Die Menschen in Gang bringen - Adolf Martin Ritter als Prediger*

Wolfram Kinzig | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

Adolf Martin RitterAdolf Martin Ritter (Quelle: „… zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn“, Heidelberg 2013, S. 10.)

Adolf Martin Ritter:

Geboren am 23. November 1933 in Schwarzenborn

Universitätsprediger von 1987/89-1998

 

* Der Beitrag ist in einer ungekürzten Fassung erschienen in: „… zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn“. Eine homiletische Festschrift zu Adolf Martin Ritters 80. Geburtstag, hg. v. Tobias Habicht, Stefan Karcher, Hanna Reichel, Heidelberg 2013, S. 11-17. 

 

„Mehr als Gott – kann es nicht geben. Mehr als Gott hat niemand von uns nötig; niemand.“

 

Der mit diesen Worten eine Predigt zu Markus 12,41-44 beschließt, ist vor allem als akademischer Theologe international bekannt und hoch geachtet. Adolf Martin Ritter hat durch seine engagierte Lehre als Professor für Historische Theologie (Kirchengeschichte) an den Universitäten Marburg (1978-1981) und Heidelberg (1981-1999) Generationen von Pfarramts- und Lehramtsstudierenden für den künftigen Beruf zugerüstet sowie durch sein immenses wissenschaftliches Œuvre im Bereich der Kirchen- und Theologiegeschichte seit der Heidelberger Promotion (1962) und der Göttinger Habilitation (1970) die patristische Forschung (und nicht nur diese) über mehr als ein halbes Jahrhundert weltweit geprägt. Zeugnisse für die große Anerkennung in der Fachwelt sind u.a. eine von seinen Schülern herausgegebene Sammlung wichtiger Aufsätze, eine Festschrift aus Anlass seines 65. Geburtstags und die Verleihungen der Würde eines theologischen Ehrendoktors durch die
rumänischen Universitäten Cluj (Klausenburg) und Oradea (Großwardein) – letztere als Ausdruck des Dankes für seinen unermüdlichen Einsatz darin, die ökumenischen Verbindungen nach Rumänien und Südosteuropa während der Zeit des Eisernen Vorhangs und danach aufrecht zu erhalten.

Weniger bekannt ist, dass Martin Ritter auch über zehn Jahre, nämlich von 1987 bis 1998, als Universitätsprediger an der Heidelberger Peterskirche gewirkt hat. In dieser Zeit hat er der Universität durch die Sonntagsgottesdienste sowie durch die kleineren Feiern am Mittwochmorgen einen starken geistlichen Impuls gegeben. Einige seiner Predigten und biblischen Besinnungen aus dieser Zeit sind vor einigen Jahren, in einem Band versammelt, im Verlag Hartmut Spenner in Waltrop erschienen, dem ich auch das eingangs angeführte Zitat entnommen habe.

Martin Ritter ist nicht nur akademischer Theologe, sondern auch mit Leib und Seele Kirchenmann und Seelsorger. Der Sensus dafür ist ihm von Hause aus mitgegeben (stammt er doch aus einem hessischen Pfarrerhaushalt) und wurde durch die eigene Tätigkeit als Pfarrer in einer hessischen Landgemeinde nach der Ordination (1962) noch geschärft: Martin Ritter versteht sich nicht allein als Kirchenhistoriker, sondern als historischer Theologen und als solcher auch als Verkündiger.

