Manfred Oeming: Predigt über Gen 32,23-33 im Januar 1999 in der Peterskirche Heidelberg (Inspiration am Abend)

Die Beispielpredigt stammt aus dem Jahr 1999 und fällt somit in die Amtszeit von Manfred Oeming als Universitätsprediger. Sie wurde im „Inspiration am Abend“ Gottesdienst gehalten. Als solche gibt sie sowohl Einblick in diesen wichtigen Impuls zur Vielfalt der Gottesdienste an der Peterskirche, als auch einen Eindruck von der Art und Weise des Predigers, selbst schwierige Texte des Alten Testamentes in der Predigt fruchtbar zu machen. Er wagt verschiedene Blickweisen auf den Text, verbindet Kunst und Wort und verdeutlicht dem Hörer durch existentiale Interpretation: „tua res agitur (‚Es geht um Dich!‘).“ (Oeming: Biblische Hermeneutik, S. 172; Hervorhebung im Original)

 

23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok,

24 nahm sie und führte sie über das Wasser, sodass hinüberkam, was er hatte,

25 und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.

26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.

27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob.

29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.

30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.

31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.

32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

33 Daher essen die Israeliten nicht das Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte bis auf den heutigen Tag, weil er auf den Muskel am Gelenk der Hüfte Jakobs geschlagen hatte.

 

Mein Vater – seligen Angedenkens – pflegte zu sagen, wenn er einen weißen Schnaps trank, der ihm gut schmeckte, wenn er ihm wärmend die Speiseröhre runterlief und sich wohlig im Magen ausbreitete: „Klar wie Gottes Wort“. Das war ein Ehrenprädikat für diesen klaren Schnaps.

Die Portion Gottes Wort, die heute Abend unser „Gläschen“ sein soll, haben wir eben gerade gehört und gelesen: Die Erzählung vom Kampf am Jabbok. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist, aber im Vorbereitungsteam hatten wir das Gefühl: Das ist kein klarer, sondern das ist ein unklarer, ein spröder Text. Ein Wort, das nicht nur in der Nacht und im Dunkeln spielt, sondern irgendwie auch im Dunkeln bleibt. Was man sicher zu verstehen meint, ist, dass hier zwei miteinander einen Ringkampf führen, Jakob mit – ja mit wem eigentlich? „Da rang ein Mann mit ihm“ - wer ist dieser Mann, mit dem er fightet? Schwer zu sagen. Offenbar ist es den Beteiligten selbst unklar; sie erkundigen sich wechselseitig: „Wer bist du?“ „Wie heißt du?“ Einmal bittet der eine: „Lass mich gehen!“ Dann wieder bekommt der andere einen mächtigen Schlag auf das Hüftgelenk, so dass er dauerhaft hinken muss, aber: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Wer hat hier eigentlich gewonnen? Hat überhaupt jemand gewonnen? Es ist wie in einem richtigen Ringkampf von zwei etwa gleichstarken Kontrahenten, alles wird durcheinandergewirbelt, alles ist unklar. Liebe Gemeinde, solche Konfusionen produzieren Schwierigkeiten beim Verstehen und nötigen dazu, genauer hinzuschauen und Hypothesen zu entwickeln, was der Sinn wohl ist.

