Gerd Theißen: „Der ratlose Himmel und der Schlüssel zum Buch des Lebens“. Predigt über Apk 5,1-10 in der evangelischen Kirche zu Sexau/Br. am 1. Advent, den 29.11.1993

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch; es war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Und ich sah: Ein gewaltiger Engel rief mit lauter Stimme: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? Aber niemand im Himmel und auf der Erde und unter der Erde konnte das Buch öffnen und es lesen. Da weinte ich sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen und es zu lesen. Da sagte einer von den Ältesten zu mir: Weine nicht! Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen. Und ich sah: Zwischen dem Thron und den vier Lebewesen und mitten unter den Ältesten stand ein Lamm; es sah aus wie geschlachtet und hatte sieben Hörner und sieben Augen; die Augen sind die sieben Geister Gottes, die über die ganze Erde ausgesandt sind. Das Lamm trat heran und empfing das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Als es das Buch empfangen hatte, fielen die vier Lebewesen und die vierundzwanzig Ältesten vor dem Lamm nieder; alle trugen Harfen und goldene Schalen voll von Räucherwerk; das sind die Gebete der Heiligen. Und sie sangen ein neues Lied: Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du wurdest geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erworben aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern, und du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht; und sie werden auf der Erde herrschen.

(Text nach der Einheitsübersetzung, teilweise an Luthers Übersetzung angeglichen)

 

Liebe Gemeinde.

Stellen wir uns vor: Ein Staat steckt in einer Krise. Überall herrscht Ratlosigkeit. Einem normalen Bürger gelingt es, bis ins Zentrum der Macht vorzudringen. Er hat Zugang zu allen Kabinettsitzungen. Wie erschüttert wäre er, müsste er feststellen: Auch dort herrscht Ratlosigkeit. Auch dort weiß niemand weiter.

Das ist die Lage des Propheten, der die Johannesoffenbarung geschrieben hat. Zu seiner Zeit herrschte eine große Krise. Die Gemeinden erwarteten Verfolgung und Unterdrückung. Vereinzelt hatte sie schon begonnen. In dieser Situation dringt der Prophet in seinen Vorstellungen bis ins Zentrum der Weltregierung. Er schaut Gott selbst. Jetzt endlich möchte er den Schlüssel zu den Rätseln der Weltgeschichte erhalten! Jetzt möchte er Antwort auf so viele Fragen: Warum müssen die Gerechten leiden? Warum trifft Unglück die Unschuldigen? Warum die Kinder? Und was muss er im Himmel feststellen? Auch dort ist man ratlos. Auch dort weiß man nicht weiter.

Die Rätsel der Welt, der Geschichte und des Lebens – sie erscheinen in unserem Text als ein Buch mit sieben Siegeln. Es ist verschlossen, unzugänglich. Die himmlische Regierung sucht jemanden, der es öffnen und lesen kann. Ein Engel ruft: Wer ist würdig und fähig, das Buch zu öffnen, seine Siegel zu lösen? Wer gibt Antwort auf die quälenden Fragen der Menschen? Er ruft ins Leere. Denn niemand im Himmel, niemand auf Erden, niemand unter der Erde ist in der Lage, das Buch zu öffnen. Niemand weiß eine Antwort auf die großen Rätsel der Welt.

Der Prophet kann es nicht fassen. Er bricht zusammen. Er weint. Für einen Augenblick scheint ihm alles vergebens und sinnlos zu sein. Wenn selbst im Himmel niemand Zugang zu den Welträtseln hat – dann bleiben sie auf ewig ungelöst.

 

Hätte der Engel uns Menschen des 20. Jahrhunderts gefragt: „Wer ist fähig, das Buch zu lesen?“ – wahrscheinlich würden wir drei Vorschläge machen.

Ich vermute, unser erster Vorschlag würde lauten: Ein Nobelpreispräger für Naturwissenschaften soll das Buch der Welt entziffern. Schon sehe ich vor mei-nen geistigen Augen einen distinguierten alten Herrn mit weißen Haaren vor die himmlische Ratsversammlung treten. Und er sagt: Ja, wir sind auf der Suche nach der großen Weltformel, nach einer Einheit hinter allen Kräften der Natur, von der Gravitation bis zur schwachen Wechselwirkung. Wir entziffern das Buch der Natur. Wir zeigen, wie sie sich zu immer neuen Gestalten organisiert hat – bis sie auf einem kleinen Planeten am Rande eines der vielen Milchstraßensysteme uns Menschen hervorbrachte – uns, die ersten Lebewesen, die sich bemühten, das Buch der Natur zu lesen. Aber je mehr wir lesen und lesen, um so unsicherer werden wir über unsere eigene Rolle in diesem Buch. Sind wir überhaupt vorgesehen? Ist es vielleicht gleichgültig, dass wir existieren? Das Fazit des Naturwissenschaftlers lautet: Das Buch der Natur können wir wohl lesen. Aber was der Mensch darin soll, das wissen wir nicht. Möglicherweise fügt er hinzu: Vielleicht erfahren wir es nicht aus der Natur, sondern aus der Geschichte.

