100 Jahre Praktisch-Theologisches Seminar

Johannes Ehmann | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

Dittenberger
Porträt von Theophor Wilhelm Dittenberger(Quelle: https://heidicon.ub.uni-heidelberg.de/detail/3348)
Stadtkirche und Fakultät - von Anfang an miteinander verwoben: Theophor Wilhelm Dittenberger (1807-1871), Stadtpfarrer an der Heiliggeistkirche und ab 1838 Universitätsprediger neben Richard Rothe.

 

Wenn das praktische-theologische Seminar der Universität am 25. Januar 1838 durch Erlass der Staatsregierung ins Leben gerufen wurde, dann ist diese Gründung zunächst einzuzeichnen in die Geschichte der praxisorientierten Seminargründungen an der (nach 1803) neuorganisierten Universität Heidelberg im sich selbst (neu) organisierenden und konstituierenden badischen Staat nach 1803 bzw. 1806. Zu erwähnen ist das Philologisch-Pädagogische Seminars 1807, das der Etablierung des Lehrerberufs dienen sollte. Wesentlich waren hier (neben denen Friedrich Creuzers) die Impulse des Theologen Friedrich Heinrich Christian Schwarz. Die berufliche und akademische Differenzierung führte zwar bereits 1811 zur Aufspaltung des philologischen und pädagogisch-katechetischen Bereichs (letzteres unter Schwarz), aber auch zum Entschluss des (damals zuständigen) Innenministeriums, dass auch ein „theologisch-homiletisches“ Seminar eingerichtet werden solle.

Wenngleich die Einrichtung dieses Theologisch-homiletischen Seminars auch von der eines Katechetischen Seminars begleitet wurde, so sind beide doch offenbar als nicht genügend beurteilt worden; nicht wegen mangelnder Kompetenz der Professoren, sondern aufgrund des zu geringen Lehrangebots. Dennoch zeigt dies, dass die Besinnung auf eine dezidiert prak¬tische Ausbildung der Theologen (in bzw. neben dem Studium) historisch weiter zurückreicht, als bisher wahrgenommen.

Dass die Frage der praktischen Bildung der Pfarrer angesichts einer keineswegs zu verachtenden Heidelberger akademischen Theologie unausweichlich war, zeigt das Beispiel des hessischen Theologen und dann badischen Prälaten Ludwig Hüffell (1784-1856). Dieser wurde nach Pfarrdiensten in Gladenbach und Friedberg 1825 Professor am nassauischen Seminar in Herborn, wofür er sich offenbar durch seine praktisch theologischen Arbeiten empfohlen hatte. Diese umfassten einen Katechismus und zwei weitere Werke: Bereits 1818 hatte Hüffell eine Programmschrift Die Schule der Geistlichen, oder Ansichten und Vorschläge, eine zweckmäßige Erziehung des evangelischen Geistlichen betreffend, vorgelegt. Darüber hinaus hatte Hüffell 1822 das später in vier Auflagen erweiterte Handbuch der praktischen Theologie in ihrem ganzen Umfange unter dem Obertitel Über den Beruf des evangelisch-christlichen Geistlichen veröffentlich, also ein Lehrbuch der Praktischen Theologie aus den pastoralen Handlungen des Pfarrers entwickelt. Dass Hüffell sich in der Katechismusfrage wie in der Pastorallehre profiliert hatte, dürfte der wesentliche Grund gewesen sein, ihn 1826 nach Karlsruhe zu berufen und 1829 zum Prälaten zu bestimmen.

Hüffell erörterte die Frage geeigneter Ausbildungsstätten der Praktischen Theologie nicht, aber sie war in seinem Werk angelegt: Denn Praktische Theologie war Anwendung der reinen Theologie und zugleich notwendig wandelbar gemäß den Anforderungen der Gemeinde. Für die pastoraltheologische Frage im engeren Sinne bedeutete dies: Die Persönlichkeit des Geistlichen war von einem notwendig wissenschaftlichen, dann aber auch von einem religiös-sittlichen Standpunkt zu betrachten, der den Pfarrer in allen Handlungsfeldern, den Pfarrer und das Gemeindeglied in allen Lebensbezügen bedachte. Eine Ausbildung dazu gab es in Baden an der Universität aber zweifellos nicht.

Das Weitere lässt sich wieder leicht anhand des ausführlichen Berichtes verfolgen, den der Abgeordnete und Pfarrer an der Mannheimer Konkordienkirche Karl Ludwig Winterwerber (1801-1856) als damals 33jähriger Kommissionsberichterstatter über die Errichtung einer Anstalt für die praktische Ausbildung angehender Geistlichen vor der badischen General¬synode 1834 vorgetragen hat. Danach waren drei Initiativen wahrzunehmen, die den Synodalverhandlungen vorausgingen.

 

1. Der Antrag auf Errichtung eines praktischen Instituts aus den Kirchenbezirken Bretten, Gochsheim, Karlsruhe und Rheinbischofsheim mit Kork;

 

2. der Antrag des Synodalen Pfr. Tobias Daniel von Langsdorff an die Synode, der die noch zu erörternde Motion des Prälaten Hüffell an den Landtag (erste Kammer) begleitete;

 

3. diese Motion von 1831 selbst, die in beiden Kammern des Landtags beraten wurde.

