Rudolf Bohren: Praktische Theologie und Ästhetik

Rainer Oechslen | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

BohrenRudolf Bohren (Foto: Privat)

Rudolf Bohren:

Geboren am 22. März 1920 in Grindelwald; gestorben am 1. Februar 2010 in Dossenheim

1974-1988 Professor für Praktische Theologie in Heidelberg, Prediger im Universitätsgottesdienst

 

Wintersemester 1976/77. Im November kam ich zu einer Tagung nach Heidelberg. Am Sonntagmorgen gingen wir in die Heiliggeistkirche, die Peterskirche war wohl wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Auf dem Weg flüsterten meine Freunde mir zu, die Frau des heutigen Predigers sei im Sommer nach langjähriger Depression durch einen Suizid ums Leben gekommen, nun halte er seine erste Predigt im Universitätsgottesdienst nach diesem Schlag. Den Namen Rudolf Bohren hatte ich schon gehört, aber allzu viel sagte er dem Studenten im dritten Semester nicht.

In der vollbesetzten Heiliggeistkirche erschien ein relativ kleiner Mann mit grauem Vollbart. Schon die ersten Worte der Liturgie ließen mich aufhorchen: Die eigenartig hohe Stimme, der unverkennbare Schweizer Akzent prägten sich mir für mein Leben ein. Dann kam der Predigttext. An diesem vorletzten Sonntag des Kirchenjahres war das 2. Korinther 5,1-10: „Denn wir wissen, dass wir, wenn unsere irdische Zeltwohnung abgebrochen sein wird, einen Bau haben, den Gott bereitet hat.“

Die Predigt begann:

„Als man dem württembergischen Pfarrer Christoph Blumhardt die Nachricht überbrachte, sein Freund August Bebel sei gestorben, sagte der in seinem unnachahmlichen Schwäbisch: ‚Der wird Augen machen.‘ – Wir werden alle einmal sterben, werden Augen machen und werden angesehen.

Darum haben wir uns versammelt, damit wir nicht in aller unserer Klugheit dumm bleiben und trostlos in unserer Auferstehungsblindheit. Hier teilt uns einer ein Wissen mit, von dem wir in der Regel nichts wissen, kein Philosophenwissen, kein Professorenwissen, ein Kinder-wissen vielmehr, ein Freiheits- und Freudenwissen, ein Wissen um unsere eigene Zukunft über den Tod hinaus.“

Später hat uns Rudolf Bohren gelehrt, dass die ersten Sätze über eine Predigt entscheiden. Doch auch ohne dies verstanden zu haben, war mir beim ersten Hören klar, dass es hier etwas zu lernen gab: Da begann ein Prediger mit einer knappen Prophetengeschichte. Wie sollte man es sonst nennen, wenn Blumhardt dem verstorbenen Oberhaupt der deutschen Sozialdemokraten und ausgemachten Atheisten Bebel ohne Wenn und Aber die Anschauung Gottes – um etwas anderes ging es doch wohl nicht – zusprach? Der zweite Satz bereits erweiterte den Zuspruch auf die versammelte Gemeinde. Der dritte Satz nannte den Grund dieser „Versammlung“: „Darum haben wir uns versammelt, damit wir nicht … dumm bleiben.“ Offenbar gab es – zumindest theoretisch – auch in einem Universitätsgottesdienst der hochberühmten Universität Heidelberg die Möglichkeit „in aller Klugheit“ und trotz „Professorenwissen“ dumm zu bleiben. Der Prediger aber kannte den Zweck unserer Zusammen-kunft.

Ich greife vor: Jahre später hat mir Rudolf Bohren erzählt, sein Lehrer Walter Lüthi (1901-1982) habe auf dem Kirchentag in Leipzig 1954 vor Tausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern seine Bibelarbeit mit den Worten begonnen: „Er kommt mit den Wolken. Um diese Botschaft entgegenzunehmen, ist der Kirchentag versammelt.“

Ein Wort zur prophetischen Rede in der Predigt. Weder bei Lüthi noch bei Bohren kommt das prophetische Wort mit großem Gestus daher. In seiner Predigtlehre zählt Bohren die „falsche Prophetie“ zu den Lastern der Prediger (und Predigerinnen). Das Prophetische der Predigt erscheint vielmehr in knappen, fast lakonischen Sätzen, die aussprechen, was nicht vor Augen ist, das „Unsichtbare“, wie Bohren es oft nennt: „Der wird Augen machen.“ Oder: „Dazu sind wir versammelt.“ Der Mantel des Propheten umhüllt den Jünger und doch ist er ihm immer zu groß. Elisa wünscht sich zwei Drittel vom Geist Elias und Elia antwortet: „Du hast Schweres erbeten.“ (2 Könige 2,10)

