27.02.2005: Prof. Dr. Peter Zimmerling über Mk 12,41-44

 

Predigt über Mk 12,41–44, Alte Aula in Heidelberg, 27.2.05

 

Liebe Gemeinde,

im Jerusalemer Tempel standen 13 Opferstöcke im Vorhof der Frauen, zu dem auch Männer Zugang hatten. Die in die trichterförmigen Opferkästen eingelegten Gaben waren zweckbestimmt. Sie mussten für die bauliche Unterhaltung des Jerusalemer Tempels verwendet werden. Ein eigens dafür freigestellter Priester nahm die Opfergaben in Empfang, prüfte sie und verkündete die Höhe des Opfers. Besonders große Gaben wurden zusätzlich mit einem lauten Posaunenstoß bekannt gegeben.

 

1. Opfern – ein menschliches Existenzial

 

Ich nehme an, dass Ihnen allen diese Szene irgendwie vertraut vorkommt. Sie spielt sich – je nach Temperament eines Volkes – so oder ähnlich zu allen Zeiten in allen Religionen ab. Eben auch im Judentum – und nicht anders in der christlichen Gemeinde. Bis zum heutigen Tag. Spontan wurde ich an den immer gleichen letzten Teil der sonntäglichen Opferabkündigung in meiner Mannheimer Gemeinde erinnert: „… und was Sie in die Opferbüchsen an den Wänden und in den Opferstock am Ausgang einlegen, ist für die Arbeit an unserer Christuskirche bestimmt.“ So sicher wie das Amen in der Kirche, ist die Aufforderung zum Opfer in jedem Gottesdienst. Dass das gut und richtig ist, lassen schon die biblischen Autoren erkennen. Auch Jesus hat nichts gegen das Tempelopfer eingewandt. Jedenfalls ist nirgends die Rede davon, dass die Opferkästen seiner Tempelreinigung zum Opfer gefallen wären. In unserer Geschichte beobachtet er das Geschehen rund um die Opferstöcke vielmehr mit wohlwollendem Interesse.

Das Opfern scheint eine Art menschliches Existenzial zu sein. In der späteren Königszeit drohte der Jerusalemer Tempel zu verfallen. Darum wurde beschlossen, am Haupteingang einen Opferstock aufzustellen. Bald war soviel Geld gespendet worden, dass nicht nur alle notwendigen baulichen Reparaturen durchgeführt werden konnten, sondern darüber hinaus noch zusätzliche Ausstattungsgegenstände angefertigt wurden. Auch beim Wiederaufbau des Tempels nach der Babylonischen Gefangenschaft wurde reichlich gegeben. Im Esrabuch ist festgehalten: 61 000 Gulden, 5000 Pfund Silber und 100 Priesterkleider. Wer wird bei solchen Zahlen nicht an die beispiellose Opferbereitschaft der Deutschen nach der Flutkatastrophe in Südostasien erinnert. Ich selbst habe bei Spendenaktionen, die ich während des russischen Hungerwinters vor einigen Jahren zu organisieren hatte, die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen auf Spendenaufrufe positiv reagieren. Als ob es ein menschliches Bedürfnis darstellt, dem Nächsten, der unverschuldet in Not geraten ist, zu helfen. Man müsste schon ein Herz von Stein haben, wenn einen das Unglück anderer Menschen nicht anrühren würde. Im Verlauf der Geschichte der Kirche gab es eine Reihe prominenter „Bettler Gottes“. Geradezu berüchtigt war im vergangenen Jahrhundert Friedrich von Bodelschwingh aus Bethel. Er brachte es in seinen Kollektenreden fertig, dass die Zuhörer den ganzen Inhalt ihres Geldbeutels in die Opferkörbe ausleerten. Die Reihe der großen Kollektenredner im Christentum eröffnet der Apostel Paulus. Am Anfang des Studiums las ich den 2. Kor zum ersten Mal. Ich war irritiert, dass Paulus zwei ganze Kapitel seines Briefes verwendet, um für eine Kollekte zu werben. In immer neuen Anläufen versucht er, den Korinthern die Wichtigkeit der Kollekte deutlich zu machen. Viel später habe ich begriffen: Geld kann spirituelle Bedeutung bekommen – allerdings erst in dem Moment, wo es jemand weggibt. Die von Paulus gesammelte Kollekte für die Jerusalemer Christen sollte zum Zeichen werden für die bedrohte Einheit zwischen den heidenchristlichen griechischen Gemeinden und der judenchristlichen Muttergemeinde in Jerusalem.