Um Martin Ritter als Prediger vorzustellen, möchte ich vier Aspekte seines Wirkens auf der Kanzel hervorheben (und bediene mich dabei ganz ungeniert bei den Martin Ritter besonders nahestehenden Kirchenvätern):

 

1. Θεοφιλία: Die Gottesliebe, der amor dei, der sich in der augustinisch-lutherischen Tradition im rechtfertigenden Handeln Gottes äußert, ist bei Martin Ritter Anfangs- und Endpunkt aller Theologie. Sie ist uns offenbar durch die Heilige Schrift, in der das Wort Gottes zur Sprache kommt. Aus der Bibel wissen wir, dass Gott uns liebt, und die Bibel lehrt uns, Gott zu lieben. Die Schriftauslegung ist darum bei Martin Ritter Kern allen kerygmatischen Wirkens. Aus jeder seiner Ansprachen wird deutlich, dass er sich intensiv mit dem auszulegenden Text auseinandergesetzt hat, dass er hineinhorcht in das, was die Schrift uns über Gott und sein heilsames Tun zu sagen hat, und sich dabei auch nicht geniert, gegebenenfalls eigene frühere Einsichten zu korrigieren, um immer besser zu verstehen, was uns aufgetragen ist.

Oft finden sich gelehrte Erläuterungen der biblischen Zentralbegriffe. Unbefangen spricht der Prediger von der Sünde, vom Glauben und von dem Geheimnis Gottes. Theologisch hoch beladene Loci wie Prädestination und Pneumatologie werden angesprochen. Kreuz und Tod Christi werden thematisiert – aber nicht in einem in manchen evangelischen Kreisen beliebten resignativen Karfreitagston; vielmehr bilden Passion und Auferstehung Christi das eine Ostereignis, in dem uns Gottes Liebe aufgegangen ist. (In dieser besonderen Akzentuierung wird spürbar, dass Martin Ritters Spiritualität auch von der Orthodoxie Impulse empfangen hat.)

Dieser Gott, der uns liebt und den wir lieben, ist der Gott von Juden und Christen. Martin Ritter predigt stets in Gegenwart Israels, denn „Auschwitz“ hat der christlichen Theologie ihre Israelvergessenheit offenbar gemacht (und der millionenfache Mord an den Juden hat ebenso wie die Erfahrung von Leid und Entbehrung am eigenen Leib in der Kriegs- und Nachkriegszeit die Persönlichkeit und das Denken Martin Ritters nachhaltig geprägt). Aber er fragt auch, „was Gott mit uns, denen ‚aus den Völkern‘, den ‚Heiden‘, um seiner Ehre willen, vorhat“ (S. 57; Hervorhebung im Original). Ihm geht es darum, „sowohl die alttestamentlich-rabbinisch-jüdische Auslegungs­geschichte in ihrer Eigenständigkeit zu achten und sich damit auch gegen ein allzu simples Schema von ‚Verheißung und Erfüllung‘ und einen damit oft genug verbundenen antijüdischen Triumphalismus zu verwahren, als auch den ‚Fehler‘ zu vermeiden, vor dem ‚christologischen‘ Auslegungshorizont des Textes geradezu ängstlich auszuweichen!“ Es gibt nämlich „zwei Lesarten“ des Alten Testaments: „in jüdischer und in christlicher Interpretation. Wer wollte ausschließen, dass dieser Zwiespalt einmal aufgehoben wird“, denn: „Was bei Gott eines ist, klingt für unsere menschlichen Ohren wie zwei unterschiedliche Dinge“ (S. 63; Hervorhebung im Original).

 

2. Φιλανθρωπία: Martin Ritter liebt die Menschen. Auslegung der Heiligen Schrift heißt bei ihm, immer auch die Frage zu bedenken: Was bedeutet diese oder jene Perikope für uns in unserem manchmal sehr komplizierten Erdendasein? In diesem Zusammenhang kommen nicht nur die Alltagsnöte einer südwestdeutschen Universitätsgemeinde in den Blick, sondern auch die ganz großen Themen aus Kirche und Gesellschaft. Martin Ritter sucht Antwort zu geben auf die Frage: Wie leben wir? Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten? Er thematisiert Begriffe wie menschliche Würde und menschliche Güte, versucht „Hoffnungsrechenschaft“ abzulegen und fragt danach, was man heute unter Demut und Nächstenliebe verstehen kann. Er geht ein auf die Probleme, denen sich die evangelische Kirche in einem zunehmend säkularisierten Land gegenübersieht. Er erörtert problematisch gewordene oder vernachlässigte Begriffe wie „Mission“ und „Herrschaft Gottes“ und plädiert für deren reflektierte Beibehaltung. Immer wieder äußert er sich zu Themen, die man als politisch bezeichnen kann: Er erinnert an soziale Schieflagen, er
betont die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, er erinnert an das gefährdete Weltklima und an Situationen von Ausbeutung in der Arbeitswelt, er nimmt Stellung zum Balkankonflikt und vor allem auch zum Nahostproblem, in Solidarität mit dem Judentum und doch auch unerschrocken an einer falschen Politik des Staates Israel Kritik übend.