Zurück ins Jahr 1976. Es war klar: Dieser Prediger traute sich etwas. Weder eine volle Kathedrale – die Heiliggeistkirche hat etwas von einer Kathedrale – noch eine gelehrte Zuhörerschaft schüchterten ihn ein. Er nannte ohne lange zu fragen seinen Hörern und Hörerinnen den Grund, aus dem sie versammelt waren, einen Grund, den vermutlich in dieser Kirche so schnell niemand von sich aus angegeben hätte: den Wunsch, nicht dumm zu bleiben. Man könnte hier durchaus von einer Unterstellung sprechen. Wer Ohren hatte zu hören, der oder die wusste nun, dass Gottes Geist die Versammlung in der Heiliggeistkirche zusammen-gerufen hatte, um uns von unserer „Auferstehungsblindheit“ zu heilen. In Aussicht stellte uns der Prediger ein „Freiheits- und Freudenwissen“.

Das spezielle Namedropping am Anfang zeigte außerdem, dass der Prediger sich auch im Universitätsgottesdienst nicht auf den Rahmen akademischer Theologie beschränken wollte. Weder Christoph Blumhardt (1842-1919), der als Landtagsabgeordneter der Sozialdemokratischen Partei sein Pfarramt verlor, noch deren Vorsitzender August Bebel (1840-1913), der wesentlich vom Marxismus geprägt war, gehörten zu den klassischen Referenzen akademischer Theologie.

Der Schluss der Predigt entsprach ihrem Anfang: „Glaubet dem, der uns gnädig ansieht und unsere Unreinheit bedeckt – mit einem Bau, mit einem Kleid ohnegleichen. Noch umgibt er uns unsichtbar, aber die Zeit kommt, wo er sichtbar wird, unvorstellbar schön, und wir mit ihm. Damit das werde, sind wir hier und feiern das Mahl seiner Zukunft.“ Der eschatologische Ausblick lag bei diesem Predigttext nahe. Aber bei dieser Kühnheit meinte ich die Wächter Zions singen zu hören.

Im Frühling 1977 wechselte ich von Neuendettelsau nach Heidelberg. Bohren predigte am 15. Mai, dem Sonntag Rogate, nun wieder in der Peterskirche, über Ezechiel 34, 1-16, die Rede von den schlechten und dem guten Hirten. Ein Abschnitt daraus ist mir fast wörtlich im Gedächtnis geblieben. Manchmal habe ich ihn vorgetragen:

„Schafe sind dumme Tiere. In meiner Heimat beispielsweise ziehen sie sich in der Sommer-hitze an den Gletscher zurück, sammeln sich am Lawinenkegel, wo es kühler ist. Dann bleiben sie in ihrer schäflichen Sturheit dort oben und magern ab, weil sie am Rand von Schnee und Eis kein Futter mehr haben. – Im Orient gibt es andere Verhältnisse. Aber auch dort haben Schafe Schafsköpfe und Schafsnasen.

Schafe brauchen einen Hirten. Wir Akademiker sind ja eine besondere Schafsrasse. Wir lieben die Höhenwege und geraten nur zu oft in Eis- und Schneezonen. Um irgendeiner uns nicht passenden Sommerhitze zu entgehen, bleiben wir schafsköpfisch an irgendeinem schmutzigen Schneefleck stehen, wo wir zugrunde gehen, wenn uns nicht einer herunter-holt. Auch akademische Bergschafe brauchen einen Hirten und die ehrbaren Heidelberger Bürger wohl nicht weniger. – Schafe sind schwierige Zeitgenossen, ängstlich und schreckhaft. Werden sie aufgeschreckt, rennen sie sinnlos davon, und der Hirt hat viel Mühe und Not, bis er sie wieder findet und fängt. Schafe können ihren Hirten zur Verzweiflung bringen.