Ein zweiter Vorschlag lautet daher: Ein Politiker soll das Buch der Geschichte entziffern. Er soll sagen, was wir Menschen in dieser Welt sollen, wohin die Richtung geht. Aber so sehr man nach einem Politiker sucht, keiner meldet sich. Keiner traut sich. Kein Wunder, sie sind zur Zeit nicht gut angesehen. Sie sind damit beschäftigt, sich selbst oben, ihre Konkurrenten unten und Fremde draußen zu halten. Sie wissen nicht, wohin die Richtung geht. Und wir sollten auch nicht zu viel von ihnen erwarten. Das wäre unfair. Aber selbst wenn sie eine Antwort wüssten: Es gibt ein Buch, das sie in keinem Fall entziffern können, das Buch des jeweils eigenen, des ganz persönlichen, des unverwechselbaren, indivi-duellen Lebens. Das kann nur jeder selbst lesen.

Ein dritter Vorschlag sagt daher: Das Buch des eigenen Lebens soll ein Mönch aus Ostasien lesen. Und schon sehe ich, wie eine dieser freundlichen Gestalten hervortritt. Sein Gesicht strahlt Frieden aus. Er sagt: In dir selbst liegt der Schlüssel dazu, das Buch zu öffnen. Erkenne dich selbst! Durchschaue dein Ich! Es ist etwas Unwirkliches, eine Illusion. Lerne, dich selbst loszulassen. Lasse dich los, wie einen Luftballon, der in den Himmel aufsteigt und sich in ihm auflöst. Ich kann dir zwar nicht das Buch der Na-tur, der Geschichte und nicht einmal das deines eigenen Lebens entziffern. Aber ich lehre dich, den Wunsch loszulassen, all diese Bücher entziffern zu wollen. Dann hast du Frieden, dann, wenn du den Durst nach Leben, nach Verstehen, nach Entziffern des Buches überwunden hast.

Liebe Gemeinde, ihr habt gewiss gemerkt, auch heute gilt der Satz: Niemand im Himmel, niemand auf der Erde, niemand unter der Erde kann das Buch öffnen, kein Nobelpreisträger, kein Politiker, kein ostasiatischer Mönch. Doch der Prophet der Johannesoffenbarung weiß eine Antwort. Er hat eine Stimme gehört, die sagt: Es gibt einen, der das Buch öffnen kann. Er kommt aus Israel. Er ist kein Sieger in der Weltgeschichte, eher ein Verlierer. Er ist kein Mächtiger. Er ist ein Lamm, das geschlachtet wurde. Nur Jesus kann das Buch der sieben Siegel öffnen. Das ist die Botschaft des Textes.

Wie aber öffnet er uns das dreifache Buch: das Buch der Natur, der Geschichte und des eigenen Lebens?

 

Beginnen wir mit dem Buch der Natur.

Vor unserem Text ist von Gott dem Schöpfer die Rede. Wir hören den Lobpreis auf ihn:

 

Würdig bist du – unser Herr und unser Gott –, ... denn du hast alle Dinge geschaffen, durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen. (4, 11)

 

Da hören wir: „Würdig bist du!“ Gemeint ist Gott. Und wir fragen uns: Warum ist Gott nicht würdig, auch das Buch zu öffnen? Warum braucht er das Lamm, um das Buch der Schöpfung zu Ende zu schreiben? Warum braucht er dazu ein geschlachtetes Lamm?

