04.05.2003: Prof. Dr. Helmut Schwier über Joh 10,11-16

 

Predigt über Joh 10, 11-16

(Universitätsgottesdienst am 4. Mai 2003 in der Peterskirche Heidelberg)

 

Gnade und Friede von Gott sei mit euch allen!

 

Liebe Gemeinde,

 

der heutige 2. Sonntag nach Ostern ist der Sonntag vom guten Hirten. Sein Evangelium steht bei Johannes im 10. Kapitel; Jesus Christus spricht:

11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.

12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -,

13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.

14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,

15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird "eine" Herde und "ein" Hirte werden.

 

Zunächst einmal, liebe Gemeinde: die Bildrede vom Hirten und den Schafen ist eine Zumutung. Sie mutet mir zu, mich mit einem Schaf zu vergleichen – aus menschlicher Perspektive nicht gerade das intelligenteste Tier in Gottes Schöpfung. Sie mutet mir zu, Christus zu verstehen als den, der sein Leben lässt für uns – Frage: schon wieder diese Opfertheologie samt ihrer unseligen Wirkungsgeschichte? Sie mutet mir zu, dass die Kirche eine Herde ist – eine autoritätsgläubige Gruppe, die ihrem Hirten (auf lateinisch heißt das übrigens: Pastor) blindlings folgt? Außerdem kennt kaum jemand von uns – Bewohner der Lüneburger Heide und der Nordseeinseln einmal ausgenommen – noch Schafhirten und Herden. Die Kritischen unter uns wissen außerdem, dass barocke oder romantische Schäferszenen als falsche Idylle zu entlarven sind. Und auch die „Schäferstündchen“ sind aus der Mode gekommen. Und selbst wenn ich im Bild vom Hirten ein Urbild erkenne für die menschliche Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, ist vor Projektionen und Realitätsflucht zu warnen. Der Text ist eine Zumutung. Die Bilder sind fremd. Die Assoziationen stimmen nicht mehr.

Jedoch!: diese Zumutungen bleiben an der Oberfläche. Wer sich von ihnen beeindrucken lässt, wird die eigentlichen Zumutungen nicht wahrnehmen. Das sind Zumutungen für christlichen Glauben und für christliches Leben. Sie möchte ich heute Morgen vor Augen führen.

 

Der erste Abschnitt beschreibt Christus als guten Hirten im Gegensatz zum Mietling. Mit diesem alten Lutherwort ist der bezahlte Lohnarbeiter gemeint. Dieser Lohnarbeiter arbeitet als Hirte. Dennoch wird im Evangelium gesagt: Er sei kein Hirte. Denn wenn die Gefahr kommt, bringt er nicht seine Schäflein, sondern sich selbst in Sicherheit. Hierzu ist Christus das Gegenbild. Aber die Kritik am Mietling erfolgt nicht aus einer heroischen (und das ist ja immer auch eine überhebliche) Perspektive. Dem Mietling wird nicht Feigheit vorgeworfen. Aus den antiken jüdischen Rechtsbestimmungen geht vielmehr hervor, dass die Lohnhirten ausdrücklich das Recht hatten, sich bei Lebensgefahr zu retten. Der Lohnhirte ist ein Hirte, und er hat das von allen akzeptierte Recht, sein Leben zu retten. Die gegenteiligen Hinweise im Evangelium signalisieren: Vorsicht vor den johanneischen Missverständnissen! Hier ist nicht die vordergründige Bildebene gemeint, sondern eine hintergründige Wahrheit: Christus ist das Gegenbild zum Lohnhirten, weil er kein Lohnhirte ist; er ist wie der Vater der Besitzer der Herde. Er ist der wahre Hirte – nicht weil er ethisch überlegen handelt, sondern weil er überlegen ist. Er und der Vater sind eins, wie es am Ende der gesamten Hirtenrede heißt.

Hier wird uns ein hoher Glaube zugemutet, der zugleich bescheiden macht: die christliche Kirche ist Gottes Besitz; und alle menschlichen Lohnhirten sind nicht selbst Besitzer, sondern dem Besitzer verantwortlich. Und sogar die wohlmeinenden Lohnhirten – Pastorinnen und Pastoren, Bischöfinnen und Bischöfe, Theologieprofessorinnen und -professoren und Universitätsprediger – bleiben vom wahren Hirten unterschieden und sind immer auch Schafe wie du und ich – Allmachtsfantasien ausgeschlossen!