Aber wir verstehen die Bildrede von Hirt und Herde nicht, wenn wir nicht bedenken, dass Jesus Christus in der Bibelsprache nicht nur als ‚Hirt‘, sondern auch als ‚Lamm‘ bezeichnet wird. Wenn wir erkennen wollen, was Jesus Christus als Hirt für uns heute bedeutet, müssen wir sehen, wie sehr er Hirt ist: so sehr, dass er eins ist mit seiner Herde, dass er aufgeht im einzelnen Herdentier, dass er aufgeht im Schwachen, Kranken, Gebrochenen, Versprengten, Verirrten.“

Bohren nahm den Ort dieser Predigt, die Universitätsgemeinde, ernst, wendete sich ihr zu in einer sehr direkten, zupackenden und zugleich seelsorgerlichen Weise. Noch einmal ging der Kampf des Predigers gegen die Dummheit, diesmal in der speziellen Form akademischer Sturheit.

Am Ende dieser langen Predigt – mit dem Predigttext und dem Fürbittgebet acht Druckseiten – kam Bohren auf die Situation in der Tschechoslowakei zu sprechen. Damals hatten auch einige Pfarrer der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder die Charta 77, also die Erklärung der Bürgerrechtsbewegung, unterzeichnet. Dies wurde von der Kirchenleitung, dem Synodalrat, nicht unterstützt oder sogar bekämpft; man meinte, die Unterschriften seien mit der Ordnung der Kirche nicht zu vereinbaren. Bohren nannte die Namen der ge-rügten Pfarrer. Dann las Bohren einen Brief aus Prag vor: „Im vergangenen Frühjahr hat innerhalb eines Gottesdienstes in der Salvator-Kirche im Homiletischen Seminar der Student Dilandat, der für die Liturgie dieses Gottesdienstes verantwortlich war, für den damals inhaftierten [Pfarrer] Karasek gebetet. Die Fakultät verhängte über ihn ein Verbot, zwei Jahre lang nicht an der Fakultät studieren zu dürfen. Ein ähnliches Schicksal hatte der Theologie-student Martin Zlatohvalek, der Ende April 1975 in einem Gottesdienst in der Salvator-Kirche … mit einem anderen Studenten zusammen zwei Zettel mit Bibelstellen auf den Altar legte: ‚Man kann nicht zwei Herren dienen. Man muss Gott mehr gehorchen als den Men-schen.‘ … Die Fakultät schloss Zlatohvalek für zwei Jahre vom Studium aus. Zur Zeit leistet er Militärdienst und hat immer noch keine Zulassung zum Weiterstudium, obwohl die Frist von zwei Jahren schon vorbei ist.“ Bohren nahm uns mit hinein in die Situation einer bedrängten Gemeinde und leitete uns an zu konkreter Fürbitte.

Ein weiteres für Bohren typisches Element zeigte sich in dieser Predigt: die Verwurzelung in seiner Heimat. Nach meiner Erinnerung extemporierte er in der Predigt ein wenig und sprach nicht nur von seiner Heimat, sondern nannte sie ausdrücklich beim Namen: „in meiner Heimat im Berner Oberland“.

Bevor ich mehr von Bohrens Verhältnis zu seiner Heimat sage, noch ein Wort zur allgemeinen Situation in Heidelberg, überhaupt in Deutschland in diesem besonderen Semester. Die Stimmung im Land war durch politische Morde sehr angespannt. Am Anfang des Semesters stand das Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback (7. April), an seinem Ende das an dem Bankier Jürgen Ponto (30. Juli). Der „Göttinger Mescalero“ mit seiner „klammheimlichen Freude“ über den Tod Bubacks erregte auch uns Studierende sehr.

Am 28. April erging das Urteil im sogenannten „Stammheim-Prozess“ gegen die erste Gene-ration der RAF (Rote-Armee-Fraktion). Nicht nur ich zweifelte an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. In Heidelberg war die Nachhut der „68er-Bewegung“ relativ stark, auch wenn es, anders als am Ende der 60er Jahre, keine Störungen von Gottesdiensten und Vorlesungen mehr gab. Doch die K-Gruppen waren weiterhin aktiv. Einmal erlebte ich während des Mit-tagessens eine brutale Räumung der Mensa im Marstall durch die Polizei mit. Wenn ich mich recht erinnere, musste der Philosoph Michael Theunissen (1932-2015) einen Rechts-streit mit dem Rektor der Universität führen, weil er Peter Brückner (1922-1982), eine Symbolfigur der „Neuen Linken“, zu einem Gastvortrag eingeladen hatte und der Rektor einen solchen Vortrag an „seiner“ Universität nicht erlauben wollte. Selbstverständlich hörte ich Brückner zu, wie ich auch mit tausenden Kommilitoninnen und Kommilitonen in Stuttgart gegen das neue Hochschulgesetz von Baden-Württemberg demonstrierte. Die Pointe dabei war, dass der Kultusminister Wilhelm Hahn (1909 – 1996) vor seiner politischen Laufbahn Professor für Praktische Theologie in Heidelberg gewesen war. Sein Name stand auch immer noch im Vorlesungsverzeichnis. Ministerpräsident war damals Hans Filbinger (1913 – 2007). Erst im August 1978 musste er wegen der Todesurteile in der NS-Zeit, für die er verantwortlich war, zurücktreten.