Diese Frage ist eine Grundfrage der Theologie. Über sie habe ich seit vielen Jahren immer wieder nachgedacht. Und das ist die Antwort, die ich gefunden habe. Dies eine Opferlamm löst die blutigen Opfer ab. Jahrhundertelang hatten die Menschen Tiere geopfert. Das hielten sie für das Wichtigste in ihrem Gottesdienst? Warum? Warum dies Ab-schlachten anderen Lebens zur höheren Ehre der Götter? Warum meinten die Menschen, die Welt würde zusammenbrechen, wenn sie nicht mehr opferten? Ich meine: Unsere Vorfahren wussten besser als wir: Alles Leben lebt auf Kosten anderen Lebens. Und daher opferten sie anderes Leben, um das eigene Leben zu sichern und zu steigern. Bis heute leben wir auf Kosten anderer Lebewesen. Wir verdrängen sie von der Erde. Viele Arten sterben aus. Viele Tiere ziehen wir nur auf, um sie abzuschlachten und zu essen. Vor allem aber, und das ist das Grausamste: Wir leben auf Kosten anderer Menschen. Und doch wissen wir: Alles Leben ist tief verwandt. Es ist wie ein Stück von uns selbst. Wenn wir auf Kosten anderen Lebens leben, dann leben wir im Zwiespalt mit uns selbst.

Das Lamm, das getötet wurde, hält uns diesen Zwiespalt mit uns selbst vor Augen. Aber es überwindet ihn. Es versichert uns durch seine Existenz: Es gibt ein Leben, das nicht auf Kosten anderen Lebens lebt, ein Leben, wo nicht der Schwächere für die Stärkeren geopfert wird. Ein Leben, in dem Menschen von sich etwas opfern – zugunsten derer, die schwächer sind.

Das ist die Botschaft des Lammes.

Diese Botschaft hörte Albert Schweitzer, als er das Neue Testament studierte. Er folgte ihr, als er in den Urwald ging, um den Menschen zu helfen, die vom Schmerz gezeichnet sind. Er hatte die Rolle gefunden, die uns Gott im Gesamtzusammenhang der Dinge zuweist: seine Schöpfung weiterzuführen über die bisherige Natur hinaus, so dass schon heute und hier ansatzweise und zeichenhaft ein Leben beginnt, in dem der Starke nicht mehr auf Kosten des Schwachen lebt.

 

Nehmen wir als zweites das Buch der Geschichte, in das unsere Politiker so gerne ihre Taten eintragen wollen. Auch das versiegelte Buch der Johannesoffenbarung ist in einer Hinsicht ein politisches Buch. Wenn die Engel Gott als „unseren Herrn und unseren Gott“ preisen, so ist das ein Protest gegen den römischen Kaiser Domitian. Denn der begann als erster Kaiser damit, sich „Herr und Gott“ zu nennen. Zu seiner Zeit gerieten Christen in Bedrängnis, weil sie es ablehnten, einen Menschen „Gott“ zu nennen. Die Politik des Lammes ist ein Protest gegen jede Politik, die Herrscher oder den Staat absolut setzt und vergöttlicht.

Dies Lamm wird gepriesen, weil es Menschen sammelt „aus allen Stämmen und Sprachen, Völkern und Nationen“. Während unsere Politiker und viele andere heute damit beschäftigt sind, andere Völker draußen zu halten, Asylanten, Flüchtlinge und Immigranten abzuwehren, schafft das Lamm eine Gemeinschaft vieler Völker. Glaubt daher nicht denen, die uns heute wieder einreden wollen, es gäbe unüberwindbare Unterschiede zwischen Nationen und Kulturen! Die anderen seien nun einmal anders. Die christliche Gemeinde ist ein Gegenbeweis. Christen gibt es als Chinesen, Japaner, Inder, Afrikaner und Brasilianer. Christen gibt es in jedem Volk, auf jedem Kontinent, in jeder Kultur. Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass es keine un-überwindbaren Unterschiede zwischen den Völkern und Kulturen geben müsste? Und haben wir Christen nicht die besondere Aufgabe, das bewusst zu ma-chen? Keine Religion ist heute weltweit in so vielen verschiedenen Nationen gegenwärtig – meist nur als Minorität, und auch bei uns in vielen Gebieten nur noch als Minorität. Aber wir sind eine Minorität, die es überall gibt.

Was macht nun Jesus in seiner Gemeinde aus den Menschen aus vielen Völkern? Macht er sie zu geduldeten Asylanten? Nein, unser Text sagt, er macht sie zu „Königen und Priestern für Gott“. Und dann folgt der erstaunliche Satz: „Und sie werden herrschen auf Erden“. Alle sollen Könige,alle sollen Priester sein. Und das sagen die Christen angesichts eines Kaisers, der sich grundsätzlich über alle anderen Menschen erheben wollte. Sie sagten ihm: Wir Christen, wir kleinen Leute, sind durch Jesus schon Könige. Du bist auch nur ein Mensch wie wir.

