Kapitel und Studierendengemeinde: Die Universitätsgottesdienste nach 1948

Adolf Martin Ritter | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

UniversitätsgottesdienstFestgottesdienst in der Peterskirche am 26. Juni 2011.
Regelmäßige Universitätsgottesdienste im Semester finden hier seit 1945 wieder statt, seit den 1960er Jahren auch an den Sonntagen in den Ferien. (Quelle: http://www.peterskirche-heidelberg.de/gottesdienste/universitatsgottesdienste/)

Hätte sich der Nationalsozialismus in Deutschland behauptet, so hätte auch die Geschichte der Heidelberger Theologischen Fakultät und damit auch die der Universitätsgottesdienste in der Peterskirche nach Kriegsende aller Wahrscheinlichkeit nach über kurz oder lang keine Fortsetzung gefunden. In sicherer Voraussicht dessen hatte sich ja auch der (politisch angepasste) Dekan der Fakultät bereits Jahre vorher um die Umsetzung seiner Professur in die Philosophische Fakultät, allerdings vergebens, bemüht (Ritter, 100 Jahre Universitätsgottesdienste, 242, Anm.15). So aber begann nach Ende des 2. Weltkrieges, trotz aller äußeren Schwierigkeiten, für die Fakultät wie für die Universitätsgottesdienste wohl die glanzvollste Zeit ihrer bisherigen Geschichte. Eine neue Fakultät wuchs heran, die alsbald mit in aller Welt klangvollen Gelehrtennamen aufwarten konnte. Und nachdem in der Nacht vom 26. auf den 27. März 1945 durch einen Brand des Dachstuhls über Chor und Mittelschiff entstandene Schäden, herbeigeführt nicht durch Kriegseinwirkungen oder – so später aufkommende Gerüchte – durch die Vernichtung von belastenden Akten, gar der GESTAPO, kurz vor Einmarsch der Amerikaner, sondern „vermutlich“ durch einen „Kurzschluss in der elektrischen Anlage“ (Huth, Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten, 78), anfangs in Eigenarbeit von Studierenden und Professoren, nach und nach hatten behoben werden können, nahmen auch die Universitätsgottesdienste einen Aufschwung, mit dem niemand hatte rechnen können. Erst jetzt, zwischen 1945-1950, fanden diese Gottesdienste während der Vorlesungszeit Sonntag für Sonntag statt; sonntägliche Feriengottesdienste wurden auf Betreiben des „Studentenpfarrers“, wie er damals noch hieß, um 1960 eingeführt. Sämtliche Professoren der Engeren Fakultät, später auch Privatdozenten, beteiligten sich jetzt am Predigtdienst, unterstützt außer vom Studentenpfarrer von dem Rektor des neugegründeten badischen Kandidatenkonvikts (Petersstift). Die Gottesdienste waren in der Regel bis auf den letzten Platz besucht. Um den zahlreichen, vor allem jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Erinnerung anbieten zu können, sind zwischen 1959 und 1965 mehrere Hefte mit gesammelten Predigten aus dem Heidelberger Universitätsgottesdienst im Druck erschienen (s. Literaturhinweise). Darunter befindet sich ein Heft mit Predigten ausschließlich des damaligen Studentenpfarrers (Martin Schröter), bevor- und befürwortet von dem großen Alttestamentler, feinsinnigen Prediger und unbestechlichen Predigthörer Gerhard von Rad. Das zeigt, wie wenig „hierarchisch“ man damals (bereits?) zu denken vermochte.

Auch die Strukturen änderten sich. So trugen die Gottesdienste jetzt – entsprechend der konfessionellen Prägung der Mehrheit unter Theologieprofessoren wie -studierenden – einen stärker lutherischen Charakter, als es der badisch(-uniert)en (und vollends der vorherrschend reformierten) Tradition (der ehemaligen, protestantisch geprägten, Kurpfalz [s. Heidelberger Katechismus]) entsprach. Es war Prof. E. Schlink, der als zweiter Universitätsprediger (neben dem 1950 emeritierten Praktischen Theologen R. Hupfeld) seit 1946 „die Grundgestalt des ... Heidelberger Universitätsgottesdienstes maßgeblich mitbestimmt(e)“ (Philippi, damaliger Kapitelsvorsitzender, in der Einführung zu „Universitätsgottesdienst“, 9). Dabei spielten Erfahrungen aus der „Bekennenden Kirche“ eine große Rolle. Fast durchgängig wurde sonntäglich das Abendmahl gereicht, wobei seit den 60er Jahren der monatserste Gottesdienst (als „Gesamtgottesdienst“) ohne Zäsur zwischen Wort- und Mahlteil gefeiert wurde. Erst recht entsprach – und entspricht bis heute – ein Frühgottesdienst in der Mitte der Woche, damals nur während der Semestermonate gefeiert, weitgehend der lutherischen Messe.