Eines bekanntes Diktum aus den jungen Jahren Karl Barths sagt, dass ein Theologe täglich zweierlei lesen müsse: die Bibel und die Zeitung. Daran habe ich mich gehalten. Ich hörte bei Bohren, Claus Westermann (1909-2000), Hans Walter Wolff (1911-1993), Albrecht Peters (1921-1987) und anderen. Aus den Vorlesungen, in denen die politische Lage kaum einmal direkt angesprochen wurde, die aber von einem eigenartigen Ernst geprägt waren, ging ich täglich in die Cafeteria und las die „Frankfurter Rundschau“. Ich glaube, ich habe nie mehr in meinem Leben so viel in so kurzer Zeit gelernt, wie in diesem Sommersemester.

Diesem Hintergrund muss man kennen, um zu verstehen, welche Bedeutung die Universitätsgottesdienste für uns hatten. Sie waren Orte der Besinnung, des Trostes und der Orientierung in aufgewühlter Zeit.

Am Ende des Semesters gab es einen kleinen homiletischen Zwischenfall. Im Semesterschlussgottesdienst am 3. Juli predigte Lothar Steiger den Text Hebräer 1,1-3: „Nachdem Gott vorzeiten … geredet hat durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen geredet durch den Sohn.“ Steiger gab der Predigt die Überschrift: „Die Wiederholung des Vaters durch den Sohn. Oder: Jesus Christus der Vollender“. Er setzte sich, ohne ihn explizit zu nennen, mit Alexander Mitscherlichs (1908 – 1982) These von der „vaterlosen Gesellschaft“ auseinander, sprach von dem Menschen, „der nicht nur seine Väter verlor, weil Gott nicht zu ihnen geredet hat, sondern auch seinen Gott verlor, weil er diese Väter hatte“. Dann redete er uns an: „Du Heidenkind aus den Urwäldern der Großstädte, aus den unterentwickelten Ländern der Zivilisation und der verlorenen Kriege: Warum bist du traurig und klagst über den Verlust deiner Väter?“

Ich verstand bestenfalls ein Fünftel von dem, was Steiger sagte, doch ich wusste: Diese Predigt ist völlig anders als das, was wir von Bohren hörten, aber auch sie ist von Anfang bis Ende großartig. Nach dem Gottesdienst aber herrschte Missstimmung im Hof der Peterskirche. Viele Kommilitonen und Kommilitoninnen hielten die Predigt für eine unverständliche Zumutung, einige meuterten lautstark. Ich hatte den Eindruck: Sie hielten es nicht aus, dass sie etwas nicht gleich verstanden. Mir erschien das als Spießbürgertum und ich ging enttäuscht weg. Am Montagmorgen dann hielt Rudolf Bohren seine letzte Vorlesung – er las in diesem Semester über das Gebet. Offenbar hatte auch er den Ärger bemerkt. Er begann: „Ich lobe die Predigt von Lothar Steiger. Ich habe auch nicht alles verstanden. Das hat diese Predigt mit dem Römerbrief gemeinsam.“ So konnte das Semester zu Ende gehen – und Bohren konnte in die Heimat fahren, nach Grindelwald.

Grindelwald im Berner Oberland – dort war Rudolf Bohren am 22. März 1920 geboren – blieb immer ein zentraler Bezugspunkt in seinem Leben. Das Dorf, im 19. Jahrhundert vom alpinen Tourismus entdeckt, liegt am Fuß von Eiger, Mönch und Jungfrau. Geistlich geprägt war das Berner Oberland in Bohrens Jugend zumindest teilweise noch von der Erweckung des 19. Jahrhunderts.