Die nächste Zumutung versteckt sich in einem Rätselbild: wer ist mit dem Wolf gemeint? Natürlich steht der Wolf auch für die großen Bedrohungen des einzelnen und der Gemeinschaft, für Tod, Zerstörung, letzte Einsamkeit. Aber auch hier geht es nicht um vordergründige, sondern um hintergründige und konkrete Wahrheit. Der Wolf ist nicht einfach ein allgemeines Sinnbild für Bedrohungen; dann hätte man wie in den zeitgenössischen jüdischen Rechtsbestimmungen auch den Löwen los lassen können. Der Wolf ist transparent für die staatliche Gewaltherrschaft und Tyrannei, für Krieg und Zerstörung. Der Wolf verweist auf die römische Wölfin. Sie hatte Israel im Jüdischen Krieg verwüstet, Menschen versklavt; sie hatte Kult und Kultur zerstört bzw. durch eigenen imperialen Export ersetzt.

Der wahre Hirte kämpft nicht mit Waffen gegen die römische Wölfin. Er tritt ihr unbewaffnet, aber frei und hoheitlich entgegen. In der Johannespassion wird er nicht von der Tempelpolizei verhaftet, sondern von einer Kohorte. Jesus offenbart sich vor ihnen; auf wunderbare Weise weichen sie beim ersten Mal zurück und fallen zu Boden. Die römische Kohorte – so lesen wir – erkennt wider Willen Jesu Herrsein an.

Die Kirche, Gottes Herde, hat in ihrer Geschichte oft mit diesem Wolf getanzt. Dadurch ist sie ihrem Herrn und Hirten untreu geworden, hat den prophetischen Protest gegen Gewalt und Unrecht verstummen lassen.

Wir leben hier und heute nicht unter staatlicher Gewaltherrschaft, sondern – Gott sei Dank – in einer freien und offenen Gesellschaft. Sie zu pflegen und zu fördern, ist für die Kirche und jeden Christenmenschen bleibend wichtig. Umgekehrt bleibt für diese Gesellschaft wichtig, dass die Kirche dabei ihren Mund auftut für die Stummen, die Schwachen, die Minderheiten.

„Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Die Lutherübersetzung kann das Missverständnis nahe legen, hier sei an das sühnende Opfer für uns gedacht. Genau übersetzt heißt es allerdings: der gute Hirte setzt sein Leben ein für die Schafe. Christus setzt sein ganzes Leben ein für uns. Sein Leben und Wirken, sein Reden und Heilen, sein Sterben und Auferstehen geschehen für die Menschen. Der gute Hirte sorgt, dass die Schafe neue Lebensmöglichkeiten haben – jetzt und hier und darüber hinaus.

Vor einem Jahr geschah die schreckliche Gewalttat in der Erfurter Schule. Fernsehreportagen und Talkshows, Radiokommentare und Zeitungsberichte waren jetzt wieder voll davon. Ich möchte hier nur auf die entscheidende Situation hinweisen; sie macht deutlich, was Lebenseinsatz, Lebenshingabe ist. Es wurde berichtet, dass ein Lehrer zwischen den Täter und weitere mögliche Opfer regelrecht dazwischengetreten ist. Es kam zu einem kurzen Gespräch. Der Lehrer soll gesagt haben: „Jetzt kannst du mich erschießen. Aber wenn du’s tust, dann guck mir in die Augen.“ Wie immer das genau gewesen ist: damit hörte das grauenhafte Morden auf. Der Lehrer setzte sein Leben ein, damit die anderen nicht zu Opfern werden, damit eine Wende eintritt, damit die anderen neu leben können. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben einsetzt für seine Freunde“ – sagt der johanneische Jesus in seinen Abschiedsreden. Er verkörpert diese Liebe mit seinem Leben und seinem Sterben. Er verkörpert sie, damit die Menschen nicht zu Opfern werden, damit am Ende auch die Täter sich nicht selbst richten müssen.

