Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern | Projekt: Zeit mit (Groß-) Vätern. Zeitbudgets und Formen männlicher Elternschaft im Strukturwandel der 1970er Jahre.

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Abbildung 1: Sonja Pape, Vater, Brigitte 1975.

Thema

Die gesellschaftliche Figur des „Neuen Vaters“ begegnet uns als häufig zitiertes Ideal und seltene Praxis seit den 1970er Jahren. Wie in der nebenstehenden Fotographie aus einem Artikel von Sonja Pape zur „Partnerehe“ in der Zeitschrift „Brigitte“ von 1975 dargestellt, sollte sich der neue Vater von Anfang an in die Kinderbetreuung einbringen. Diese Idee beschwört einen Vater, der sich im Alltag intensiv mit seinen Kindern und seiner Familie beschäftigt, möglicherweise die Erwerbstätigkeit zugunsten von Familienzeit einschränkt und sich affektiv einbringt und engagiert. Als politisches wie normatives Projekt ist sie in die Frauen-und Männerbewegung eingegangen und hat die Erwartungshaltungen und Vorstellungen von Vaterschaft seit den 1970er Jahren mitgeprägt.  Mit etwas Verzögerung wurde sie ebenfalls auf Großväter übertragen. Das generationelle Verhältnis von Vätern, Großvätern und Vaterschaft erhielt damit erstmals Aufmerksamkeit.
Das Forschungsprojekt untersucht Vaterschaft und Großvaterschaft als soziale Rollen und Praktiken männlicher Elternschaft. Wir nähern uns dem Thema aus einer geschlechterhistorischen ebenso wie aus einer familiengeschichtlichen Perspektive und richten den Blick sowohl auf die Normen und Formen von Männlichkeit als auch auf die elterlichen Beziehungen und die Verhältnisse von Männern zu ihren Kindern und Enkeln. Diese Perspektiven spiegeln sich in unserem Erkenntnisinteresse, das darauf ausgerichtet ist, die Veränderungen im Selbstverständnis und im Alltagshandeln von Vätern und Großvätern in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts besser nachzuvollziehen.  Formen und Veränderungen von Vaterschaft und Großvaterschaft in der Periode zwischen den späten 1960er Jahren und den frühen 1980er Jahren werden untersucht.
 


Vorgehen und Methoden

Der Untersuchungszeitraum wird durch die strukturellen Veränderungen in den sozioökonomischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland von Mitte der 1960er Jahre bis in die frühen 1980er Jahre begrenzt. Neben diesen mit ökonomischen Kennzahlen abzubildenden Veränderungen markieren die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre einen weiteren Einschnitt. Geschlechtliche Identität wurde in der mit geringer Verzögerung aufkommende Männerbewegung ebenso intensiv debattiert wie in der Frauenbewegung, was gesellschaftliche Innnovation beförderte. In dieser Periodisierung des Erkenntnisinteresses ist die zentrale These angelegt:
Das Forschungsprojekt geht davon aus, dass durch das Zusammenwirken der als krisenhaft erlebten sozioökonomischen Veränderungen und der soziokulturellen Neubestimmung von Männlichkeit, neue Formen von Vaterschaft und Großvaterschaft erforderlich und möglich wurden. Die historiographisch als Ende der Hochmoderne gefassten Prozesse setzten unterschiedliche, teils gegenläufige Entwicklungen frei. Etablierte gesellschaftliche und soziale Lebensformen wie die Hausfrauenehe und die Kleinfamilie gerieten nach einer Periode normativer Hegemonie in den 1950er und 1960er Jahren besonders in der Frauen- und Männerbewegung auf den Prüfstand. In den späten 1970er Jahren zeichnete sich parallel eine strukturelle Aufwertung der Familie ab. An dieser historischen Konstellation ist die These zu prüfen, ob es im Zuge des Abbaus wohlfahrtstaatlicher Leistungen zu einer Aufwertung familialer Solidarität kam, die in einer Funktionalisierung der Großeltern-Enkel-, sowie der Vater-Kind-Beziehung resultierte.
Es wird untersucht, ob die „geistig-moralische Wende“, welche konservative Politiker in der Bundesrepublik seit den späten 1970er Jahren forderten, ihr ökonomisch-soziales Äquivalent im gesellschaftlichen Wandel hatte. Wir prüfen diese These und verfolgen unser Erkenntnisinteresse, indem wir das Alltagshandeln von Vätern und Großvätern mit Kindern, die von ihnen dabei aufgewandten Zeit-Ressourcen und die männlicher (Groß‑)Elternschaft zugeschriebene Bedeutung erforschen.
 


