sinnvoll ist. Aber angesichts des Übermaßes von Schuld, in die alle mit ihren kleinen Stückchen Schuld verstrickt sind, kann doch keine unbegrenzte Vergebung gefordert werden. Das kann doch nicht einfach als erledigt betrachtet werden. Solche Schuld muss doch erst einmal bewusst gemacht, den Schuldigen vorgehalten – uns allen natürlich, aber besonders den eigentlichen Verursachern und Tätern vor Augen gestellt werden, damit sie diese wirklich bereuen und sich dann bessern können.

 

Damit das bis zu „Siebenundsiebzigmal“ nicht auch noch als eine naive Verharmlosung des Übermaßes, als eine Verdunkelung des Ungeheuerlichen durch dessen Aufteilung in kleine, leicht vergebbare Portiönchen missverstanden wird, lässt Jesus seiner Antwort das Gleichnis vom König und vom Knecht mit dem unermesslichen Schuldenberg folgen, dessen Versprechen, dass er alles bezahlen wolle, einfach lächerlich ist. Jesus gibt mit diesem Gleichnis der Frage des Petrus zunächst ihr Recht, stellt sie aber in eine neue Perspektive: Ja, es stimmt, es gibt nicht nur die kleine Schuld, die mit sieben Mal oder weniger erledigt ist. Dahinter steht die große, unermessliche Schuld, derer Menschen nie Herr werden, die sie auch durch Vergebung nicht beseitigen, ja die sie gar nicht vergeben können. Aber es handelt sich auch gar nicht darum, dass Menschen hier etwas bewirken sollten. Der König, also Gott selbst, tut das Unvorstellbare: „Innerlich von Barmherzigkeit bewegt, schafft er die ganze Schuld weg und lässt den Knecht frei.“

 

Wer ist dieser Gott  und was kann er eigentlich bewirken? Im alltäglichen Leben und im Verlauf der Weltgeschichte merkt man wenig von ihm. Hält er sich nur bedeckt oder veranstaltet er etwa die Weltgeschichte und ist daher selber schuld am Übermaß der Schuld? Das Gleichnis antwortet: Gott ist der, der durch die Lebensgeschichten und die Weltgeschichte, durch die sich darin aufhäufende Schuld innerlich von Barmherzigkeit bewegt ist. Er überlässt es eben nicht den Menschen, mit ihrer Schuld allein fertig zu werden und lässt sie nicht daran zerbrechen, dass sie mit ihrer Schuld nicht fertig werden können. Er lässt die Schuld seine Sorge sein. Er macht sie sich zu Eigen, in dem er sich in seinem Sohn ihr opfert. Indem er sie übernimmt, vergibt er sie bedingungslos und grenzenlos. Vergebung wird so zur Eigenschaft Gottes und zum Grundwort des Glaubens.

 

Der Fortgang des Gleichnisses ist den meisten bekannt:

Es wiederholt sich die Szene aus dem ersten Teil bis ins Einzelne, nur dass nun nicht der Knecht dem König, sondern ein Mitknecht jenem ersten Knecht gegenübersteht, und die Schuldsumme ist unverhältnismäßig viel geringer, kaum 50 Euro in unserer Währung. Und der Knecht tut mit seinem Mitknecht das Gegenteil dessen, was ihm selbst eben von dem König widerfahren ist. Die Szene wiederholt sich, die Vergebung nicht. Das Wunder wiederholt sich nicht, oder vielmehr: dem Wunder antwortet ein anderes, ein negatives Wunder. An sich freilich ist es gar kein Wunder, sondern eben das Normale, unserer Menschenweisheit letzter Schluss: dass Schuld, ist sie nur hinlänglich gewichtig, wenn überhaupt, nur dadurch aus der Welt geschaffen werden kann, dass für sie bezahlt wird, und dass den Schuldigen Zorn und Strafe trifft. Ein Wunder, ein ganz übles, wird dieses Normale erst dadurch, dass das andere, das göttliche Wunder vorausgegangen ist. Das Normale wird so erst unbegreiflich und empörend. Aber die Empörung über den Knecht können wir dem Gleichnis selbst überlassen, dafür ist in seinem dritten Teil gesorgt. Wir empören uns besser nicht, das käme nur wieder auf das alte Aufrechnen und Vorhalten von Schuld – in diesem Fall als auf die Schuld maßloser Undankbarkeit – hinaus, auf dasselbe Aufrechnen, mit dem ja auch jener Knecht gerade beschäftigt ist. Darüber vergisst man, was einem selbst Gutes widerfahren ist; darüber vergisst man Gott. Wenn Vergebung ein Name Gottes ist, so ist Vergebung vergessen und Gott vergessen eines und dasselbe. Noch genauer gesagt: die empfangene Vergebung vergessen und die Vergebung gegenüber anderen vergessen ist unter sich dasselbe und beides zusammen ist dasselbe wie Gott vergessen. – Tatsächlich, sagt dieser zweite Teil des Gleichnisses, ihr merkt wenig von Gott; nämlich genau in dem Maße merkt ihr nichts von ihm, wie ihr, unbegreiflich genug, Gott und die Vergebung, die Vergebung und Gott vergesst.

 

Gottvergessenheit sollte nicht mit Gottes Verschwinden gleichgesetzt werden. Das zeigt der dritte Teil des Gleichnisses.