Lebenseinsatz und Liebe, Versöhnung und Befreiung – dies mutet der Theologie zu, die Heilsbedeutung des Sterbens Jesu in ihren vielfältigen Erklärungen hervorzuheben. Auch im Johannesevangelium wird dies bereits vielfältig getan: im Bild vom Lamm Gottes, aber auch im Bild vom guten Hirten oder auf dem Hintergrund antiker Freundschaftsethik oder in der Metapher der „Erhöhung“, die Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt ineinander schiebt. Dass es eine Vielfalt von Erklärungen gibt, ist eine besondere Chance. Das habe ich vor einer Woche im Gespräch mit den Pfarrern gelernt, die jetzt ein Semester hier in Heidelberg Theologie hören und betreiben. „Gerade als Praktiker“, so wurde gesagt, „brauchen wir nicht eine Theologie, sondern eine Vielfalt theologischer Konzepte; denn die Praxis selbst ist vielfältig, die Menschen leben in unterschiedlichen Lebenswelten, haben verschiedene Fragen und Erwartungen.“

Theologie zu studieren (und zu unterrichten! – Ich bin übrigens gerade, meine Pfarrerjahre mitgerechnet, im 50. Semester), ist nicht nur eine Bildungsabenteuerreise von den frühzeitlichen orientalischen Kulturen bis in unsere globalisierte Gegenwart. Theologie zu studieren (und zu unterrichten), ermöglicht, dass wir den heutigen Menschen in Kirche, Schule und Gesellschaft Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in uns ist. Die vielfältigen theologischen Konzepte will ich nicht nur verstehen – ich will sie gebrauchen, kritisch anwenden, damit Menschen heute leben und glauben können. Eine Theologie, die nicht mit den Menschen, ihren vielfältigen Erfahrungen korrespondiert, die taugt nicht, finde ich. Damit solche Korrespondenz gelingt – auch im kritischen Gegenüber – ist eine vielfältige Theologie von Nöten – so vielfältig wie der Kanon der biblischen Schriften selbst.

 

Der erste Bibelabschnitt, liebe Gemeinde, beschreibt Christus und seine Beziehung zu uns – der zweite Abschnitt Christus und unsere Beziehung zu ihm. Heute Morgen bleibt mir nur Zeit für eine weitere Zumutung.

Die Kirche ist die Herde des guten Hirten. Er kennt die Seinen, und die Seinen, also auch die Peterskirchengemeinde, kennen ihn. Ihnen wird zugemutet, also der Mut zugetraut, sich nicht auf die menschlichen Lohnhirten – auch nicht auf die wohlmeinenden – letztlich zu verlassen. Deshalb wird seit der Reformationszeit dieser Bibeltext gebraucht, um zu zeigen: die Gemeinde ist nicht eine autoritätsgläubige Herde; vielmehr hat sie Macht und Recht, über Predigt und theologische Lehre zu urteilen.

Ich kann es natürlich nicht besser sagen als Martin Luther. Der predigte 1522: „So soll ein Christ sagen: Ich bin ein Schaf Gottes. Sein Wort will ich haben und aufnehmen. Wo ihr mir das Wort geben werdet, will ich euch für einen Hirten halten. … Find man nun, dass einer ein Hirte ist, so soll man ihn annehmen; wo aber nicht, so soll man ihn absetzen. Denn die Schafe sollen urteilen die Stimme des Hirten. Wenn er nicht rechte Weide gibt, soll man dem Hirten, das ist dem Bischof den Hut abnehmen. … Darum habt ihr Gewalt und Macht zu urteilen alles, was gepredigt wird.“ (nach WA 10, 3, 174f)

Der Maßstab zur Beurteilung sind nicht meine engen Glaubensgrenzen. Der Maßstab ist das vielfältige Zeugnis der Bibel. Den Maßstab zur Beurteilung besitzt nicht die eine Gemeinde oder die eigene Gruppe, sondern die weltweite Christenheit – sofern sie auf Christus hört. Nicht auf den eigenen Stallgeruch kommt es an, sondern auf die ganze Herde aus Männern und Frauen, Freunden und Fremden, Alten und Jungen, Glaubenden und Zweifelnden, Inländern und Ausländern. Deshalb schließt der gute Menschenhirt mit der großartigen Verheißung: Es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Dieser eine Hirte ist Christus – auf seine Stimme lasst uns hören!

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, dem guten Hirten. Amen.

 

 

[Helmut Schwier]

 

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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