Fragestellung

Die übergreifende Fragestellung der Forschungsprojekte lautet: Wie veränderte sich Großvaterschaft und Vaterschaft im Strukturwandel in der Bundesrepublik? Diese allgemein gehaltene Leitfrage soll durch die folgenden Fragen konkretisiert werden: Was waren die alltäglichen väterlichen und großväterlichen Tätigkeiten, also jene Handlungen von Männern, die einen Bezug zu Enkeln und Kindern haben? Wie viel Zeit wurde für diese Tätigkeiten mit und an Kindern aufgewandt? Warum und weshalb wurde so viel (so wenig) Zeit investiert? Welche Faktoren verhinderten (ermöglichten) es Vätern und Großvätern, Zeit mit Kindern und Enkeln zu verbringen? Welche Faktoren machten es nötig, dass Väter und Großväter Zeit für Kinder aufwandten? Wie bewerteten Väter und Großväter die männliche (Groß‑)Elternschaft und welche Bedeutung wurde ihr zugeschrieben? Wie grenzten sie die eigene Form von Vaterschaft von jener ihrer Väter ab? Können bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Milieus identifiziert werden, die neue Formen der (Groß‑)Vaterschaft hervorbrachten?
 


Material / Empirische Grundlagen

Um zu untersuchen wie die widersprüchlichen Anforderungen von zeitintensiver und zugewandter Vaterschaft einerseits und die Tabuisierung von Teilzeitarbeit für männliche Arbeiter und Angestellte andererseits verhandelt wurden, arbeiten wir mit Zeitzeugeninterviews, Elterntagebüchern und Ratgeberliteratur sowie mit historischen Daten der sozialwissenschaftlichen Zeitbudgetforschung. In den Projekten werden unter anderem die bereits im Heidelberger Forschungsverbund erstellten und archivierten ZeitzeugInnen-Interviews genutzt.
 


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Abbildung 2: Barbara Klemm, Frankfurt am Main 1971.

Historische Elternschaft

Die sozialen Rollen der Vaterschaft bzw. Großvaterschaft sind durch generative Beziehungen zu Kindern bestimmt. Diese werden hier nicht ausschließlich als biologische Verwandtschaft verstanden, sondern als Verhältnis der Solidarität zwischen Personen verschiedener Generationen, das sich in Sorge, affektiver Bindung und engem Austausch ausdrückt und als (Groß‑)Vaterschaft deklariert wird. Für das Forschungsvorhaben folgt daraus, dass männliche Formen von Elternschaft von historischen Akteuren in spezifischer Weise angenommen und ausgelebt, also im Sinne von ‚doing parenthood‘ konkret aktualisiert werden. Dies gestattet es, die den Rollen zugrundeliegenden kulturellen Normen ebenso wie die strukturellen Bedingungen, in denen sie praktiziert wurden, in den Blick zu nehmen.
 


Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Dr. Gina Fuhrich (Post-Doc)

Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern (Projektleitung)

Hannah Schultes (Doktorandin)

Dr. Max Gawlich (assoziierter Wissenschaftler)
 


Literaturverzeichnis

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 101993.
Dowling, Emma: Love’s Labour’s Cost:. The Political Economy of Intimacy 2016, online: https://​www.versobooks.com​/​blogs/​2499-​love-​s-​labour-​s-​cost-​the-​political-​economy-​of-​intimacy [06.02.2018].
Ecarius, Jutta: Familienerziehung im historischen Wandel. Eine qualitative Studie über Erziehung und Erziehungserfahrungen von drei Generationen, Opladen 2002.
Griebel, Winfried: Aufgabenteilung in der Familie: Was übernehmen Mutter, Vater, Kind (und Großmutter)?, in: Zeitschrift für Familienforschung 1 (1991), S. 21–53.
Hagestad, Gunhild O.: Transfers between grandparents and grandchildren: The importance of taking a three-generation perspective, in: Zeitschrift für Familienforschung : ZfF 3 (2006), S. 315–332.
Hammer, Eckart: Großvater sein, Stuttgart 12017.
Hank, Karsten: Intergenerationale Beziehungen, in: Handbuch Familiensoziologie, hrsg. v. Paul B. Hill / Johannes Kopp, Wiesbaden 2015, S. 463–486.
Kolbe, Wiebke: ‚Neue Väter‘ – oder was? Vaterschaft und Vaterschaftspolitik in Schweden und der Bundesrepublik von den sechziger Jahren bis heuteF, in: Freiburger FrauenStudien 145-178 (2006).
Pape, Sonja: Wir führen eine Partnerehe, in: Brigitte 15 (1975), S. 56–59.
Schildt, Axel: Sozialgeschichte der Bundesrepublik bis 1989/90 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 80), München 2007.
Schildt, Axel: "Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten". Zur konservativen Tendenzwende in den 70er Jahren, in: Annäherungen an die Westdeutschen. Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik ; [14 Beiträge zur Geschichte der alten Bundesrepublik], Göttingen (2011), S. 259.
Schober, Pia S./Zoc, Gundula: Kürzere Elternzeit von Müttern – gleichmäßigere Aufteilung der Familienarbeit? Von, in: DIW Wochenbericht 50 (2015), 1190-1196.

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Letzte Änderung: 30.11.2023
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