 

Dem Gedanken einer „praktischen Ausbildung“ konnte man im Landtag grundsätzlich beitreten. Allerdings hegte man erhebliches Misstrauen einer kirchlich geführten Anstalt. Einträchtig befürworteten Landtag und Theologische Fakultät eine staatliche Institution, die der Heidelberger Fakultät angegliedert werden sollte – ein Beschluss, der Hüffells Gedanken schlichtweg ignorierte.

So zerschlug sich bspw. der kirchliche Plan, in Bretten als einer kleinen Landstadt, ein Predigerseminar zu begründen, das von der Kirche geleitet und in dem praktisch gebildete Pfarrer unterrichten sollten: ein „Melanchthonianum“ zur Ehre des gebürtigen Bretteners Philipp Melanchthon.

Aber auch der Liberale Theophor Wilhelm Dittenberger (1807-1871), Schwiegersohn Carl Daubs bedachte den Plan eher mit Spott und nannte die Inanspruchnahme Philipp Melanchthons einen „Deckmantel“. Die Dozentur von Pfarrern an einem dortigen Seminar verwarf er.

So standen 1835 zwei Positionen gegeneinander: Was den einen sittliche Praxis war, schien den anderen unwissenschaftlich; was den einen notwendiger Abschied vom Studentenleben, war den andern Zwang in eine Spezialschule, was den einen Grundlegung der Sittlichkeit, war den andern Beendigung des wissenschaftlichen und geselligen Verkehrs, was den einen als Formung, Bildung des Geistlichen nötig erschien, war den andern eine quasi mechanische Charakterformierung bzw. deren Produkt, ein „Fabrikat“. Durchgesetzt haben sich Staat und Fakultät.

Mit der Errichtung des PTS in Heidelberg 1838 ist keineswegs Ruhe eingekehrt. Zum einen ist festzustellen, dass die Evangelische Kirchensektion und Hüffell selbst nicht klein beigaben. Zum andern sekundierte ihm jetzt der konservative Ministerialrat Karl Bähr (1801-1874), später das erste Opfer des liberalen Umschwungs in Baden. Er forderte erneut die Verlegung des PTS weg von Heidelberg und die Errichtung eines eigenen Konvikts (Gebäude), da es vor allem „auf Gewöhnung an ein ernstes, religiöses Leben, wie es einem Geistlichen, als Seelsorger und Vorbild seiner Gemeinde, ziemt“, ankomme (Hof, 72). Hier war ein neuer, scharfer Zungenschlag zu hören, der die sich anbahnende Diskussion des Bekenntnisbegriffs betrifft. Es ging nicht mehr nur um Praxis oder Sittlichkeit, sondern um kirchliche Integration. Bähr führte aus, „(e)s bedürfe zwischen Studenten- und Amtsleben einer Brücke, einer Vermittlung [!]; das könne aber die Universität nicht sein, weil sie den Seminaristen in einem Leben festhalte, aus dem er sich gerade lösen solle … Die Universitätsprofessoren seien wohl gute Gelehrte, aber deswegen doch nicht gute Praktiker, hätten zudem mit dem praktischen Amt meist nichts zu tun gehabt und seien darum nicht voll befähigt zur Einführung in den praktischen Beruf.“ Und darüber hinaus: „(D)er Kirche, die ihr bestimmtes Bekenntnis hat, kann es … nicht gleichgültig sein, wenn ihre zukünftigen Diener gezwungen sind, sich von Lehrern der verschiedensten, dem kirchlichen Bekenntnis manchmal geradezu widerstrebenden Richtungen auf das Kirchenamt vorbereiten zu lassen“ (ebd.).

Der spätere Seminarstreit unter Daniel Schenkel (1813-1885) zeichnete sich quasi schon ab, wenn Bähr noch eins drauf setzte: „So sei die Universität überhaupt nicht der geeignete Ort für ein Seminar, so gelte das besonders auch von Heidelberg, dem Eldorado ‚des Studentenlebens‘. Kein Ort vielleicht im ganzen Land sei so ungeeignet für ein Predigerseminar wie Heidelberg mit seinem ‚religiösen Indifferentismus‘“ (Hof, 73). Das Schlussvotum der Synode suchte die direkte Konfrontation mit der Staatsregierung offenbar zu vermeiden und empfahl „diesen Gegenstand der Weisheit Eurer Königlichen Hoheit zur gnädigsten Erwägung unter Bezug auf den obengenannten Kommissionsbericht“ (ebd.).