Im Buch mit den sieben Siegeln, das vom Lamm geöffnet wird, steht, wohin es langgehen soll in der Geschichte. Wir sollen dahin kommen, dass alle Men-schen Könige werden, dass alle erleben können: Sie sind unendlich viel wert, und dass keiner den anderen unterdrückt und sich für mehr hält als einen anderen Menschen

 

Das siebenfach versiegelte Buch ist aber nicht nur das Buch der Natur und der Geschichte. Es ist auch das Buch deines Lebens. Und da ist nur einer würdig und fähig, es zu lesen: Du selbst. Kein anderer kann es an deiner Stelle tun. Aber du sagst vielleicht: Ich verstehe mich selbst nicht! Mein Leben ist so durcheinander und verworren, das gibt keinen Sinn. Du sagst vielleicht, es gibt im Buch deines Lebens viele Kapitel, die du nicht einmal lesen möchtest, so peinlich oder so schmerzhaft sind sie. Und vielleicht beginnt für dich gerade ein Kapitel, das du am liebsten überschlagen möchtest: ein trauriges Kapitel, ein Kapitel, in dem man viel von Krankheit, Trennung und Tod lesen wird.

Hat der freundliche ostasiatische Mönch nicht doch recht, der sagt: Dein Ich ist eine Illusion? Löse dich von ihr! Da steckt kein Sinn drin. Du quälst dich umsonst mit deinen Fragen. Aber so verführerisch die Antwort für viele sein mag, die christliche Antwort lautet anders. In der Johannesoffenbarung sagt Jesus:

 

Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an!

Wenn jemand meine Stimme hören wird

und die Tür auftun,

zu dem werde ich hineingehen

und das Abendmahl mit ihm halten. (3, 20)

 

Wenn Jesus in dein Leben einziehen will, wenn durch ihn Gott in deinem Leben gegenwärtig wird, dann bist du keine Illusion. Dann bist du eine Wohnstätte Gottes. Dann bis du ein Tempel Gottes. Dann bist du unendlich viel wert, auch wenn in deinem Leben noch so viel schief gegangen ist. Dann bist du ein Abschnitt im Buche Gottes. Und du darfst es nicht nur lesen. Du darfst es zu Ende schreiben.

Darum bitte ich dich heute: Schreibe in das Buch deines Lebens auch die Geschichte von Jesus hinein. Dann wirst du deine eigene Geschichte mit anderen Augen lesen. Du wirst nach wie vor viel Fremdes, Schmerzliches und Peinliches in deinem Lebensbuch lesen. Aber du brauchst dich deshalb nicht zu schämen. Du wirst lesen, wie du manchmal Täter und Opfer warst. Du wurdest von anderen weggeschubst, aber manchmal hast du auch andere weggedrückt. Und du bist schuldig geworden. Aber wenn du die Geschichte von Jesus einschreibst in das Buch deines Lebens, dann erhältst du Gewissheit: Dir ist vergeben. Du wirst weiterhin angesichts der traurigen Kapitel in deinem Leben oft zweifeln und verzweifeln: Ist da überhaupt Sinn drin? Dann erinnere dich an den Engel der Johannesoffenbarung. Er fragte: Wer ist würdig und fähig, das versiegelte Buch zu öffnen und zu lesen? Wer ist fähig, das Buch der Natur, der Geschichte und deines Lebens zu entziffern? Noch immer gilt: Eigentlich kann es niemand. Auch im Himmel kann es niemand. Auch der Himmel ist auf das Lamm angewiesen, um das versiegelte Buch zu öffnen, um eine Antwort auf die unlösbare Frage zu geben: Warum trifft die Unschuldigen Unglück? Warum leiden auch Kinder? Eine Antwort kann nur geben, der selbst unschuldig gelitten hat. Auch im Himmel wirst du keine bessere Antwort finden.

Wenn du die Geschichte Jesu hineinschreibst in das Buch deines Lebens, dann wird es eine gute Geschichte. Und wenn sie zu Ende geschrieben ist, dann darfst du das Buch deines Lebens zurück in die Hände Gottes legen. Du bleibst ein Abschnitt im großen Buch Gottes. Und nichts von ihm, geht verloren.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.

 

Zurück zum Portrait: 
Gerd Theißen: "Variationen zu biblischen Texten"

 

Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 23.04.2018
zum Seitenanfang/up