Viele Ausleger beschäftigen sich mit diesem Kampf am Jabbok. Zurzeit tun das besonders gerne die Psychologen, die Psychoanalytiker und die analytischen Psychologen. Folgende Deutung ist mir sehr intensiv begegnet: Der Mann, mit dem Jakob zu ringen hat, ist sein schlechtes Gewissen. Er hat ja seinen Bruder betrogen um den Segen, der eigentlich seinem älteren Bruder zusteht. Jakob kann man ja übersetzen; es heißt: „der Betrüger“, schon im Namen. Er hat nicht nur seinen Vater Isaak, seinen Bruder Esau sondern auch seinem Schwiegervater Laban – sagen wir es vorsichtig – auf problematische Weise gedient, jedenfalls so, dass er am Ende reich ist und Laban eben nicht so reich. Ist es da ein Wunder, dass in der Nacht, bevor er seinen Bruder wiedertrifft, ihn plötzlich sein schlechtes Gewissen anspringt? Dass das, was er ins Unterbewusstsein verdrängt hatte, angesichts der bevorstehenden Begegnung mit seinem Bruder, vor dem er geflüchtet war, über ihn herfällt, ihn würgt, ist geradezu normal. Und Jakob hat es – und das ist dann das Lob der Psychologen – geschafft, seinen Schatten zu integrieren, d.h. die verdrängten Persönlichkeitsanteile nicht übermächtig werden zu lassen, nicht depressiv zu werden, nicht regressiv zu werden, sondern als reife Persönlichkeit aus diesem Kampf mit sich selbst hervorzugehen. Ganzheitliche Person geworden wird die Nacht für ihn hell und zum Segen. Der Kampf am Jabbok ist ein Ursymbol für einen menschlichen Reifungsprozess, einen Prozess, den wir alle in unserem Leben durchkämpfen müssen. Am Büchertisch in der Universitätskapelle hab ich ein paar Titel hingelegt, wenn Sie mögen, können Sie nachher schauen, von Eugen Drewermann, von Yorick Spiegel, von Oskar Fischer, von Dieter Funke und anderen. Ich kann solchen Deutungen viel abgewinnen. Die Bibel ist ein Buch seelischer Weisheit, ein Handbuch für gute Psychologen, aber sie ist mehr. Diese Deutung befriedigt mich daher noch nicht. Schauen wir bei anderen Helfern zum Verstehen nach.

Da sind die Dichter. Viele haben über Jakob geschrieben, vielleicht der bekannteste unter den deutschsprachigen Dichtern war Thomas Mann. In seinem dicken Roman „Josef und seine Brüder“ wird wiederholt auf diese nächtliche Kampfszene angespielt. Thomas Mann versteht es ein bisschen anders als die Tiefenpsychologen, aber ähnlich. Nach Thomas Mann muss Jakob in dieser Nacht lernen, Verluste zu ertragen. Dass er im Leben kräftig auf die Hüfte geschlagen bekommt, das muss er lernen. Dass er etwas hergeben muss, das ist seine Lektion. Als er alt geworden seinen jüngsten Sohn Benjamin nach Ägypten schicken muss, wo Josef mittlerweile – ohne dass er es weiß – zum großen Machthaber aufgestiegen ist, da muss er wieder einen Kampf am Jabbok kämpfen, eine Jabbokstunde durchstehen. Dass er es geschafft hat, mit sich selbst zu kämpfen und sich selbst zu besiegen, das hinterlässt Spuren. Keine Narbe wie von einer Schlägerei, sondern eben eine verrenkte Hüfte. Auf diese Hüfte spielt Jakob im Josefsroman häufiger an, und – wie bei Thomas Mann mit viel Ironie und Humor üblich – ist er sehr stolz darauf; er nennt das Ganze ein „Ehrenhinken“. Jakob hinkt durch den Roman mit einem Ehrenhinken. Was er damit sagen will: Der Mensch muss in seinem Leben um zu reifen, harte Kämpfe bestehen und Verwundungen hinnehmen. Das erinnert mich an Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“, über der als Motto steht: „Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen, erlangt keine Bildung“: Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται. Es gehört zum Reifungsprozess des Menschen dazu, solche Kämpfe auszukämpfen.

Schauen wir nach andern Interpreten, den Malern. Sie haben die Postkarte mit dem Gemälde vom Kampf am Jabbok nach Marc Chagall vor sich (Anm.: Es hängt im Musée Message Biblique Marc Chagall in Nizza und ist im Internet leicht nachzusehen, z.B. http://gaebler.info/kunst/nizza/15.htm). Es ist wie ein Ursymbol des Menschseins. Blau gehalten in der Farbe des Wassers, des Flusses, der Wandlung: Hier kämpf Jakob mit voller Kraft mit einem Engel als Gegenüber. Chagall mahlt den Flussdämon als geflügelten Mann, als Boten Gottes. In diesem Kampf begegnet Jakob Gott, der seine Hände auf seinen Kopf legt. Hier sieht es so aus, als ob Jakob keine Chance hat.

Das ist ein Urbild für den Menschen des 21. Jahrhunderts. So ist der Mensch in seiner Begegnung mit Gott: Die Dichter, die Maler, die Psychologen helfen im Ringkampf um den Sinn mit diesem Text. Aber ich denke, man muss als Theologe noch tiefer bohren, noch genauer exegesieren, noch genauer hinschaut. Und da leistet dann auch eine historisch-kritische Analyse Hilfreiches.