Großherzog Leopold handelte tatsächlich schnell und wies das Innenministerium an, erneut das Gespräch mit der Kirchenleitung zu suchen, die sich mittlerweile von einer Evangelischen Kirchensektion des Innenministeriums zum Oberkirchenrat gemausert hatte. Hüffell wurde erneut um eine Stellungnahme gebeten. Der Prälat blieb darin sachlich, aber schneidend bestimmt. Unabhängig von einer Einzelbewertung wird man wohl aussprechen müssen, dass in der Sicht des EOK das Verhältnis von Seminar und Fakultät kein mehr ergänzendes, sondern gegensätzliches zu werden drohte, oder schon geworden war. Hüffells Vortrag gipfelte in der Forderung eines PTS nach den ursprünglich intendierten Zwecken (eines kirchlichen Predigerseminars) aufgrund der zu beobachtenden Unklarheiten der Theologie und der weiterhin fehlenden kirchlich-praktischen Ausbildung: „Diese war nämlich in ihrer bisherigen Richtung für den Diener der Kirche nicht nur großenteils völlig unbrauchbar, sondern für dessen eigentlichen Beruf zerstörend, und man mußte aufhören, ein Theologe zu sein, um ein Geistlicher werden zu können; ja es geht so weit, daß wir im gegenwärtigen Moment, wo doch ein besserer Geist in der Wissenschaft begonnen hat (Vermittlungstheologie!), noch kein wissenschaftlich gültiges System der christlichen Glaubens- und Sittenlehre besitzen, daß jeder Professor der Theologie nur für sich und seine Interessen operiert, unbekümmert, was daraus hervorkommen mag, und daß also der angehende Geistliche völlig ratlos in sein Amt treten würde, wenn ihn die praktische Theologie nicht bestimmte, in der Kirche und ihrem Glaubensbekenntnisse einen Anhaltspunkt zu finden.“ (Hof, 74).

Hüffell beklagte erneut, dass kein kirchliches Institut in Bretten errichtet worden sei, und resümierte: „In dieser Weise hat sich denn auch das Predigerseminar in Heidelberg nicht als zweckmäßig bewährt, und man kann bei der strengsten Unparteilichkeit vor Gott und den Menschen, welche genauer mit den Verhältnissen bekannt sind, von keinem Segen reden, welchen diese Anstalt der Kirche gebracht hätte, obgleich damit den Personen, welche dabei wirken, nach ihren ursprünglichen Bestimmungen, als Universitätslehrer, schlechthin kein Vorwurf gemacht werden soll. Nicht die Personen sind es, sondern die Verhältnisse, welche eine Veränderung dringend notwendig machen“. Und wenig später: „So müssen wir diese Anstalt in ihrer bisherigen Weise für nicht geeignet, ihrem beabsichtigten Zwecke zu entsprechen, erklären und können uns bei ihrem Fortbestand in dieser Richtung nicht länger beruhigen.“ (Hof, 74f).

Das schien eine Kampfansage zu sein, doch der Kampf blieb aus. Der Grund hierfür liegt einerseits in den Zugeständnissen an die Kirche und andererseits in der Berufungspolitik. Das eine Zugeständnis lag darin, das der Gedanke eines Konviktes, der ja auch für die künftigen Kandidaten von hoher wirtschaftlicher Bedeutung war, in den Seminarstatuten unter § 16 „in Aussicht“ genommen worden war, was aber 120 Jahre Makulatur bleiben sollte. Das andere waren Person und Persönlichkeit Richard Rothes (1799-1867).

Bei der Berufung zum Seminardirektor war er nicht die erste Wahl gewesen. Vielmehr hatte Baden versucht, einen der liebenswürdigsten preußischen Theologen, nämlich Carl Immanuel Nitzsch zu gewinnen. Nitzsch (1787-1968) gehörte zu den wichtigsten Vermittlungstheologen, war seit 1817 Direktor des Predigerseminars in Wittenberg gewesen und wirkte seit 1822 in Bonn am Praktischen Seminar, war also der richtige Mann mit der notwendigen Erfahrung. Doch Nitzsch lehnte ab. An seiner Statt kam nun Rothe, der ebenfalls vom Wittenberger Seminar, nämlich dem dortigen Seminarlehrer (ab 1832 Seminardirektor) Heinrich Heubner (1780-1853), einem Erweckten, stark geprägt war – und es blieb. Rothe wurde am 27. April 1837 berufen, also noch vor Erlass der Seminarstatuten, an denen er offenbar selbst mitgewirkt hat.

Im Januar 1838 war das PTS rechtlich ins Leben gerufen worden; eröffnet wurde es am 18. Mai 1838. Zwischenzeitlich vollzog sich auch die Berufung der Fakultätsprofessoren für die einzelnen Fächer. „Herr Stadtpfarrer [und a.o. Prof.] Dr. Dittenberger … war zum zweiten Lehrer und Universitätsprediger ernannt worden, und auch die übrigen Mitglieder der theol. Facultät hatten sich gern bereit erklärt, den Unterricht in den einzelnen Fächern zu gestalten.“ (Daniel Schenkel, Bildung 105).

D.h. dass der Stadtpfarrer an Hg. Geist sich offenbar sehr wohl das zutraute, was er für Bretten beargwöhnt hatte, nämlich die Verbindung von Pfarramt und wissenschaftlicher Ausbildung. Zum andern erfahren wir also etwas von einem im Rang zweiten Universitäts¬prediger, der erste, zeitlich wie im Rang ist also Richard Rothe gewesen. Doch war es m.W. Dittenberger, der in seiner Studie zur Heidelberger Universitätsgeschichte (seit) 1804, die 1844 erschien, als erster voller Stolz den Titel „Universitätsprediger“ auch im Buchtitel anführt – übrigens noch vor dem Titel eines Lehrers am „ev.-prot. Seminarium in Heidelberg“.