Nicht zuletzt änderte sich die Rechtsform. Ein Statut für den Heidelberger Universitätsgottesdienst vom 18. Dezember 1948 besagte, dass für die seit dem Sommersemester 1938 für alle evangelischen Universitätsangehörigen eingeführten Gottesdienste, traditionsgemäß, der jeweilige Inhaber des Praktisch-Theologischen Ordinariats verantwortlich sei, dem mit seiner Berufung das Amt des Universitätspredigers übertragen werde. Neu war, dass er, wie es weiter heißt, zu Beginn seiner Tätigkeit vom Bischof der badischen Landeskirche in sein Amt eingeführt werden solle. Dass ihm innerhalb des Predigtturnus eine bevorzugte Stellung zukomme, verstand sich im Grunde von selbst. Als Prediger habe er „alle Glieder der Fakultät“ (gemeint: der Engeren Fakultät) zu seiner Seite, soweit sich diese für die Gottesdienste zur Verfügung stellen. Aus deren Mitte sei durch die Fakultät dem Universitätsprediger ein ordentlicher Professor als sein Stellvertreter (2. Universitätsprediger) zu bestimmen. Ferner sei als Beratungsgremium ein „Kapitel“ einzurichten, das alle Prediger des Semesters umfasse (darum der Name). Hinzugezogen werden sollten allerdings auch Vertreter der anderen Fakultäten sowie der Evangelischen Studentengemeinde (ESG).

Nach Errichtung eines zweiten praktisch-theologischen Ordinariats erfolgte 1968 eine Änderung dieses Statuts, des Inhalts, dass nunmehr der jeweilige Inhaber eines praktisch-theologischen Lehrstuhls für die Universitätsgottesdienste die Verantwortung trage (s. LkA KA, SpA, 18349).

Natürlich ist in den 20 Jahren zwischen 1948 und 1968 sehr viel mehr passiert und manches anders geworden. Wie hätten auch die – für viele berüchtigten – „68er Jahre“ spurlos an den Peterskirchengottesdiensten vorübergehen können? Einige Male wurden Prediger, die zu „konservative“ Ansichten zu vertreten schienen, von der Kanzel heruntergeschrieen und ihre Gottesdienste gesprengt (zu einer dieser weit über Heidelberg hinaus Aufsehen erregenden Aktionen s. Ritter, 100 Jahre Universitätsgottesdienste, 243, mit weiterer Literatur). Es hat damals ohne jede Frage Verletzungen – auf mehreren Seiten – gegeben, von denen man als Nichtbeteiligter und in der Rückschau nur vermuten kann, inwieweit sie unvermeidlich waren. Sie sind wohl nur von besonders Hartgesottenen im nachhinein nicht bedauert worden.

Als eine Hilfe erwies es sich, dass sich das Kapitel rechtzeitig eine neue Form gab, die es erlaubte, in möglichster Offenheit um den gemeinsamen Weg gottesdienstlicher Verantwortung zu ringen. Nunmehr waren nämlich „Prediger, Studierende und nichtstudentische Glieder der Universitätsgemeinde zu etwa je einem Drittel vertreten“ (Philippi, Einführung zu „Zuwendung und Gerechtigkeit“, 8). Es gelang dem neu zusammengesetzten Kapitel während vieler Jahre, wenn auch nicht immer ohne große Mühen, sich darauf zu verständigen, dass man sich dem Ruf nach Veränderung in Gesellschaft wie Kirche auf keinen Fall einfach verschließen dürfe und „Reformbereitschaft und Wille zur Kontinuität“ keine sich unbedingt ausschließenden Gegensätze seien (Philippi, Einführung zu „Universitätsgottesdienst“, 9).

Was leider nicht gelang, war, zu verhindern, dass ESG und Universitätsgemeinde einander zunehmend entfremdeten. Von Jahr zu Jahr schrumpfte die einstmals blühende Studierendengemeinde, bis sie schließlich zu einem ‚linken‘ Grüppchen unter vielen anderen verkümmert war, während mehr und mehr Studierende, die in ihr vergeblich nach einer geistlichen Heimat suchten, diese andernorts, vor allem in der katholischen Schwestergemeinde (KSG, heute KUZ) sowie in der „Studentenmission für Deutschland“ (SMD) und nicht zuletzt im Mittwochmorgengottesdienst suchten und fanden. Seit dem Weggang von Pfarrer Schröter (Frühjahr 1965) warfen fast alle seine Nachfolger schon nach relativ kurzer Zeit das Handtuch; und der letzte, der am längsten aushielt, in der – vergeblichen – Hoffnung, an einer Änderung der Strukturen mitwirken zu können, bezahlte dafür mit dem Verlust seiner Gesundheit einen sehr hohen Preis. Ausgerechnet an einer der sensibelsten und exponiertesten Stellen musste ein Pfarrer ohne so etwas wie einen Ältestenkreis auskommen, welcher ihn trägt und für ihn betet.