In diesem Text, wie wir ihn gelesen haben, sind nämlich eigentlich zwei Texte enthalten. Zwei Texte ringen da miteinander. Zwei Texte, die sich ursprünglich auf zwei Quellen verteilt haben mögen, aber jetzt zu einem Text spannungsvoll zusammengekoppelt sind. Ein Text ringt jetzt mit dem andern. Sie halten sich umschlungen, Vers für Vers geht es hin und her, Jakob siegt, Jakob wird besiegt, Jakob hat gewonnen, Jakob hat verloren. Schauen wir uns diese beiden Texte, die miteinander ringen, doch einmal genauer an. Das wird umso dringender, wenn wir verstehen, dass diese Texte auch Texte von uns sind, wir kommen in diesen Texten vor. Das mag Sie vielleicht ein wenig verwundern, wenn ich behaupte: Wir kommen in diesen Texten vor. Aber doch, wenn wir begreifen, dass dieser Kampf am Jabbok mehr ist und anderes als bloß die Mitteilung eines historischen Ereignisses damals, eines vergangenen Kampfes, dann wird dieser Text erst richtig anfangen, zu sprechen. Dieser Kampf ist Gleichnis für die Wirklichkeit Gottes, es ist Symbol auch für unser Leben, er ist Chiffre für das überwältigende Hereinbrechen der Transzendenz in unsere Immanenz.

Lassen Sie es mich durchbuchstabieren: Der eine Text, der ältere Text ist eine ganz urtümliche Sage. Es war einmal ein Flussgott, der hauste in einem Fluss, Jabbok, und immer, wenn ein Mensch durch seinen Fluss wollte, überfiel er ihn mitten in der Nacht und überwältigte ihn. So verschlang er viele --, bis einer kam, der ihm Paroli bieten konnte; bis endlich einer kam, der ihn niederrang. Dieser Mann war vielleicht nicht stärker an Kraft, aber gewitzter, flinker, intelligenter als dieser Flussdämon. Er besiegte ihn und rang ihm im Morgengrauen seinen Segen ab. Diese Bilder vom Dämon, der Menschen überfällt, so archaisch sie klingen, meinen doch auch uns. Dieser Dämon ist Urbild für das Chaos, für die Nacht, für die Angst, die auch uns überfällt. Chiffre für das Unheimliche, Bedrohliche und Dunkle in unserm Leben. Wir wissen alle um diese Mächte, die uns plötzlich in den Schwitzkasten nehmen, uns niederdrücken wollen. Man mag das „Schicksal“ nennen oder „Zwang“ oder „Dämon“, wie man will. Es ist jedenfalls die Grunderfahrung einer überlegenen Macht, die den Menschen packt, die ihn an die Grenze treibt, an die Grenze zum Nichts, zum Untergang, zum Chaos. Hier muss der Mensch sich bewähren. Ich glaube, dieses ist eine Grunderfahrung jeder Theologie: Gott begegnet uns in unserem Leben keineswegs immer als der Liebende, Zärtliche, Angenehme, sondern häufig als der Verborgene, als der Chaotische, der uns dahin zwängt, wohin wir nicht wollen, dem wir Widerstand leisten müssen.

Und da ist einer, der hat ihn besiegt. Einer hat das Dämonische in Gott überwunden, einem gelang es – vielleicht auch mir. So ist dieser Text ja auch ein Text der Hoffnung, die die Angst besiegt. Dieser unheimliche Gott, dieser mächtig zwingende Gott kann im Kampf sein Angesicht verwandeln. Im Kampf kann aus diesem Gott ein segnender werden – aber nicht ohne Kampf. Dieser Gott zeigt sein wahres Gesicht nicht ohne Auseinandersetzung. Die Morgenröte zieht nur herauf, wenn wir uns dem Kampf stellen.