Rothe nun veröffentlichte zur Einweihung des Seminars eine Denkschrift, mit dem Titel Warum fühlt die deutsch-evangelische Kirche gerade in unsern Tagen das Bedürfniß von Predigerseminarien? Die Schrift war Programm, indem nicht nur die Geschichte der bisher entstandenen Seminare – also ähnlich der Schrift Dittenbergers nur wenige Jahre zuvor – angerissen, sondern erläutert wurde, was ein Seminar zu leisten habe. Die Zielsetzung dieses Vaters des Liberalismus klingt geradezu erwecklich, ja pietistisch. Ein Teil der praktischen Irenik dieses Liberalen und dieses liberalen Programms liegt zweifellos in seiner Fröm¬migkeit, welche die Kandidaten, es waren anfänglich neun, zu beeindrucken wusste. Frömmigkeit, theologische Überzeugung und kirchlicher Geist waren die Trias seines Programms, in klarer Betonung der Frömmigkeit:

„Im Schooße einer solchen frommen Vereinigung [scil. des Seminars] können … die ersten zarten Keime des christlichen Lebens, die ohne eine sie zeitigende Athmosphäre und Pflege die harte Hülle des alten Menschen nicht würden durchbrechen können, ans Licht hervordringen. Hier kann die christliche Erweckung in ihrem Verlauf … so geleitet werden, daß ein gesunder und sittlich kräftiger Glaube an den Heiland aus ihr geboren wird. Hier kann die junge Pflanze des Glaubenslebens von früh an von den Auswüchsen der Unlauterkeit gereinigt werden, durch welche sie so leicht verkrüppelt. Hier kann die anfangs noch so haltungslose und in die Macht des sich selbst unklaren Gefühls gegebene Herzensfrömmigkeit in die erste Schule der Heiligung durch Selbstverläugnung und Thätigkeit in Liebe und Gehorsam eingeführt und so zu sicherer und wirksamer Gesinnung erhoben werden.“ (Rothe, Denkschrift, 11f).

Was nun von den Liberalen seit Jahren befehdet worden war und immer wieder bekämpft worden ist, war die (verordnete) vita communis als Lernfeld öffentlicher, d.h. bürgerlicher Frömmigkeit. Rothe nun hatte das Charisma, das man ihm abnahm, es tolerierte und wert¬schätzte, wenn er von „evangelischer Klösterlichkeit“ sprach. Ein Kloster hatte man ja nie gewollt und schon beim „Konvikt“ Bedenken gezeigt. Doch Rothe gelang es, den Begriff mittels einer authentischen Spiritualität zu erfüllen, die in gewisser Weise „raumgreifend“ war und eine Atmosphäre von Ernst und Ergriffenheit schuf. Dennoch oder gerade deshalb scheint gerade Rothe dem Gedanken eines „Internats“ immer verpflichtet gewesen zu sein. Und ihm hat man das offensichtlich nicht übel genommen.

Rothe verließ das Seminar 1849 Richtung Bonn, um später als Systematischer Theologe nach Heidelberg zurückzukehren. Sein Nachfolger – nach einjährig kommissarischer Leitung Dittenbergers – wurde 1850 Daniel Schenkel (1813-1885), der hochverehrte und vielgeschol¬tene, der „Kirchenpolitiker und Agitator“ (Reinhard Ehmann), der in seiner Denkschrift zum 25. Jubiläum des Seminars (1863) schon die zeitgenössischen Konflikte in die Form seiner Seminargeschichte einfließen lässt. Sein Vokabular war ein anderes als das Rothes, ihm ging es um „Wissenschaftlichkeit“ und „Überzeugungstreue“ gegen „Symbolzwang“. Was er darunter verstand, brachte ihn, den ursprünglich, bis in die frühen 1850er-Jahre konservativen Schweizer und später erzliberalen Theologen ins Zentrum kirchenpolitischer Auseinanderset¬zungen.

1849 trat Schenkel die Nachfolge Rothes an. Allgemeines und Spezifisches führten dann das Seminar binnen 15 Jahre in die Krise. Zu den allgemeinen Umständen gehört die badische Revolution und die ihr folgende Reaktionszeit, welche für die kurze Zeit der Prälatur Carl Ullmanns (1853-1861) den kirchlichen Integralismus stärkte und eine konservative Vermittlungstheologie stärkte, deren Höhepunkt die Generalsynode von 1855 bildete.

Zum Spezifischen zählt, dass die von Hüffell niemals aufgegebene Kritik an der Staatlichkeit des PTS, der Mangel eines Konvikts und die theologische Ausrichtung des Seminars auch von Ullmann in vollem Umfang geteilt wurde, wobei die evangelische Kirche weiterhin an der Haltung des Staates scheiterte. Der Kampf zwischen Kirche und Staat um das Seminar, den Rothes Charakter gedeckelt hatte, drohte zu eskalieren. Der politische Druck der Reaktion und Ullmanns versöhnlicher Geist hielten die Verhältnisse aber noch in der Schwebe.

