Helmut Schwier: Predigt über Phil 1,1-6; Apg 16,11-15 im Semestereröffnungsgottesdienst am 23. April 2017 (Quasimodogeniti)

Liebe Gemeinde,

 

in diesem Sommersemester schickt der Apostel Paulus seinen Philipperbrief an uns. Den gesamten Brief werden wir in den 14 Predigten des Semesters abschnittsweise hören und auslegen. „Lectio continua“ heißt das in der liturgischen Tradition, also: fortlaufende Bibellesung. Und wer die unter der Woche zu Hause nicht hinbekommt, der soll am besten aus dem Alltagsstress fortlaufen und sonntags hier die Bibel lesen und hören.

Und so fängt der Brief an:

Paulus und Timotheus, Sklaven Christi Jesu, an alle Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi leben samt Verwaltern und Helfern.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich euer gedenke - jederzeit, in jeder meiner Fürbitten für euch alle: mit Freude verrichte ich solche Fürbitte - für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tag an bis jetzt, denn ich bin fest davon überzeugt, dass der, der in euch das gute Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu.

 

Liebe Heilige in Christus Jesus, die ihr nun in Heidelberg lebt, studiert, forscht oder diese Stadt besucht,

 

in diesem Abschnitt erfahren wir, was und wie Kirche ist: sie ist heilig, grenzüberschreitend, kommunikativ und tatkräftig.

Ihr seid heilig. Aber keine Angst: dazu muss man nicht moralisch vorbildlich leben, Wunder tun und vom Vatikan anerkannt und heiliggesprochen werden! In der Bibel wird man heiliggesprochen, weil man zu Gott gehört – nein, anders herum: weil Gott zum Menschen gehört.

Er, der Heilige, Schöpfer des Kosmos und Grund allen Seins, verbindet sich mit konkreten Menschen. Er erwählt sein Volk, zeigt durch Abraham allen Menschen, was Vertrauen heißt, beschützt die verstoßene Sklavin Hagar und ihren Sohn Ismael, streitet mit dem listenreichen Betrüger Jakob, meint es gut mit dem arroganten kleinen Bruder Joseph. Gott befreit Israel aus der Sklaverei in Ägypten. In dem Messias Jesus heiligt er Menschen aus allen Völkern: Zöllner und Sünder, Prostituierte und Pharisäer, Eiferer wie Paulus, Angeber wie Petrus, Verzweifelte und Trauernde wie Maria Magdalena am Ostermorgen.

Die Kirche ist heilig. Denn die Menschen, die zu ihr gehören, sind und bleiben in ihrer Unterschiedlichkeit, trotz ihrer besten Anlagen wie ihrer dunklen Abgründe von Gott geheiligt. Er lässt mich nicht los.

Du, Heiliger Israels und Vater Jesu Christi, bist mein Gott und ich bin dein.

 

Als Paulus in Philippi ankommt, trifft er Lydia, offenbar eine selbständige und erfolgreiche Unternehmerin, Familienoberhaupt und eine Heidin, die bereits von dem einen Gott, dem Gott Israels, gehört hat. Nun hört sie das Evangelium von Gottes Wirken durch und an Jesus und wird die erste europäische Heilige in Christus. Ihr Geburtsort Thyatira liegt übrigens in der heutigen Türkei. Selbst die Grenzen der europäischen Christenheit sind von Beginn an irgendwie nicht eindeutig.

Die erste europäische Heilige ist gastfreundlich und ungemein großzügig. Paulus und seine Begleiter werden aufgenommen, ja, geradezu genötigt, sich bewirten und beschenken zu lassen. Da begegnen sich also ein ehemaliger, auf Abgrenzung bedachter Pharisäer und Eiferer und eine selbständige Hausherrin und Geschäftsfrau. Die alten kulturellen, religiösen und hierarchischen Grenzen gelten nicht mehr. Zu Gottes Volk gehören Juden und Heiden, Männer und Frauen, Diener und Herrinnen. Alle sind eins in Christus. Sein Geist verbindet und leitet Menschen über alle Grenzen hinweg.