Opfer – ein menschliches Existenzial. Paulus bringt es auf den Punkt, in welcher Haltung wir opfern sollen, wenn wir uns selbst und unser Opfer nicht verderben wollen: „Einen fröhlicher Geber hat Gott lieb!“ Die wichtigste Voraussetzung eines gottwohlgefälligen Opfers ist, dass wir es freiwillig geben. Ein erzwungenes Opfer kommt niemals von einem fröhlichen Geber. Freiwilligkeit ist das Schibboleth dafür, ob das Opfer Gott wohlgefällig ist oder nicht.

 

2. Eine neue Bewertung: aus viel wird wenig und aus wenig viel

 

Unsere Geschichte bleibt nun nicht bei der Feststellung stehen, dass Opfer ein menschliches Existenzial darstellt und Gottes Wohlgefallen findet, wenn wir es aus freiem Antrieb darbringen. Jesus ruft seine Jünger zusammen und lässt der winzigen Spende der armen Witwe – zwei halben Pfennigen – eine völlig unerwartete, aber nichtsdestoweniger einzig gerechte Beurteilung zuteil werden. Normalerweise genießen auch in der christlichen Gemeinde diejenigen das höchste Ansehen, die mit ihrem Vermögen am meisten zum Fortgang der Arbeit beitragen. Mehr noch als heute zeigte sich das früher daran, dass Mitglieder der entsprechenden Familien auch im Ältestenkreis das Sagen hatten. Übrigens unterschieden und unterscheiden sich auch an dieser Stelle Freikirchen in keiner Weise von den Landeskirchen. Die Menge des Geldes bestimmt die Größe des Ansehens. Erstaunlicherweise scheint dieser Vorgang schon sehr früh, nämlich im Urchristentum, eingesetzt zu haben. Der Jakobusbrief (2, 1ff) berichtet, wie die Armen im Gottesdienst nach hinten gedrückt werden, um den Reichen vorne Platz zu machen. Anscheinend vergaßen die ersten Christen schnell, dass Jesus das Evangelium zuerst den Armen verkündet hat. Vor allem aber war aus dem Bewusstsein entschwunden, dass es vor Gott kein Ansehen der Person gibt. Gott sieht das Herz des Menschen an, nicht sein Bankkonto! Permanent lauert in der Kirche die Versuchung, ihre Mitglieder nach deren gesellschaftlicher Stellung zu beurteilen – zu den meisten Zeiten hieß das wie heute auch: nach ihrem Reichtum. Indem Jesus in unserer Geschichte zu einem ganz anderen Urteil kommt, mahnt er seine Nachfolgerinnen und Nachfolger, sich nicht vom Reichtum blenden zu lassen. Er fordert sie auf, an der Erkenntnis festzuhalten, dass Gott Menschen ohne Ansehen der Person richtet.

Wie verhilft Jesus der Witwe zu der ihr gebührenden gerechten Beurteilung? Jesus macht seinen Jüngern klar: Obwohl die arme Witwe mit ihren beiden halben Pfennigen vom gespendeten Geldbetrag her viel weniger als die anderen gegeben hat, hat sie in Wahrheit viel mehr als alle gegeben. Es ist jetzt keine Zeit, über die Stellung der Witwen im Alten Orient zu sprechen. Nur soviel: Sie befanden sich in einer für moderne Begriffe kaum vorstellbaren Notlage: sie waren rechtlos, weil vor Gericht nicht rechtsfähig; sie waren ohne Berufsaussichten und damit ohne gesichertes Einkommen, angewiesen auf die Fürsorge von Familienangehörigen oder die Almosen von Freunden und Bekannten. Ein wahrhaft menschenunwürdiges Leben. Mit seinem Urteil gibt Jesus der Witwe ihre menschliche Würde zurück. Sie wird wieder zum gleichberechtigten Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Dass dieses Urteil Jesu in der Christenheit nicht ganz wirkungslos geblieben ist, zeigt sich an der Witwenversorgung in der Jerusalemer Urgemeinde und später in der gesamten Alten Kirche. Jesus stellt mit seinem Urteil die in der Gesellschaft bis zum heutigen Tag gültigen Maßstäbe in Frage, nach denen Geld und Macht den Ton angeben. Sein Urteil entspricht dabei dem Verhalten des Messias, wie es im Alten Testament vorausgesagt wird: „Er wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande“ (Jes 11, 4). Zumindest in der christlichen Gemeinde müssen die Armen und Elenden zu ihrem Recht und zu ihrer Würde kommen – trotz aller nur zu verständlichen gemeindlichen Anpassungstendenzen an die Maßstäbe der Gesellschaft.