 

3. Παρρησία: Denn Martin Ritters Kanzelrede ist freimütige Rede. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Es geht ihm darum, „einen Gott zu bezeugen, der keinen Gefallen daran hat, dass seine Geschöpfe verwertet, entwürdigt, verschoben oder entsorgt werden, einen Gott, der Menschen in Gang bringt“, es geht ihm um „sozusagen eine ‚negative‘, kritisch-aufklärerische Theologie“ (S. 59; Hervorhebung im Original). Diese Theologie wird entworfen in großer ökumenischer Weite, die dem Prediger eröffnet wurde durch seine intensiven Erfahrungen mit der Orthodoxie, die aber auch ausdrücklich die römisch-katholische und anglikanische Kirche mit einbezieht, eine Theologie freilich, die die Unterschiede zwischen den Konfessionen auch nicht verwischt, sondern sie sorgfältig prüft und, wo sachlich notwendig, entweder relativiert oder eben auch stehen lässt.

Weil eine solche Theologie nicht enthusiastisch, sondern nur in kritischer Reflexion und präziser Formulierung betrieben werden kann, wird in Martin Ritters Predigten nicht improvisiert und schon gar nicht dahergeredet. Vielmehr ist der Eindruck rhetorischer Unerschrockenheit, aber ebenso Geschmeidigkeit, ja Virtuosität Resultat einer sorgfältigen Rededisposition und einer Liebe zur deutschen Sprache. Bei Martin Ritter gleicht keine Predigt der anderen. Jede ist anders aufgebaut, sucht einen eigenen Zugang zur auszulegenden Perikope. Exempla aus ganz verschiedenen Lebensbereichen werden zur Illustration herangezogen, schwere theologische Zusammenhänge durch leichtfüßige Alltagsgeschichten aufgelockert.

Das alles wird dargeboten in einer leicht barockisierenden Sprache: mit farbigen Adjektiven; mit Aufzählungen, die sich wie Perlen auf einer Schnur reihen; mit unerwarteten Zäsuren, die die Spannung steigern; mit Parenthesen, die Erläuterungen zum Haupttext beherbergen; mit Betonungen, in denen der Prediger gewissermaßen auf die Zehenspitzen geht und ins Kirchenschiff hineinruft; und auch mit anspruchsvollen Hypotaxen, die die Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer herausfordern. Denn Martin Ritter simplifiziert nicht, sondern er traut den Menschen unter der Kanzel zu, dass sie ihm auch in komplexere Zusammenhänge folgen werden.

 