In diesen archaischen Text vom Menschen, der mit Gott kämpft und siegt, der den Segen erringt, ist ein anderer Text eingeflochten, ein Text, der das genaue Gegenteil sagt: Jakob ist der Geschlagene, er hat verloren. Jakob fleht förmlich: „Tu mir doch wenigstens deinen Namen kund.“ Aber Gott weist diese Bitte ab, er sagt nicht, wer er ist. Gott bleibt verborgen, bleibt Geheimnis, Geheimnis auch meines Lebens. Wir alle wissen, auch das ist unser Text. Obwohl wir mit Gott ringen, gibt es Stunden, in denen wir nicht durchdringen zum Segen, sondern im Nichtwissen, im Nichtbegreifen, in der Ohnmacht und im schmerzlichen eschlagensein ausharren müssen. Das ist der Text eines vergeblichen Kampfes und auch das ist eine Erfahrung Gottes, die Erfahrung des Deus absconditus. Von daher kommen wir dann wieder zu dem alten, ersten Text zurück. Wir müssen den Ringkampf gegen diesen verborgenen Gott neu beginnen, uns neu auflehnen gegen diese Frustrierung, gegen dieses Schweigen Gottes, gegen eine Theologie, die nichts mehr zu sagen weiß von Gott.

Für mich ist dieser Text vom Kampf am Jabbok schon auf dieser Ebene des Verstehens ein phantastischer Text, ein Ursymbol für den modernen Menschen, ein Symbol auch für meine eigene geistige und geistliche Situation. Das Ringen mit dem verborgenen Gott, der mir so dämonisch und undurchschaulich begegnet, in einer so schwierigen Welt und der sich im Kampf doch wandelt. Doch von diesem Wandel Gottes will ich erst nach einem Stück Musik mehr sagen.

 

*Gitarren-Musik*

 

Vielleicht ist dieser dunkle Text schon etwas klarer geworden. Aber mir ist er erst richtig klar und persönlich wichtig geworden mit Hilfe eines Malers, der dieses Bild 1660 gemalt hat, Rembrandt.

Als ich mich in dieses Bild hineindachte, hat sich mir der Text erst richtig erschlossen. Der Maler hat in genialer Weise das Entscheidende ans Licht gehoben. Schauen Sie doch mit mir auf dieses Bild: Da sind zwei Männer, man sieht es nicht ganz deutlich, aber Sie stehen am Rande einer Schlucht, einer Flussschlucht, man kann auch sagen, sie stehen am Rande des Abgrunds. Sie ringen auf braunem Grundton und jeder spürt: Es geht hier um Leben und Tod. Da ist Jakob mit dem Rücken, mit dem purpurroten Brokatkleid und einem Gürtel gekleidet, ein athletischer kräftiger Mann, der seine Arme um den Engel schließt. Er sieht stolz aus. Ein stolzer starker Mann, der ringt aus Leibeskräften. Es sieht so aus, als ob er den Engel anhebt. Aber der Engel ist ihm über. Schon durch die Größenverhältnisse wird deutlich, wer hier siegen wird. Der Engel steht im Zentrum. Der Engel hat zwar Zeichen des Kampfes, sein Hemd ist etwas verrutscht, aber sieht so ein Ringkämpfer aus, der einen andern fertigmachen will? Dieser Engel wirkt auf mich geradezu anmutig, ich möchte fast sagen feminin, es könnte auch eine Engelin sein. Liebevoll hält sie Jakob umschlungen. Da ist der starke Arm, der zur Hüfte geht. Ein Arm geht zur Hüfte und wir wissen aus der Geschichte, mit diesem Arm wird er auf die Hüfte draufschlagen, so dass sie bleibend hinkt. Es ist eine schmerzvolle Umarmung für Jakob. Aber da ist auch der andere Arm, der Jakob geradezu liebevoll im Nacken umarmt. Ist das überhaupt noch ein Kampf? Bei Chagall klang das auch schon ein bisschen an, Jakob kniete da so, er betete fast an im Kampf. Hier ist das noch deutlicher: Der Kampf ist eigentlich kein Kampf! Der Kampf ist verwandelt in eine Umarmung. Jakob ist eigentlich umfangen, umfangen von der Liebe Gottes, symbolisiert in diesem zärtlichen Engel. Jakob kämpft sich an den Engel heran; er liefert sich ihm geradezu aus, er hat etwas Hingebungsvolles, das eine Bereitschaft zu empfangen signalisiert. Kniend empfängt er die zärtlichen Liebkosungen des Engels. Jakob hat nicht mehr die Angst im Nacken, sondern die Hand des segnenden Engels. Der Kampf hat ein ganz unerwartetes Ende gefunden, er ist zur zärtlichen Werbung verwandelt.