Die Geschichten aus Grindelwald gingen Bohren nie aus. Eine Predigt in Barmen-Gemarke, also in seiner Wuppertaler Zeit, begann er so:

„Mein Vater pflegte folgende Geschichte zu erzählen, nicht ohne Behagen, wie es schien: Im Gasthof am obern Gletscher in Grindelwald saß an einem Abend im vorigen Jahrhundert der Hausknecht in einer Küchenecke beim Abendbrot, als der Wirt hereinkam und ihn ohne wie teren Grund ohrfeigte. Der Hausknecht ließ sich nicht stören und fuhr fort zu essen. Dies ging offenbar dem Wirt auf die Nerven und er versetzte ihm eine zweite Ohrfeige. Der Haus-knecht aß trotzdem weiter und empfing nach einigen Minuten eine dritte Ohrfeige, ohne dass er seine Mahlzeit unterbrach. – Als er nach einer guten Weile mit dem Essen fertig war, wischte er sich den Mund und sagte: ‚So, jetz will i den o (So, jetzt will ich auch)‘, – packte den Wirt beim Kragen und tauchte seinen Kopf in den umfänglichen und vollen Eimer mit Schweinetränke, der neben dem Herd stand.“

Wie diese Geschichte den Prediger Bohren kennzeichnet, so auch deren Deutung: „Ich er-zähle diese Geschichte aus dem letzten Jahrhundert als Gleichnis für das, was wir mit Gott tun, und das, was er tun wird.“ Bohren konnte in einer Weise von dem kommenden Gericht Gottes reden, die in unserer Zeit höchst ungewöhnlich ist. Nach diesem Predigtanfang fragt man wohl nach ihrem Ende. Das geht so: „Es ist unklug, sich seinem Gott gegenüber zu be-nehmen wie der Wirt vom obern Gletscher sich gegenüber seinem Knecht benommen hat. Es ist immerhin möglich, dass sich einige von uns in dieser Hinsicht daneben benommen haben. Einige – vielleicht alle. Darum lasst uns jetzt stille sein.“ Es folgt ein Gebet mit der Bitte um Gottesfurcht. Wenn es stimmt, dass das Kennzeichen evangelischer Predigt die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist, dann konnte man bei Bohren lernen, wie diese Unterscheidung praktisch geschieht.

Rudolf Bohren war das einzige Kind seiner Eltern, geboren als sein Vater nicht mehr jung war. Die Mutter nahm er, als er nach Wuppertal berufen wurde, mit nach Deutschland. Er brachte aus seiner behüteten Kindheit ein klares Gefühl für den eigenen Wert mit. Das Freie Gymnasium Bern hat dieses Selbstwertgefühl sicher nicht geschwächt. Karl Barth hatte diese Schule besucht. Bohrens Mitschüler waren der ein Jahr jüngere Kurt Marti (1921 – 2017) und zeitweise Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990). Diese beiden muss ich hier nicht vorstellen. Ein anderer Freund war der spätere Pfarrer, Politiker und Schriftsteller Klaus Schädelin (1918 – 1987), der das Evangelische Lehrerseminar Muristalden besuchte, eine Einrichtung mit ähnlicher geistiger Ausrichtung. Schädelins Kinderbuch „Mein Name ist Eugen“, 1955 erst-mals veröffentlicht, erlebt bis heute immer weitere Auflagen, wurde verfilmt und zur Grund-lage eines Musicals. Mit allen Genannten hielt Bohren ein Leben lang zumindest lockeren Kontakt.

Dürrenmatt hat später in seinem ersten Kriminalroman „Der Richter und sein Henker“ dem Prediger Walter Lüthi, ab 1946 Pfarrer am Berner Münster, ein Denkmal gesetzt: „Endlich öffneten sich die Portale. Der Strom der Menschen war gewaltig. Lüthi hatte gepredigt.“ Es fällt auf, dass alle diese Freunde mit dem Kanton Bern und seiner Reformierten Landeskir-che in Beziehung standen. Schädelins Vater war Pfarrer am Berner Münster und Professor für Praktische Theologie und Dürrenmatts Vater Pfarrer in Konolfingen und später in der Stadt Bern. Vielleicht erklärt dieser Hintergrund, also das Milieu seiner Jugendjahre, die Tat-sache, dass Bohren mit seiner Rolle als Pfarrer, Prediger und Professor immer im Reinen war, er an der Bedeutung seiner Arbeit kaum je gezweifelt hat. Jedenfalls habe ich bei ihm nie Selbstzweifel bemerkt.