Es gab noch andere, allerdings weniger gravierende Konflikte (um Einbau und Aufstellung einer neuen Orgel beispielsweise). Der innerhalb der ESG und um sie seit langem schwelende Konflikt aber gab den Ausschlag dafür, dass sich der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) in Karlsruhe Mitte des Jahres 1985 gezwungen sah, den Vertrag über die Nutzung der Peterskirche zu kündigen und alle beteiligten Seiten zu ausführlichen Gesprächen über eine neue Satzung einzuladen. Nach einem nahezu zweijährigen Diskussionsprozess, an dem nicht zuletzt Vertreter der ESG in allen Phasen beteiligt waren, wurde am 3. April 1987 vom Kapitel im Einvernehmen mit der Theologischen Fakultät und dem EOK sowie im Benehmen mit der ESG, als eigenständigem Teil der Universitätsgemeinde, eine neue Gemeindesatzung samt neuer Wahlordnung und einem „Garantiebrief“ an die ESG verabschiedet. Die neue Satzung sah die Errichtung eines Pfarramtes an der Peterskirche vor, das der vom Kapitel im Benehmen mit dem Leitungsgremium der ESG gewählte Studentenpfarrer wahrnimmt. Außer ihm gehören als Amtsmitglieder dem, jetzt erstmals in vollem Umfang als ein Ältestenkreis (Presbyterium) fungierenden, Kapitel der von einem neu zu schaffenden Predigerkonvent aus seiner Mitte jeweils für drei Jahre zu wählende Universitätsprediger und ein(e) durch das Leitungsgremium der ESG zu bestimmende(r) Vertreter(in) an; kraft Gemeindewahl sind Mitglieder zwei Professoren der Theol. Fakultät, neben dem Universitätsprediger, vier studentische Mitglieder aus verschiedenen Fakultäten und endlich vier nichtstudentische Mitglieder, die nicht dem Lehrkörper der Theol. Fakultät angehören.

Trotz eingeräumter und auch wahrgenommener Mitwirkungsmöglichkeiten von Vertretern der ESG in allen Phasen des Diskussionsprozesses stießen die von sämtlichen übrigen Partnern, einschließlich des Fakultätsrates der Theol. Fakultät, angenommenen Beratungsergebnisse einzig dort auf weitgehende Ablehnung. Es kam zur Abspaltung einer „autonomen ESG“ (aESG). Mit ihr solidarisierten sich – innerhalb und außerhalb Heidelbergs – Teile einer kritischen (aber meist – erweislich – nicht besonders gut informierten) Theologenschaft. Die der ESG treu blieben, hatten zunächst, semesterlang, einen denkbar schweren Stand. Ja, die Heidelberger ESG war zunächst faktisch zerstört. Sie vermochte sich aber allmählich, vor allem wohl aus dem nach wie vor regen gottesdienstlichen Leben in und an der Peterskirche, dem von dem befürchteten „gegenreformatorischem“ Elan, einem Rückzug aus der „Welt“ und einer Entpolitisierung nichts anzumerken war, allmählich zu erneuern. Die aESG gibt es seit langem, auch in Heidelberg, nicht mehr.


 

LITERATURHINWEISE

HAHN, Wilhelm (Hg.): Heidelberger Predigten, Göttingen 1959.

KRIMM, Herbert (Hg.): Heidelberger Predigten. Neue Folge, Göttingen 1963.

HUT, Hans: Sicherungs- und Renovierungsarbeiten an der Peterskirche zu Heidelberg, in: Nachrichtenblatt der Denkmalpflege in Baden-Württemberg 7 (1964), S. 78-81.

SCHRÖTER, Martin: Verkündigung in der Studentengemeinde. Predigten (mit einem Geleitwort von G. von Rad), Göttingen 1964.

BRUNNER, Peter: Eins ist not. Elf Predigten aus dem Heidelberger Universitätsgottesdienst, Göttingen 1965.

PHILIPPI, Paul (Hg.): Zuwendung und Gerechtigkeit. Heidelberger Predigten III, Göttingen 1969.

PHILIPPI, Paul: "Es ging ein Sämann aus" - am Mittwochmorgen, in: HABICHT, Tobias/KARCHER, Stefan/REICHEL, Hanna (Hg.), " ... zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn". Eine homiletische Festschrift zu Adolf Martin Ritters 80. Geburtstag ( Impulse aus der Heidelberger Universitätskirche 4), Heidelberg 2013, S. 20-27.

PERLITT, Lothar (Hg.): Universitätsgottesdienst. Heidelberger Predigten IV (1968-1973), Göttingen 1973.

RITTER, Adolf Martin: 100 Jahre Universitätsgottesdienst in der Peterskirche, in: Heidelberger Jahrbücher XL (1996) S. 235-245.

 

Eine vollständige Dokumentation zur rechtlichen Neuordnung der Verhältnisse an der Peterskirche und in der Evangelischen Studierendengemeinde mit den im April 1987 beschlossenen Texten (Gemeindesatzung, Wahlordnung, „Garantiebrief“ an die ESG) sowie sämtlichen schriftlich niedergelegten und erhaltenen Voten (pro und contra) im Verlauf des (fast) zweijährigen Diskussionsprozesses und zu dessen Resultaten sind im Archiv der ESG, ferner im Landeskirchlichen Archiv in Karlsruhe, einzusehen.

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Letzte Änderung: 22.08.2018
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