Die Grenzen werden von der Kirche in der Kraft des Geistes aber nicht nur geographisch und kulturell überschritten, sondern auch zeitlich. Wie schön, dass wir in diesem Jahr 500 Jahre Reformation feiern! Aber dies sind mitnichten die zeitlichen Grenzen der evangelischen Kirche. Sie beginnt mit Pfingsten, und als Teil des Volkes Gottes glauben und hoffen wir mit Israel – seit damals und bis heute.

Die erste europäische Heilige heißt Lydia, und der jüngste Heilige heißt Carlo, der gerade getauft wurde. Mit ihm hat Gott sich heute verbunden, noch bevor er selbst etwas leisten kann. Ihn hat Gott auserwählt, ein Heiliger zu sein und im Laufe seines Lebens ein Christ zu werden. Mögt Ihr als Familie und möge die ganze Kirche ihm dabei gute Freunde und Begleiter sein!

Vor einer Woche habe ich die Osternacht in einer kleinen westfälischen Dorfkirche mitgefeiert. Nach den langen, schier nicht enden wollenden Schriftlesungen zu Beginn ist das Taufgedächtnis ein Lichtblick, besser: eine Erfrischung. Denn der Pfarrer verteilte mit einem Büschel aus Buchsbaum das Taufwasser sehr großzügig und reichlich auf uns alle in den Kirchenbänken. Jeder spürte das Wasser am eigenen Körper. Meine eigene Taufe liegt heute 57 Jahre und 40 Tage zurück. Das Taufgedächtnis in der Osternacht oder beim Mitfeiern einer Taufe erfrischt mich und macht lebendig: Gott begleitet mich auf meinem Taufweg von Anfang an, lässt mich Grenzen überwinden, mitten im Leben und, ja, auch darüber hinaus.

 

Die erste Gemeinde in Philippi bildet sich in der Öffentlichkeit, mitten in der Welt, am Fluss vor der Stadt, dort, wo sich viele treffen. Die erste Gemeinde wird dann eine Hausgemeinde. Dabei ist natürlich nicht an eine Kleinfamilie hinter verschlossenen Türen zu denken, sondern an eine große Familie, zu der alle Generationen samt Mitarbeitern und Dienern gehörten. Andere von außen kommen schnell dazu. Die Gemeinde in Philippi wächst und gedeiht.

Wenn eine Gruppe größer wird und zusammenhalten will, müssen Regelungen und Strukturen gefunden werden. Es ist bemerkenswert, dass die frühen Christen sich nicht für ein hierarchisches Kirchenmodell entscheiden: einer, z.B. der Gemeindegründer Paulus, sagt, wo es lang geht und alle anderen folgen brav.

Entscheidend ist vielmehr, dass alle miteinander reden. Kommunikation unter Gleichrangigen macht die Gemeinde Jesu Christi aus. Der Philipperbrief selbst lässt erkennen, dass er Teil einer intensiven Kommunikation zwischen der Gemeinde und Paulus ist. Immer wieder werden Briefe ausgetauscht. Paulus schickt der Gemeinde einen Boten, nämlich Timotheus, die Gemeinde schickt Paulus einen Boten, nämlich Epaphroditus, über den wir bei einer späteren Predigt sicher noch hören werden. Und Paulus stellt sich im Brief bezeichnenderweise nicht als Autorität vor, sondern als Sklave des Messias Jesus: der ist allein der Herr.

Das hat Konsequenzen. Wenn Paulus ein Sklave Jesu ist und Timotheus auch, dann sind es auch alle Heiligen, die in Philippi (und Heidelberg) wohnen. Ja, Jesus selbst ist ein Sklave geworden, wie es im großen Christuslied im 2. Kapitel heißt. Das schließt autoritäre Hierarchien in der Kirche aus. Zugegeben: man kann die Worte und Begriffe, „Diener“ zum Beispiel, einfach beibehalten und mit ihnen Machtverhältnisse kaschieren; aber dies lässt sich auch entlarven – nach dem Motto, das ich von einer erfahrenen älteren Nonne hörte: „In der Kirche sind alle Diener – am liebsten aber in leitenden Positionen.“

Paulus selbst erwähnt am Briefanfang zwei Ämter. Ich habe das übersetzt als „Verwalter und Helfer“. Später wird daraus eine Hierarchie aus Bischof und Diakon, ergänzt um den Priester an zweiter Stelle. Aber zur Zeit des Paulus ist es noch nicht so. Vermutlich hat die Gemeinde gemerkt: wir brauchen als Kirche eine zuverlässige Organisation der beiden grundlegenden Tätigkeiten: Gottesdienste und Diakonie. Für die Organisation der Gottesdienste waren die „Verwalter“ verantwortlich; ob sie dabei selbst als Liturgen oder Prediger mitwirkten, wissen wir nicht. Auffällig ist auch, dass Paulus im Brief zuerst die Gemeinde anspricht und in ihnen dann erst die Amtsträger. Das Amt ist eine Funktion der Gemeinde und nicht umgekehrt.