4. Ποικιλία: Nicht zuletzt legen diese Texte Zeugnis ab von der Vielfalt von Martin Ritters Interessen. Natürlich leuchtet seine kirchenhistorische Expertise immer wieder auf, wenn er von Franz von Assisi, von Dietrich Bonhoeffer, Jochen Klepper und natürlich von Luther, immer wieder von Luther spricht, wenn die Exegese- und Theologiegeschichte in den Blick kommt oder die Feste des liturgischen Jahres erläutert werden. An vielen Stellen seiner Predigten streut er gelehrte, aber nicht abseitige Bemerkungen über den Kirchenbau und über die Holzschnitte eines Walter Habdank ein, zitiert er aus Gedichten aus alter und neuer Zeit und spricht er immer wieder von der Musik, von den Melodien der Choräle, die seine Predigt umrahmen, aber auch von Volksliedern und den großen geistlichen Kompositionen. Gerade die Musik wurde ihm in einer kinderreichen Familie in die Wiege gelegt. Er selbst hat sich Zeit seines Lebens am Cello oder auf der Posaune immer aktiv als Musiker betätigt. Wie oft haben wir über die Jahre bei allen möglichen Anlässen gemeinsam gesungen! Darum hat Martin Ritter auch immer wieder über Choräle gepredigt, und zwar nicht nur über die ehrwürdigen Kostbarkeiten der evangelischen Gesangbuchtradition, sondern auch über neue geistliche Lieder.

Aber es bleibt ja nicht bei der (akademischen) Belehrung. Vielmehr sind Martin Ritters Predigten im besten Sinne erfahrungsgesättigt. Häufig werden kleine Erzählungen eigener Erlebnisse eingestreut, Erinnerungen an gute und weniger gute Zeiten, Eindrücke von Reisen, die den Predigttext erhellen können. All dies dient der geistlichen Anregung und Ermutigung – und manchmal auch der Unterhaltung. Eine Predigt überschreibt der Verfasser gar: „Geistesblitz zur Geisterstunde“ (S. 136) – ein Hinweis darauf, dass manches auch schalkhaft vorgetragen wird und zum Schmunzeln reizen soll. In den Gottesdiensten Martin Ritters geht es bisweilen ernst, oft aber heiter und jedenfalls nie griesgrämig zu!

Im gläubigen Hören auf Gottes Wort und in der Liebe zu den Menschen, die diese Predigten kennzeichnen, in dem Freimut und in der Vielseitigkeit dieser Ansprachen kommt ein Gottvertrauen zum Ausdruck, welches Martin Ritter in seinen Hörerinnen und Hörern wecken möchte, ein rundum lebensbejahendes Zutrauen auf die gute Fürsorge unseres Herrn, das im besten Sinne ansteckend wirkt und den Geist anspornt, in der Welt nach Spuren dieser göttlichen Zuwendung zu suchen. Dieses Gottvertrauen realisiert sich im Umgang mit dem Nächsten in einer Ethik des Friedens, die der Prediger seiner Gemeinde immer und immer wieder sanft, aber nachdrücklich einschärft – nie moralinsauer, sondern stets in fröhlicher Hoffnung auf unausgeschöpfte Möglichkeiten für ein friedliches menschliches Miteinander. Dass Martin Ritter immer beide im Blick behält: Gott und den Nächsten, und nicht das eine gegen das andere ausspielt, das macht in meinen Augen die große kerygmatische Kraft seiner Predigten aus.

Martin Ritter hat um seine Wissenschaft wie um seine Verkündigung nie viel Aufhebens gemacht, und es wäre ihm nicht recht, wenn andere dies täten. Er hat sich nie nach Ehrenämtern oder Auszeichnungen gedrängt; vielmehr hat er die vielen Aufgaben, die ihm im Laufe seines langen Lebens zugefallen sind, und so auch die Last, die mit dem Amt des Universitätspredigers unweigerlich einhergeht, stets klaglos getragen.

 

Predigtbeispiel: Predigt zum „Israelsonntag“ 2014 über Röm. 11,25-32 in der Peterskirche (Heidelberg)

 

LITERATUR

RITTER, Adolf Martin: 100 Jahre Universitätsgottesdienst in der Peterskirche, in: Heidelberger Jahrbücher 40 (1996), S.235-245 (Externer Inhalt online verfügbar).

RITTER, Adolf Martin: Freude teilen. Predigten und biblische Besinnungen aus drei Jahrzehnten, Waltrop 2006.

 

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Letzte Änderung: 24.01.2017
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