Zum gewichtigsten Spezifikum zählt nun freilich Daniel Schenkel selbst. Frommel nennt ihn einen „unruhigen, aktivistischen Geist“ (Frommel, 31). Das war er auch. Man mag ihn „entwicklungsfähig“ nennen oder auch nur „machtbewusst“ – jedenfalls hat der frühe Heidelberger Schenkel sich zunächst im konservativen Feld bewegt und war einer der Propagandisten gegen den Heidelberger Philosophen Kuno Fischer, der im unrühmlichen Heidelberger Pantheismusstreit 1853 der Universität verwiesen wurde. In dieser Zeit hat sich der Seminardirektor Schenkel auch noch ganz im Geiste Hüffells bzw. Ullmanns für eine kirchliche Bindung des Seminars ausgesprochen.

Demgegenüber hielt der zwischenzeitlich nach Heidelberg zurückgekehrte Rothe 1855 als Mitglied der Generalsynode an der gegebenen Struktur fest.

Die Kulmination, ja Eskalation ereignete sich nach der politischen und kirchenpolitischen Wende in Baden, der sog. Neuen Ära des Jahres 1860, die 1861 auch zum Sturz des vermittlungstheologischen Kirchenregiments Ullmanns führte und den kirchlichen Liberalis¬mus ein Vierteljahrhundert zur Herrschaft brachte.

Die Kritik erlosch nicht. Noch und wieder beschloss die Diözesansynode Neckarbischofsheim 1862, dass „das Predigerseminar aus einer Staatsanstalt zu einer Anstalt der Kirche erhoben werden sollte“; doch – nun ganz gegen den Geist Hüffells – vertrat der Oberkirchenrat nun die Auffassung, dass die kirchlichen Rechte in den bisherigen Strukturen gewahrt seien (VBl IX (1863), 63).

Die Kulmination erfolgte, als Schenkel 1863 seine bereits genannte Denkschrift anlässlich des 25jährigen Bestehens herausgab. Das Stiftungsfest am 3. Juni 1863 war selbst ein Hochfest des Liberalismus, bei dem die Hauptvertreter des politischen und kirchlichen Liberalismus zusammentrafen.

Schenkels Wende zur liberal-staatlichen Auffassung des Seminars fand sich nun wieder in den 6 Punkten seiner Seminar-Programmatik:

 

– „organische Verbindung mit der Universität,

– Direktor zugleich ordentliches Mitglied der Fakultät [womit Schenkel sich quasi selbst der Fakultät inkorporierte]; deren Mitglieder gleichzeitig Lehrer im Predigerseminar.

– Unabhängigkeit von der Kirchenbehörde.

– Vermittlung der wissenschaftlichen Probleme mit den Aufgaben des praktisch-kirchlichen Lebens.

– Von jedem Gewissensdruck freie Behandlung der Zöglinge.

– Erhaltung des freien protestantischen Geistes.“ (Frommel, 41f).

– Gegen die Errichtung eines Konvikts sprach Schenkel sich aus (Schenkel, Bildung, 140).

 

Die weitere Entwicklung zeigt aber, dass Schenkel, wie viele Aufklärer und Liberale, in der Propagierung des freien protestantischen Geistes (nach seinem Verständnis) die Stimmung des Kirchenvolkes, gerade der einflussreichen Erweckten falsch einschätzten, vielleicht im Überschwang angesichts der Neuen Ära in Staat und Gesellschaft. Aus der Sicht der Konservativen wurde das Seminar jetzt zu einer Art liberaler Kaderschmiede, welche die Kandidaten der gemeindlichen Religiosität (wiederum nach deren Verständnis) entfremdeten. Erfuhr man dieses nicht gerade im Kampf gegen den Ullmannschen Katechismus und die Klärung des Bekenntnisstandes, wie sie 1855 erfolgt war.

Zur Eskalation kam es im sog. Schenkelstreit nach 1864, der auch die Geschichte des Seminars berührt. In diesem Jahr gab Schenkel sein berüchtigtes „Charakterbild Jesu“ heraus, ein wissenschaftlich nicht eben bedeutendes Werk, das auch von Liberalen kritisiert wurde. Kurz gesagt war Schenkels Werk einzuzeichnen in die Geschichte der Historisierung und Ent¬mythologisierung Jesu. Die Folge war eine sachlich teils angemessene, teils aber auch völlig überzogene Kritik vor allem der Erweckten, die sich in einer Fülle von Eingaben an den Großherzog niederschlug. Ziel der Kampagne war die Entlassung Schenkels aus seinem Amt als Seminardirektor. Schenkel hat diese kirchenpolitische Krise überlebt. Doch der Preis war hoch.