Seine Predigtlehre, die 1971 erstmals erschien, begann Bohren mit dem Satz: „Vier Dinge tue ich leidenschaftlich gern: das Aquarellmalen, das Skilaufen, das Bäumefällen und das Predi-gen.“ Über das Bäumefällen sagt er etwa: „Ein stolzer Baum, Widerstand leistend, ein klei-ner Schlachtplan wird erforderlich, ihn anzugehen, List und dann vor allem Zähigkeit; denn der Bursche kann sich wehren, es wird Augenblicke geben, wo er unbesieglich scheint, bis sein Stolz krachend niedergeht.“ Psychoanalytiker hätten gewiss ihre Freude an diesem Satz. Aber auch als analytischer Laie erkennt man das „krachende“ Selbstbewusstsein – die etwas anderes ist als Arroganz. Vom Predigen sagt Bohren sodann: „Die Seligkeit, die es eröffnet, ist nicht zu beschreiben.“

Nach der Matura studierte Bohren Theologie in Bern und Basel. Aus der Zeit in Basel resul-tierte seine Verbindung zu Karl Barth und Eduard Thurneysen. Promoviert hat er bei Oscar Cullmann. Ab 1945 arbeitete Bohren als Pfarrer, zunächst kurze Zeit als Pfarrverweser in Bern. Dürrenmatts Bemerkung über Lüthi traf zu: Wenn Lüthi predigte, zogen die Leute am Sonntagmorgen in Scharen an den anderen Kirchen vorbei zum Münster. Bohren erzählte, er habe sich darüber gefreut. Er zählte den 20 Jahre älteren Lüthi zum Kreis der Gleichge-sinnten, freute sich über dessen große Hörergemeinde und wollte von ihm lernen. Sein Selbstbewusstsein war offenbar mit 25 Jahren schon stark genug, um Lüthi, der auf der Höhe seiner Popularität stand, weder mit Neid noch mit Selbstminimierung zu begegnen.

Die erste selbständige Pfarrstelle übernahm Bohren 1947 in Holderbank-Möriken-Wildegg, Kanton Aargau. Bei einer Gastpredigt in seiner alten Gemeinde im August 1987 predigte Bohren über die Taufe mit dem Geist nach Johannes 1,33. Dabei sagte er: „Nun habe ich zwar den Himmel noch nicht offen gesehen über Holderbank, auch sah ich nichts Tauben-ähnliches herabschweben. Aber das muss nicht sein, ein Anhauch genügt; und was nicht ist, kann noch werden. Kleine Zeichen des Glaubens und der Treue habe ich gesehen, die lassen mich hoffen und ich bin gewiss: Im Glauben werdet ihr erfahren, was Jesus erfuhr. Das ist euer Geheimnis, und das kann, das darf auf Dauer nicht verborgen bleiben.“

Ein weiteres Kennzeichen der Predigten Bohrens wird hier sichtbar: Wieder und wieder spricht er seiner Gemeinde zu, dass Gottes Geist in ihr wirkt. Die unsichtbare und doch da und dort erfahrbare geistliche Wirklichkeit der Gemeinde Jesu Christi wird immer neu prä-sent, bestimmt die Beziehung von Prediger und Gemeinde.

1956 wurde Bohren nach Arlesheim im Kanton Basel-Land gewählt. Doch seine Amtszeit dort blieb kurz, denn 1958 folgte er dem Ruf auf eine Professur für Praktische Theologie an Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Eine sehr fruchtbare Zeit begann. Bohrens Kollegen wa-ren etwa der Alttestamentler Hans-Walter Wolff, der Neutestamentler Georg Eichholz, die Systematiker Jürgen Moltmann und Hans-Georg Geyer. Der Austausch mit ihnen war inten-siv. Ich erinnere mich, dass Bohren in meiner Heidelberger Zeit vor allem drei Theologen häufig zitierte: den Systematiker Hans Joachim Iwand und die Neutestamentler Ernst Lohmeyer und Georg Eichholz.

Bis 1962 war Manfred Josuttis (1936 – 2018) Bohrens Assistent. Bohren hielt große Stücke auf ihn; seinen späteren Weg, wie er etwa 1982 in „Der Pfarrer ist anders“ sich zeigte, ver-folgte er mit kritischer Sympathie. Im Jahr 1995 beim Kolloquium zum 75. Geburtstag von Bohren begann Josuttis seinen Vortrag mit den Worten: „Man hat mich gefragt, ob ich mich als Schüler von Rudolf Bohren bezeichnen würde. Ich möchte sagen: Jetzt wieder.“