 

3. Eine unbekannte Witwe als Vorbild eines hohen, sorglosen Lebens mit Gott

 

Aber nicht nur, weil an der Geschichte vom Scherflein der Witwe deutlich wird, dass Opfern ein menschliches Existenzial darstellt, ist sie so interessant. Letztlich auch nicht bloß deswegen, weil Jesus das winzige Opfer der Witwe gerecht beurteilt und ihr damit ihre menschliche Würde zurückgibt. Die Geschichte ist noch aus einem dritten Grund wichtig. Und jetzt wird es spannend. Die unbekannte Witwe ist für Jesus das Vorbild eines hohen, sorglosen Lebens im Glauben an Gott. Sie predigt mit ihrem Tun, was er selbst in der Bergpredigt gelehrt hat: „Sorget nicht!“ Sie kann, was die Vögel unter dem Himmel und was die Lilien auf dem Felde können. Sie vermag, was wohl keiner von uns hier in diesem Raum fertig bringt: Ganz im Heute zu leben und das Morgen ganz in Gottes Hand zu legen. In ihrer Lebenseinstellung spiegelt sie das Verhalten des Kindes wider, das Jesus seinen um Macht und Einfluss streitenden Jüngern als Vorbild in die Mitte gestellt hat.

Woran hat Jesus die hohe, sorglos-freie Einstellung der Witwe erkannt? Daran, dass sie nicht nur einen Teil ihres Vermögens, sondern ihren ganzen Besitz in den Opferstock eingelegt hat. Exegeten haben darauf hingewiesen, dass sie ja ohne weiteres nur eines der beiden Scherflein hätte einlegen können. Das andere Scherflein wäre ihr dann geblieben. Der fundamentale Unterschied zwischen ihr und den anderen Gebern bestand darin, dass alle anderen bloß von ihrem Überfluss gaben, während sie buchstäblich ihren Lebensunterhalt opferte. Indem sie ihr Herz über die Mauer warf, wurde sie zu der einzig wirklich Freien unter der Menge der übrigen Geber, die doch heimlich an ihr Vermögen gebunden blieben. Die arme Witwe tat, was der reiche Jüngling aufgrund seines Reichtums nicht fertig gebracht hatte. So steht die unbekannte Witwe plötzlich als von Gottes Wohlgefallen ausgezeichnet unter den Reichen.

Ein Letztes: Ich habe mich gefragt, woher das grenzenlose Vertrauen dieser Witwe kommt. Es lässt sich wohl nicht anders erklären als mit einer ebenso grenzenlosen Liebe, die diese Frau zu Gott hat. Mit dieser Liebe hat sie die Kluft zwischen sich und Gott zu überbrücken vermocht. Die Liebe zu Gott hat ihr den Mut gegeben, wider allen Augenschein darauf zu vertrauen, dass Gott selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen wird.

Wahrscheinlich würde mir all das wie ein Märchen vorkommen, wenn ich nicht sieben Jahre zu einer evangelischen Kommunität gehört hätte. Dort lebten und arbeiteten ungefähr 120 Menschen auf Taschengeldbasis. Sie waren darauf angewiesen, dass pro Jahr mehr als 2 Millionen DM gespendet wurden. Oft war das Geld knapp, aber am Jahresende stellte sich immer heraus, dass es ausgereicht hatte. Damals wurde mir klar, was Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der Erfinder der Herrnhuter Losungen, meint, wenn er sagt: „Denn es muß immer ein bißchen Treue, immer ein bißchen Wagen dabey seyn, daß es gegläubt heisse. Sonst kan man am Ende nicht sagen: Ich habe Glauben gehalten. 2. Tim. 4,7. Ich habe dich nicht gesehen / und doch lieb gehabt. 1. Petrus 1,8“ (Pennsylvanische Reden, Teil 1, 137).

Lassen Sie mich schließen mit einem Gebet des Schweizer Nationalheiligen Nikolaus von der Flüe:

„Mein Herr und mein Gott,

nimm alles von mir,

was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,

gib alles mir,

was mich fördert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,

nimm mich mir,

und gib mich ganz zu eigen dir.“

Amen

 

Prof. Dr. Peter Zimmerling, Heidelberg/Mannheim

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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