Rückblende: Ganz im Geist der „Neuen Ära“ hatte der Staat mittels Gesetz vom 9. Oktober 1860 die staatskirchenrechtlichen Verhältnisse neu geregelt. An die sich nun abzeichnenden (relativen) Trennung von Staat und Kirche hatten sowohl Konservative wie Liberale große Hoffnungen geknüpft. Die Angelegenheiten der Kirche in relativer Staatsfreiheit zu ordnen, war nicht nur Anliegen der Liberalen gewesen. Gerade aus konservativer Sicht wäre ja nun die Gelegenheit gegeben gewesen, auch das Predigerseminar in dem Sinne zu ordnen, wie es einem Hüffell oder Ullmann vormals vorschwebte. Es ist dem damals noch virulenten Staatsoptimismus gerade der Liberalen zuzuschreiben, dass dieser Weg nicht begangen wurde, sondern – 1866 sogar von Rothe – der status quo damit begründet wurde, dass allein so die Staatsdotierung des Seminars aufrecht zu erhalten sei. Frommel hat auf den Kardinalfehler dieses Denkens aufmerksam gemacht, 1938, als man die kirchen-politischen Gefahren klarer vor Augen hatte.

Mit dieser neu gewonnenen Eigenständigkeit der Kirche einerseits und der Aufrechterhaltung des status quo des Seminars (und seines Direktors) schürzte sich der Knoten – zum Schaden des Seminars.

Denn die mit der Schenkel-Frage befasste liberalste Synode der badischen Kirchengeschichte samt EOK sprachen sich gegen eine Entlassung Schenkels aus. Die Lösung des Problems erfolgte weniger theologisch als rechtlich; denn nun erwies sich die vorgenommene Aufrechterhaltung des staatlichen Charakters des Seminars als mit dem neuen Staatskirchen¬recht, dass die Belange der Kirche in Ausbildungsfragen schützte, nicht mehr vereinbar. Konservative Kritik damals wie heute wird mit einem gewissen Recht formulieren, dass in der Tat EOK und Synode hier staatliche Belange verfochten, die freilich theologisch und kirchenpolitisch unterfüttert waren. So also blieb nur die rechtliche Lösung der Aufhebung des 1838 noch festgeschrieben Seminarzwangs. Kein badischer Theologe musste nun mehr das Seminar besuchen. Für die Liberalen eine nie recht erkannte Niederlage; für die „Positiven“, wie es damals teils hieß, ein unvollständiger Sieg. Aus heutiger Sicht für die praktisch-theologische Ausbildung ein herber Verlust, da damit dem seit Zimmers Überlegun¬gen gehegten Grundgedanken einer praktischen Ausbildung als Bedingung geistlichen Dienstes und Bildung pastoraler Existenz ein faktisches Ende bereitet wurde.

Die Zahl der Kandidaten sank bisweilen auf 4; ein Konvikt war – von den Liberalen ja nie recht gewollt – ohnehin in weite Ferne gerückt. Durch Gesetz bzw. ministerielle Verordnung vom 17. Oktober 1867 wurde die Verhandlungsmasse „Praktisches Seminar“ in das „Evangelisch-protestantische theologische Seminar der Universität Heidelberg“ überführt, in dem – nach dem Ende des theoretischen Studiums in 5 Semestern – die Theologiestudenten durch praktischen Unterricht auf die „Führung des evangelisch-protestantischen Predigt¬amtes“ vorbereitet wurden (§ 1 der neuen Ordnung). Die kirchliche Seite war nicht mehr im Spiel; der nunmehr wieder konservativer agierende Oberkirchenrat, wurde 1883 gleichsam abgestraft, indem er von der Berufung Heinrich Bassermann (1849-1909) in das Amt des Seminardirektors aus der Zeitung erfuhr. An kirchlichen Rechten war ohnehin nur geblieben, dass die Landeskirche nach vorheriger Genehmigung Einsicht vom Stand des Seminars, Mitteilung der Kandidatenliste und Kenntnisnahme der Semestralberichte erhielt.

Um einer möglichen Verwirrung zu entgehen: Wir reden, wenn wir vom PTS reden, vom Praktisch-theologischen Seminar nicht von einem Predigerseminar, schon gar nicht von einem Konvikt. Wir reden allein von der institutionellen Verortung der praktischen Theologie innerhalb des Gesamtstudiums. Etwas mehr Luzidität entstand mit der Neustrukturierung der Fakultät im Jahre 1895. Jetzt wurde bestimmt: „An der Universität Heidelberg besteht neben einem in verschiedene Abteilungen [Disziplinen] gegliederten rein wissenschaftlich-theologischen Seminar ein evangelisch-protestantisches praktisch-theologisches Seminar für die Studierenden der Theologie an dieser Hochschule.“ Unser Praxisbegriff ist das nicht, und ebenso wenig war dies der ursprüngliche Leitgedanke der pastoralen Bildung vor nunmehr bald 80 Jahren. Aber dennoch hatte sich mittlerweile ein entscheidender Wandel vollzogen.