Seine Veröffentlichungen als Professor begann Bohren 1960 mit einem Paukenschlag: „Un-sere Kasualpraxis – eine missionarische Gelegenheit?“. Einer Kirche, die meinte, nur noch bei Taufe, Trauung und Beerdigung den Weg zu breiteren Kreisen der Bevölkerung zu fin-den, in der auch viele Pfarrerinnen (das Wort ist allerdings in den 1960er Jahren noch fast ein Anachronismus) und Pfarrer die Rechtfertigung ihrer pastoralen Existenz in den Kasuali-en fanden, schrieb Bohren ins Stammbuch: „Die Mechanik der Amtshandlungen produziert fortlaufend Christen, die ohne Christus leben. Die Amtshandlungen bauen und erhalten eine fiktive Kirche.“ Im Vorwort zur fünften Auflage 1979 wird er ergänzen: „Die Subordi-nation Gottes unter den Menschen wird allzuhäufig gepredigt. Man muss nur sensibel ge-nug sein für die Bedürfnisse des Menschen, die Subordination unter den Menschen läßt sich leicht vollziehen. Die Kasualien stellen an uns die Frage, ob Gott in ihnen Gott bleibe, oder ob aus Gott in Zeremoniell und Rede unbemerkt ein Götze werde.“ Die kleine Schrift hat Bohren viel Kritik, aber auch hohe Aufmerksamkeit eingetragen.

1962 folgt ein Aufsatz in der Evangelischen Theologie, nicht minder provokativ, nun aber eher an das Fachpublikum gerichtet: „Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese“ . In der theologischen Landschaft dieser Zeit, die in Deutschland noch weitgehend von der Schule Rudolf Bultmanns geprägt war, konnte der „Barthianer“ Bohren seine Kritik gelegentlich etwa so formulieren: Nachdem der Pfarrer den Text historisch-kritisch beerdigt hat, soll er ihn existential wieder auferwecken. Gegen ein solches – natürlich polemisch gezeichnetes – Predigtverständnis, setzte Bohren die Predigt als Rede des Auferstandenen an seine Ge-meinde heute.

Dass Bohren deutlich zu formulieren wusste, war nach diesen beiden Schriften klar. Im Mit-telpunkt aber stand das Leben und Arbeiten mit Kollegen und Studierenden. Das Ergebnis war die schon erwähnte große Predigtlehre. Diese und der Grundriss der Praktischen Theo-logie „Daß Gott schön werde“ von 1975 erschienen allerdings bereits in seiner Heidelber-ger Zeit, denn nach einem kurzen Zwischenspiel an der Kirchlichen Hochschule Berlin von 1972 bis 1974 wurde Bohren nach Heidelberg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1988 lehrte. Im nahen Dossenheim lebte er bis zu seinem Tod am 1. Februar 2010.

In Heidelberg war Bohren auf der Höhe seiner Laufbahn. Die beiden große Bücher erschie-nen, einige Predigtbände, viele Aufsätze . Er predigte mit der Leidenschaft, die er in seiner Predigtlehre beschrieben hatte, folgte Einladungen zu Vorträgen und Predigten bis nach Japan. Und er war präsent als Seelsorger der Studierenden.

Was kennzeichnet den Prediger Rudolf Bohren? Einiges habe ich schon genannt. Ich will es hier nochmals zusammenstellen: Da ist einmal das klare Bewusstsein, gerufen und gesendet zu sein, verbunden mit einem menschlichen Selbstbewusstsein, das jede Anmaßung oder Arroganz überflüssig machte. Da ist zum anderen „Gefühl und Geschmack“ für die unsicht-bare Wirklichkeit der Gemeinde für das Handeln des Geistes Gottes nicht in einer abstrakten Kirche, sondern der wirklichen Gemeinde mit all ihren Schwächen. Das Dritte ist das Inei-nander von „Geist und Gericht“ , in der das Gericht nicht als tötendes Gesetz, sondern bei aller Schärfe als Ruf ins Reich Gottes erscheint. Das vierte Element ist das Bodenständige, die Verwurzelung in der Heimat im Berner Oberland und der reformierten Tradition dieser Heimat. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit der Bekanntschaft und manchmal Freund-schaft mit Karl Barth, Eduard Thurneysen, Kurt Marti, Friedrich Dürrenmatt, Klaus Schädelin und vielen anderen. Als fünftes wäre zu nennen das konkrete Politische. Ich kann mich nicht erinnern, dass Bohren in seinen Predigten je „politisiert“ hätte. Aber er konnte Dinge beim Namen nennen wie die Verhältnisse an der Comenius-Fakultät in Prag oder das Schicksal von „Priesterfrauen“, also den geheimen Lebenspartnerinnen katholischer Priester.