Wieder steht der Knecht vor dem König. Er wird an das erinnert, was er vergessen und an das, was er in seiner Vergessenheit getan hat. Und nun kommt er doch an den Ort, dem er zuvor über alles Begreifen entronnen war – ohne Bild: nun bleibt er da, wo er mit seinem Gott-Vergessen, mit seinem Vergessen der Vergebung schon war, dort, wo man eben nur kennt, was übrig bleibt, wenn Gott und die Vergebung fehlen: die Schuld und das Bezahlen und, wenn die Schuld unbezahlbar ist, das unentrinnbare Gefängnis der Schuld selber. Was dann übrig bleibt, ist die Welt, die sich über dem Abgrund der Schuld nur auf einer dünnen Oberfläche hält und, wenn sie dessen gewahr wird, angstvoll darauf wartet, wann sie von den Folgen ihrer Schuld eingeholt und verschlungen wird. Eben darin, sagt das Gleichnis, bekommt ihr Gott zu spüren. Keine Rede davon, dass er etwa, wo man nichts von ihm und nur etwas von der Schuld und ihren Folgen merkt, nicht dabei oder ohnmächtig geworden wäre oder dass er aufgehört hätte, der vergebende Gott zu sein. Nein, gerade in dem Gefängnis von Schuld und Bezahlenmüssen und Nichtbezahlenkönnen wirkt, wenn auch nicht wiederzuerkennen, kein anderer Wille als der Gottes und seiner Vergebung.

 

Endet das Gleichnis mit einer Drohung: Ohne Gottes Vergebung und ein entsprechendes Verhalten konntet ihr noch meinen, mit siebenfacher Vergebung ganz gut durchzukommen? Jetzt aber müsst ihr unendlich vergeben, sonst gibt es keinen Weg aus dem Verhängnis?

Ich lese die fünfte Bitte des Vaterunsers anders. Gewiss steht auch hier wie im Gleichnis das Verhängnis der Schuld und das Gericht im Hintergrund:

Gott richtet die Schuld. Er nimmt sie todernst, und darin kommt zutage, dass sie todernst ist und kein verzeihlicher Schönheitsfehler. So ernst ist sie, dass wir ohne Gottes Vergebung uns wohl über ihren Ernst täuschen, ihrem Gefängnis aber nicht entrinnen können und mit unserem Vergessen und wohl dosiertem Vergeben das Gefängnis selbst versiegeln. Das können wir, und wir sind emsig dabei, es zu tun. Aber die Schuld aus der Welt schaffen können wir nicht. Das ist keine menschliche Möglichkeit. Auch die Vergebung ist kein menschliches Mittel dazu. Sie ist etwas viel Schöneres: etwas viel Göttlicheres und etwas viel Menschlicheres.

 

Denn Gott richtet so (und gar nicht anders), dass er „innerlich von Barmherzigkeit bewegt“ ist. Er richtet so, dass er die ganze Schuld vergibt. Um dieses Gericht können wir bitten, mit aller Schuld und mit dem bitterbösen Wunder unserer Vergesslichkeit. Sie bleibt, indem sie Gottes Gericht unterliegt, ein abscheuliches Wunder. Wir merken es, wenn wir nicht zu oberflächlich sind, alle Tage. Aber das ist nur die dunkle Kehrseite des Herrlichen. Wohlgemerkt: die Kehrseite ist notwendig, sonst würden wir weder von Gott noch von der Welt und uns selbst, weder von der Herrlichkeit der Vergebung noch von der Schrecklichkeit der Schuld irgendetwas zu Gesicht bekommen, würden aus allem lauter Harmlosigkeiten machen, bloß ein Theaterstück: aus der Schuld eine Sache, die wir wohl noch beseitigen werden, aus uns die Helden, die das eines Tages schaffen, und aus Gott den Souffleur im Kasten, der uns die Stichworte zuflüstert, wenn wir vorübergehend nicht weiter wissen. Die Kehrseite ist nötig, weil es ernst ist.

Aber sie ist wirklich nur Kehrseite. Wo wir vergessen können und tatsächlich wunderbar, aberwitzig-wunderbar vergesslich sind, da kann uns auch die vergessene Wahrheit aufgehen – nicht von selbst, aber durch Jesus Christus. Die vergessene Wahrheit ist die Wahrheit von Gottes Vergebung. Sie erstreckt sich über die ganze Welt, auch über die Schrecken, die von der Vergangenheit her auf unsere Zeit gekommen sind und die noch bevorstehen. Sie erstreckt sich über die ganze Breite des Lebens. Überall und jederzeit kann es zwischen Menschen zu Vergebung kommen: nicht so, dass wir damit Schuld aus der Welt schaffen, aber so, dass hier und da Menschen, die sich aus guten Gründen bitterböse waren, zu lachen anfangen, weil sie etwas Besseres zu tun finden, als sich noch und noch einmal Schuld vorzuhalten. So wird Vergebung, das Grundwort des Glaubens, zu einem Grundwort des Lebens und damit auch irdisch, menschlich lebendig. Und mit dem Wort leben wir selbst. Auch wenn das große weltweite Vergebungsfest noch nicht angebrochen ist, weil das Reich Gottes noch erhofft und erbetet werden muss, kann uns das, sagt Jesus, keinen Tag und keine Stunde davon abhalten, das kleine Vergebungsfest, das schon lange angefangen hat, von Herzen mitzufeiern. Seufzen nach dem großen Fest und seufzen über unsere böse Vergesslichkeit werden wir dabei noch genug. Deshalb beten wir: Dein Reich komme.  Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Amen

 

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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