Im Lichte Rembrandts wurde mir deutlich, was mir eigentlich bei der Lektüre des Textes schon hätte auffallen sollen. Im Lichte Rembrandts hätte ich dann mit meinem Vater sagen können: „Klar wie Gottes Wort“. Der Kampf hat nämlich den Charakter der Gnade. Über der Geschichte schwebte schon von Anfang an das Liebevolle, Engelhafte, der Segen, der wird einem aber erst am Ende richtig deutlich: Gott lässt Jakob gewinnen. Aber nicht, weil Jakob stärker wäre, sondern Gott ist wie ein liebender Vater, der mit seinen Töchtern ringt und sich freut, wenn die Kleinen sich anstrengen, und er lässt sie dann auch gewinnen und ist stolz auf den Kampfgeist. Der Vater weiß nämlich, dass die Kinder durch den Kampf stark werden.

So wird aus diesem dunklen Text, in dem so merkwürdige Vorstellungen über Gott miteinander ringen, jetzt doch ein lichtvoller Text. Im Zentrum steht die Begegnung, die Entdeckung des liebenden Vaters. Und diese Begegnung, diese Entdeckung verwandelt Jakob total. Im biblischen Denken wird eine totale Wesensverwandlung gerne ausgedrückt mit einem Namensänderung, mit einem Umtaufen. Jakob bekommt einen neuen Namen, das heißt, er wird ein anderer Mensch, eine neue Kreatur. In dieser Begegnung mit Gott wird er neu geschaffen. „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel“. Israel ist der Symbolname für diese Gnade Gottes, der gewinnen lässt, der seinen Segen schenkt, aber erst, nachdem der Sohn gerungen hat.

Israel, das ist ein Ehrenname, der seit dieser Geschichte durch die Welt geht und dafür wirbt, zu entdecken, dass im Kampf der Mensch, der Kämpfende, auf den liebenden Gott stößt. Diese Wiedergeburt, dieses Ganz-anders-werden, Aus-dem-Fluss-erneuert-heraussteigen, das ist der tiefste Sinn der Jabbok-Erzählung. Das sollte unser Text sein, unser Endtext, uns soll die Sonne aufgehen, so wie sie Jakob aufgegangen ist wie niemals vorher als er aus dem Fluss heraustrat. Jetzt ist der Tag des Heils, wie heilvoll wäre das für uns, wenn wir das verstehen, wenn uns das im Herzen wäre. Gewonnen! Wir haben gewonnen! Wir sind gesegnet, Gott hat uns das Heil geschenkt oder – mit dem Apostel Paulus gesagt – wird diese überraschende Entdeckung deutlich im 2Kor 6: „Wir sind die Unbekannten und doch Bekannten, als die Sterbenden und siehe wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht ertötet, als die Traurigen aber allezeit fröhlich, als die Armen, die aber doch viele reich machen, als die, die nichts haben und die doch alles haben.“

Alles Ringen mit Gott, das sich durch unsere Gottesdienstreihe in diesem Semester gezogen hat, alles Ringen mit Gott mündet in diese Entdeckung der Liebe Gottes. Alles Ringen mit Gott hat diesen Sinn, aus uns neue Kreaturen zu machen und mit dieser Einsicht hat der Text für mich die Kraft einer Vorabschattung, die Kraft einer Typologie, einer Ahnung von etwas, was er selbst so noch nicht sagen kann. Sie werden es vielleicht auch zunächst überraschend finden, aber ich glaube, dieser Text ist ansatzweise schon so etwas wie ein Tauftext. Das, was dieser Text beschreibt, vollzieht sich in der Taufe. In Allem, was wir an Kämpfen führen, allem Dämonischen, Zwanghaften, mit dem wir ringen, sind wir von Anfang an von Gott in die Arme genommen. Wir sind als Getaufte in der Liebe des Vaters, und wenn wir auch mit ihm kämpfen in den dunklen Stunden unseres Lebens, in der Erfahrung des Scheiterns, in der Erfahrung von Krisen – und jeder von uns kann das mit seiner eigenen Biographie ja leicht ausfüllen, welche Krisen wir zu durchleben haben, ob wir scheitern in unserer Ehe und in unseren Familien oder ob wir scheitern in unserem Beruf, ob wir in Situationen sind, die wir als Zwang erleben, als Mobbing, vielleicht in Krankheit und Tod – in all den dunklen Jabbok-Stunden, die wir durchkämpfen müssen, sind wir in der Gnade Gottes, denn wir sind getauft.