Ein Element fehlt noch, ein sehr Wichtiges: das Ästhetische. Bohrens Grundriss der Prakti-schen Theologie heißt im Untertitel „Praktische Theologie als theologische Ästhetik“. In ei-nem seiner späten Aufsätze sagt er: „Glaube ist ein ästhetisches Phänomen, ja das ästheti-sche Phänomen (schlechthin), insofern der Glaube Gott selbst wahrnimmt … Glaube ist als solcher ästhetisch, oder er ist nicht Glaube; aber er geht im Ästhetischen nicht auf, insofern Gott in seiner Offenbarung Geheimnis und unser Leben im Glauben vorläufig eine verborge-ne Existenz bleibt.“

In Bohrens Predigten ist über die Jahrzehnte hin immer wieder die Rede vom Staunen, vom Entzücken, von einer Freude ohnegleichen. Ein Beispiel zeigt das sehr schön: „Es sind keine vierzehn Tage her, da fuhren wir in Grindelwald an die Alp Itramen, wanderten an eine Stel-le, an der ich oft mit den Kindern war. Wir hatten Plastikbecher mitgenommen für den Fall, dass wir noch die letzten Preiselbeeren dieses Sommers fänden. Dann geschah es, dass die Lust des Pflückens über uns kam: Da leuchtete das Rot der Früchte an einem Sonnenhügel in leichten Trauben, da wollte ein allerkleinstes Einzelkind von Beerlein in einen Becher! Und wie ich so beim Pflücken war, überfiel mich der Text: ‚wie euer himmlischer Vater vollkom-men ist‘, und ich stand da mitten im Beerenwald und stand im Vorhof des Tempels: Die Prei-selbeeren wurden auf einmal zu stummen, runden Zeugen der Vollkommenheit.“

Das Entzücken an der Schönheit der Natur ist aber nur die eine Seite der ästhetischen Emp-fänglichkeit, die andere ist Bohrens Verhältnis zur Poesie. Immer wieder zitiert er in seinen Predigten zeitgenössische Gedichte, häufig von jüdischen Autoren und Autorinnen wie Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Paul Celan, aber auch Johannes Bobrowski und Peter Handke. Er selbst hat auch Gedichte geschrieben und veröffentlicht wie etwa 1967 in dem Band „boh-rungen“ oder 1987 in „heimatkunst“ .

Christian Möller, Bohrens Nachfolger in Wuppertal, ab 1988 dann Professor in Heidelberg, hat in seinem Nachruf auf Rudolf Bohren geschrieben, dieser sei ein „Wissenschaftler und Künstler“ gewesen . Ich denke, damit ist Wesentliches gesagt. Auch als Prediger war Bohren Wissenschaftler und Künstler zugleich. Das Künstlerische mag manches erklären, was eben auch zu dem Prediger Bohren gehörte, eine gelegentliche Schrulligkeit vielleicht, ein ander-mal einen leichten – sit venia verbo – Narzissmus. Auf jeden Fall erklärt es seine Sprachge-walt, mit der er meine Freunde und mich immer wieder fasziniert hat.

 

Predigt über Ezechiel 34, 1-16 im Universitätsgottesdienst in der Heidelberger Peterskirche am 15. Mai 1977

 

LITERATURHINWEISE

Die Agende der Niederösterreichischen Stände vom Jahre 1571, Wien/Mainz 1933.

Der Gottesdienst, sein Gehalt und sein Gefüge. Leipzig 1938 (unveröffent-licht)

Gang durch das Jahr. Predigten auf das Kirchenjahr, Stuttgart 1959.

Ders.: Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, in: Leit. 1, Kassel 1954, S. 84–361.

Christos Diakonos. Ursprung und Auftrag der Kirche, Zürich 1962.

Beistand. Die Tätigkeit des Hilfswerls der Evangelischen Kirchen in Deutschland für Vertriebene und Flüchtlinge nach 1945. Eine Dar-stellung und Dokumentation, Stuttgart 1974.

Quellen zur Geschichte der Diakonie, Bd. 1-3, Stuttgart 1960.

Autobiografie: Herbert Krimm. Im zweiten Glied. Ereignisse und Erinne-rungen aus drei Vierteln eines Jahrhunderts, niedergelegt für Kinder und Enkel, I. Bd-1905-1945.; 2. Bd.: 1945-1980, o.J., Typoskript im Privatbesitz sowie im DWI Heidelberg.


 

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Letzte Änderung: 29.07.2021
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