Wahrscheinblich müssen wir als evangelische Kirche heute Neues dazulernen. Auch unsere, weitgehend demokratischen Strukturen sind nicht selten zu fest und zu starr. Kirche lebt aus Wort und Sakrament, ja!, aber nicht immer nur im festen Haus, sondern auch draußen am Fluss, in Gesprächen auf dem Campus, in Begegnungen am Tresen, in personalen und digitalen Netzwerken. Da kann jeder und jede von uns ein Paulus oder eine Lydia werden.

All dies ist Kirche als Kommunikationsgemeinschaft. Paulus erweitert das noch um einen entscheidenden Aspekt: die Kommunikation ist immer auch auf Gott bezogen. Paulus selbst ist nicht der Chef der Gemeinde, aber er ist ein Vorbild des Betens. Seine starke und innige Verbundenheit mit der Gemeinde zeigt er als Beter: „jederzeit, in jeder meiner Fürbitten für euch alle, mit Freude!“ Da sind die Fürbitten nicht bloße Formeln und Pflichtübungen, sondern selbstverständliche und natürliche Kommunikation mit Gott, in Verbundenheit mit den Geschwistern in Christus. Die heilige und grenzüberschreitende Kirche betet mit Freude.

Die Freude – übrigens ein Hauptwort des gesamten Briefes, das wohl in fast jeder Predigt auftauchen wird – spiegelt die österliche Siegesgewissheit: Gott hat Jesus aus dem Tod befreit, hat den Sklaven zum Herrn aller Herren erhoben. Oder mit den Worten eines Kirchenlieds: „Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein.“

 

Die heilige, grenzüberschreitende und kommunikative Kirche ist auch tatkräftig. Die Hinweise auf die Diakonie und die großzügige Gastfreundschaft der Lydia haben das schon angedeutet. Paulus schreibt weiter von der Gemeinschaft oder der Teilhabe am Evangelium. Damit ist sehr konkret die finanzielle Unterstützung der Verkündigung des Paulus durch die Philipper gemeint. Als Paulus dies schreibt, sitzt er im Gefängnis. Auch hier wird er von ihnen unterstützt; ohne solche Unterstützung kann man einen römischen Kerker kaum überstehen.

Wer Sklave des Messias Jesus ist, wer sein Evangelium von Versöhnung und österlicher Freude verkündet, kann dies nur in Wort und Tat tun, mit Herzen, Mund und Händen. Damit verdeutlicht die Kirche gleichzeitig: die Welt soll nicht so bleiben, wie sie ist; sie soll verändert werden durch Taten der Versöhnung im Großen und Kleinen, durch die Liebe, die im Gegenüber auch hinter allen Masken einen Heiligen sieht, durch Einspruch und Widerspruch, wenn Unrecht herrscht, durch die Hoffnung auf Gottes Zukunft.

 

Darf ich Sie zum Schluss noch auf ein kleines Wörtchen aufmerksam machen? Paulus schreibt am Ende des Abschnitts vom Tag des Messias Jesus, verweist also auf den letzten Tag am Ende der Zeit. Dabei schreibt er nicht, dass Gott die Kirche und ihr Wirken erst an diesem Tage vollenden werde, sondern bis zu diesem Tage.

Ich verstehe es so: Seit Ostern reicht die Ewigkeit schon mitten hinein in unsere Zeit. Schon jetzt, hier und heute und bis zum Tag Jesu Christi wirkt Gott in seinen Heiligen: in Paulus und Lydia, in Carlo und seiner Familie und in Euch auch. Amen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

 

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Helmut Schwier: Von Gott reden und die Menschen ansprechen

 

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Letzte Änderung: 16.09.2017
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