Wenn Martin Luther, der manche Jabbok-Stunde zu durchkämpfen hatte, gar nicht mehr weiterwusste, dann nahm er ein Stück Kreide und schrieb auf den Tisch: „Baptismatus sum“, „Ich bin getauft!“, und dieses Bewusstsein hat ihn gehalten in allen Anfechtungen. Dieses „ich bin getauft“ ist die Klammer über alle Ringkämpfe, ist der Halt in allen Erfahrungen des Scheiterns, dem wir nicht entgehen als Getaufte, aber wir wissen in allen Kämpfen: Gott, der liebende Vater umgreift uns, er hat uns seine Gnade, seinen Segen von Anfang an zugewandt. Für mich ist dieses Bild von Rembrandt, dieser Text vom Fluss Jabbok, die Grunderfahrung dessen, was – mir jedenfalls – die Taufe erschließt.

Und so möchten wir Sie heute in unserer Aktion – sie wissen, bei „Inspirationen am Abend“ gibt es immer auch etwas für Sie zu tun – einladen, sich selbst an Ihre Taufe zu erinnern. Nun kann man das in vielfältiger Weise machen; ich habe in meiner Gemeinde früher immer Tage eingelegt, an denen die Taufe bewusst erinnert wurde. Die Leute sollten ihre Taufurkunde mitbringen, ihren Taufspruch sagen; wir haben darüber gesprochen, was sie mit Taufe alles für Erfahrungen haben; das haben Sie heute Abend natürlich nicht dabei. Aber das ist schon gut, dass man sich im Leben immer wieder verdeutlicht, auf welcher Basis man steht. Ich habe zum Beispiel als Jugendlicher meinen Taufspruch ganz neu entdeckt. Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, hab ich meine Taufurkunde zur Hand genommen und hab da gelesen „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“. Dieses Wort auf meiner Taufurkunde vom 1. April 1956, hat mich getroffen. Er hat mir deutlich gemacht, worauf ich stehe. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Taufspruch kennen, Ihr Taufdatum wissen, was Sie mit Taufe verbinden. Aber wir möchten Sie in der Aktion jetzt einladen, sich Ihrer eigenen Taufe zu erinnern und zu vergewissern.

Wir haben dazu zwei Tische vorbereitet, neben der Orgel, dort an der Universitätskapelle, und möchten Sie bitten, dort vorbeizukommen und bei einer Zeichenhandlung mitzumachen. Wir haben uns gedacht, dass wir als erstes mit einem Wasser das Zeichen des Kreuzes auf die Handfläche malen. Das soll nur ein Symbol dafür sein: Ich bin getauft, ich bin in der Gnade Gottes eingefangen. Dazu möchten wir Ihnen gerne ein brennendes Teelicht überreichen. Das Licht als Symbol dafür, dass Sie niemals im Dunkeln sind, dass Gott in der Taufe Ihnen versprochen hat, durch alle Kämpfe des Lebens mitzugehen. Und dann haben wir noch Sprüche herausgesucht, Bibelworte, die Sie an die Taufe erinnern sollen. Vielleicht können Sie auch Ihren eigenen Taufspruch dabei denken. Also wenn Sie wie beim Wandelabendmahl einreihen und dort vorbeikommen mögen, herzliche Einladung dazu. Wenn Sie lieber sitzenbleiben möchten, weil Ihnen diese Aktion irgendwie vielleicht nicht so zu Herzen geht, dann nutzen Sie die Zeit zum Meditieren über dieses Jabbok-Bild, über die Existenzerhellung, über die Kraft, die in diesen Bildern steckt, in diesem Text, in dem gesagt wird: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Gott segnete ihn daselbst.“

 

Der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in dem Gedanken, dass wir in Jesus Christus getauft sind.

 

Amen.

 

 

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Manfred Oeming: "Alles Ringen mit Gott mündet in die Entdeckung der Liebe Gottes

 

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Letzte Änderung: 22.11.2018
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