Erneut eine historische Reminiszenz: Zum einen die multiple Krise der Heidelberger Fakultät: Nach der Reichsgründung und der Angliederung des Elsass war die Fakultät in eine tiefe Krise geraten, die sich in katastrophalen Belegungszahlen niederschlug. Das Bonmot des 1876 als a.o. Professor, dann 1880 auf den Praktisch-theologischen Lehrstuhl in Heidelberg berufenen Heinrich Bassermann, in seinen Anfangsjahren seien auf einen Professor je ein Student gekommen (Frommel, 36), macht das anschaulich. Die Gesamtzahl der Theologie-studenten bewegte sich im niederen zweistelligen Bereich, die der badischen Kandidaten im niedrigen einstelligen. Faktisch spielte Heidelberg als Landesuniversität für die evangelische Kirche eine nur noch untergeordnete Rolle. Zum einen genoss Heidelberg den Ruf brillanter, aber eben fast nur liberaler Theologie (Holsten, Holtzmann, Merx, Schenkel, später Hausrath), zum andern erfuhr Heidelberg durch die starke Privilegierung der neu begründeten Universität Straßburg im „Reichsland Elsass“ einen empfindlichen Aderlass (z.B. Heinrich Holtzmann).

Die „positiv“ geprägten Familien – damals noch stammte ein Großteil der Theologiestudenten aus einem badischen Pfarrhaus – schickten ihre Söhne in die „positiven“ Fakultäten Erlangen, Greifswald oder Halle. Diese Krise waren für Staat und Kirche unübersehbar.

Wieder war es die Kompetenz und vor allem Persönlichkeit eines Theologen, die neue Wege wiesen. 1883 übernahm Bassermann in der Nachfolge Schenkels die Seminardirektion. Was strukturell im Argen lag, hat er durch seine Vertrauen schaffende Persönlichkeit beseitigt, gepaart mit vielseitigen Interessen, insbesondere an den lang vernachlässigten liturgischen, aber auch katechetischen Fragen, die er in Studien zu Gottesdienst und Katechismus explizierte. Vor allem aber als Homiletiker und Mitherausgeber der „Zeitschrift für praktische Theologie“ ist er bekannt geworden. War sein Prinzip das der Versöhnung von Theorie und Praxis, so war mit Praxis nun in der Tat und explizit die kirchliche Praxis gemeint. Klar ist freilich, dass Bassermann damit „praktisch“ (im mehrfachen Sinne) die o.g. Richtlinien sprengte, nach denen die praktische Ausbildung v.a. in „Besprechungen von wesentlich praktischem Charakter über Dogmatik“ bestehen sollte. Bassermann selbst wurde seinen Kandidaten Lehrer, Seelsorger und Anleiter zur geistlichen Existenz im Dienst der Kirche. Das war es, was er unter „Versöhnung von Theorie und Praxis“ verstand.

Wie seine Vorgänger Rothe und Schenkel hat er seine Prinzipien in einer Fest- und Denk¬schrift niedergelegt – 1899 im Gedenken an den von ihn hochverehrten Richard Rothe. Auch Bassermann war fraglos ein Liberaler, aber von anderem Schlag und Charakter als sein Vorgänger. Im Grunde war er ein liberaler Vermittlungstheologe: Er betonte den Ausgleich von Freiheit und Ordnung, sowie die Versöhnung von Theorie und Praxis sowie von Theologie und Kirche.

Leopoldstraße
Die Leopoldstraße (heute Friedrich-Ebert-Anlage) im Jahr 1911 auf Höhe der Hausnummern 27-33; bis etwa 1884 befand sich das Praktisch-Theologische Seminar in der Privatwohnung von Daniel Schenkel, Hausnummer 37. (Quelle: Stadtarchiv Heidelberg, 8303723)

 

Die Neugliederung von 1895 nutzte Bassermann dazu, verstärkt Praktiker des kirchlichen Dienstes in das Seminar zu integrieren. Als wichtigstes Beispiel mag der Pfarrer an Hg. Geist, Adolf Schmitthenner (1854-1907) gelten, der (mit den Worten Otto Frommels) „nicht nur gründliche theologische Bildung, pastorale Erfahrung, tiefgegründete christliche Persönlich¬keit, sondern auch die Gabe des dichterischen Ingeniums mitbrachte, wodurch er auch dem trockensten Lehrstoff die kräftige Farbe des Lebens und der Anschauung zu verleihen vermochte.“ (39). Schmitthenner war ein Dichterpfarrer, der sich auch dem damals beliebten Genre des Gelehrten- oder Professorenromans widmete. Sein bekanntestes Werk ist das schaurig-schöne, aus heutiger Sichte etwas schwülstige Werk Das deutsche Herz (1907), das vom schlimmen Geschick derer v. Hirschhorn im 16. und 17. Jahrhundert handelt, ein auch kirchengeschichtlich durchaus lesenswertes Buch, das mind. 89.000 mal gedruckt wurde. Auf Schmitthenner folgte der ehemalige Karlsruher Seminarlehrer Otto Frommel (1871-1951).

Heinrich Bassermann starb im Sommer 1909 in den Schweizer Bergen. 1909 war das Jahr, in dem auch die Professoren Hausrath und Merx starben. Die gemeinsame Gedächtnisfeier in der Peterskirche für alle drei kurz nacheinander verstorbenen Professoren dürfte eine der bedrückendsten Feiern gewesen sein, welche die Peterskirche je erlebt hat. Bassermanns Rolle als wesentlicher Neubegründer der Heidelberger Universitätsgottesdienste ist indirekt von dem eben genannten Otto Frommel gewürdigt worden, der die „Akademische(n) Predigten“ Bassermanns 1911 unter dem Titel „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst?“ postum herausgab.

Nachfolger Bassermanns wurde der aus Lahr stammende Johannes Bauer (1860-1933), Großvater des Heidelberger und Mainzer Gelehrten Gustav Adolf Benrath d.J. Hatte Bassermann das Charisma der Liebenswürdigkeit und Kompetenz besessen, so Bauer das der Achtbarkeit und Autorität.

Bauer kam über das badische Pfarramt und Privatdozentur in Marburg nun von einer Praktischen Professur in Königsberg wieder nach Heidelberg, wo er Schüler Bassermanns gewesen war. „Bei seiner Berufung“ – so Otto Frommel – „hatte der damalige Oberkirchenratspräsident D. Helbing entscheidend mitgewirkt – ein Beweis dafür, daß ein starker Kirchenführer sich in solchen Fällen Gehör und Einfluß zu verschaffen wußte.“ (Frommel, 42).

Bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Charaktere wollten sie beide dasselbe, ohne dass man Bauer zum Epigonen herabwürdigen darf. Wie sein Lehrer versuchte Bauer, theologische Gegensätze durch Bildung zu überbrücken, Kultur und praktische Ausbildung miteinander zu vermitteln. Dazu kam bei ihm im Seminar die Ausbildung im Kirchenrecht, Geistlicher Musik und auch Diskussion aktueller kirchenpolitischer Fragen. Berühmt, vielleicht auch berüchtigt waren nun die beiden Seminarorgeln für die Kandidaten in der Schulgasse 2, wo das Seminar seinerzeit seinen Sitz hatte.

Wie Bassermann engagierte sich Bauer spürbar in den Gremien der Landeskirche. Die ehemalige Kluft zwischen kirchlichem Seminar und Staatsanstalt war nicht geschlossen, aber faktisch durch die Arbeit des Direktors nicht mehr spürbar. Bauer war vor allem an agendarischen Vorarbeiten beteiligt (1909). Sein 1915 veröffentlichtes Lehrbuch „Zur Geschichte des Bekenntnisstandes“ der badischen Kirche sowie seine Dokumentation „Die Union 1821“ (1921) waren als Quellenbände zum Studium der badischen KG gedacht. Aus heutiger Sicht sind sie überholt, zumal man den nationalliberalen Geist in seiner Kommentierung auch von Parteilichkeit nicht ganz freisprechen kann. Besondere Aufmerksamkeit kann heute noch sein politisch konservativer, aber doch auch nachdenklich gestimmter Vortrag Der theologische Nachwuchs nach dem Krieg finden. Er suchte mitten im Krieg gleichsam prospektiv die Aufgaben der künftigen Theologengeneration zu umreißen – teils mit statistischen und schon kirchensoziologischen Gedanken, all das aber unter dem Eindruck des Verlusts an Menschenleben, der ja vor dem Heidelberger Seminar nicht Halt machte.

In diesem seinen Vortrag zeigt sich aber auch die didaktische Modernität Bauers, der das damals wahrscheinlich neue deutsche Wort „Arbeitsgemeinschaft“ zur Charakterisierung seiner Seminare und des Seminars wählte:

1931 legte Johannes Bauer sein Amt nieder, 71jährig; im Katastrophenjahr 1933 ist er gestorben. Sein Nachfolger wurde Renatus Hupfeld (1879-1968).

Der bisher schön häufig herangezogene Aktuar des 100. Seminargeburtstags, der Heidelberger Praktische Theologe und Schriftsteller Otto Frommel, seines Zeichens Lehrer am Karlsruher Seminar, Hofprediger und Kirchenrat, immer aber auch pazifistisch eingestellt und Vernunftdemokrat der Weimarer Republik schrieb, selbst schon seit einem Jahr emeritiert, 1938:

„Ueber unserm Seminar und seiner Geschichte steht in leuchtender Schrift der Name Richard Rothes geschrieben. Seine spekulative Theologie ist nicht mehr die unsere; seine Auffassung vom Wesen der Kirche, die sich völlig im verchristlichten Staat auflösen und dadurch selbst unnötig machen werde, können wir nicht teilen. Aber seine Hochschätzung echter theologischer Wissenschaft und sein gläubiges Bekenntnis zu Jesus Christus als unserm Herrn, dessen lebendige Gegenwart auch in der Arbeitsgemeinschaft unseres Seminars immer wieder verspürt werden darf, und von dem allein alles menschliche Wirken und Bauen in Kirche und Gemeinde Bestand und Segen empfängt, seien uns Mahnmal und Wahrzeichen …“ (Frommel, 49). Dies war eine Würdigung Rothes, vor allem aber eine Verpflichtung auf Wissenschaft und Bekenntnis in schwieriger Zeit.

 

Langfassung in: Johannes Ehmann, Theorie und Praxis: 100 Jahre Praktisch-Theologisches Predigerseminar; JBKRG 14 (2020), 37-69 (mit ausführlichem Literaturverzeichnis).

 

 

LITERATURHINWEISE:

 

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Einige Bemerkungen zur Institution Predigerseminar; in: PT 32 (1-97), 57-67.

 

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Letzte Änderung: 12.10.2021
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