Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre) – Teilprojekt II

Teilprojekt: Die Grenzen des Privaten. Rechtliche und private Rahmenbedingungen

Forschungsprojekt an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern am Historischen Seminar, gefördert durch das MWK Baden-Württemberg
 

Leitung: Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar)
Mitarbeiter*in: Mirijam Schmidt, M.A.


Thema


Seit seiner Einführung im Jahr 1872 bedrohte der Paragraph 175 gleichgeschlechtliches Begehren. Dies traf auch auf frauenliebende Frauen* zu, selbst wenn diese von Anklagen aufgrund des Strafrechtsparagraphen weniger betroffen waren. Selbst in der Zeit des Nationalsozialismus, in der eine eigene Behörde zur Verfolgung von Homosexuellen existierte, wurden Frauen nicht aufgrund des §175 angeklagt. Weibliche Homosexualität wurde aber im Sinne der NS-Ideologie als „asoziales“ Verhalten eingestuft. Die Verfolgung frauenliebender Frauen* erfolgte somit entlang ideologisch begründeter, nationalsozialistischer Differenzierungen. Vor allem „rassische“ Faktoren, aber auch soziale und politische Kriterien spielten eine wichtige Rolle. Auch in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er wirkte der weiterhin bestehende §175 als Drohung. Homoerotisches Begehren stand nach wie vor unter Verdacht. Kontinuitäten lassen sich auch bei der Verknüpfung der Kategorien Sexualität und Klasse nachweisen. Es waren vor allem Frauen* aus unterbürgerlichen schichten, die polizeilich verfolgt wurden.
Das Teilprojekt untersucht die rechtlichen Grenzen des Privaten von lesbischen Frauen* in Baden und Württemberg von der Zeit des Nationalsozialismus über die Nachkriegszeit bis in die junge Bundesrepublik der 1950er und 1960er. Ziel des Projektes ist es sichtbar zu machen, wo und wann das private Leben frauenliebender Frauen* öffentlich (gemacht) wurde und Konflikte mit Gerichten, Behörden und Institutionen, vor allem der Justiz, der Polizei und der Fürsorge entstanden. Dabei interessiert vor allem der „alltägliche“ Konflikt, der sich an Leitbildern und Rollenzuschreibungen und ihrer Missachtung entzündete.
Diese „alltäglichen“ Konflikte entstanden dann, wenn frauenliebende Frauen* an die Grenzen heteronormativer Rahmensetzungen stießen. Dies geschah immer dann, wenn ihre Sexualität oder auch nur ihre Lebensweise in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geriet.
Da sich die Frauen selbst kaum aktiv als frauenliebend, geschweige denn lesbisch bezeichneten und sich selbst die Fremdzuschreibungen eher selten der entsprechenden Klassifizierung bedienten, spielen die normativen Diskurse, die hinter den Konflikten den Rahmen des Lebens und der Wahrnehmung von frauenliebenden Frauen* bilden eine große Rolle. Untersucht werden soll, in welchen Kontexten Frauen, die lesbisch* liebten und lebten, ihre Neigung und ihre Lebensweise zum Vorwurf gemacht wurden. Welche Vorwürfe wurden formuliert, welche implizit transportiert? Und wie verhielten sich die betroffenen Frauen zu den Vorwürfen? Welche Aneignungen und Ausgestaltungen scheinen in den normativen Überlieferungen der regelsetzenden oder –ausführenden Stellen durch?
Dabei wird herausgearbeitet, wie in juristischen, polizeibehördlichen und fürsorgerischen Diskursen Normen gesetzt, begründet und legitimiert, aber auch modifiziert oder verworfen wurden. Sie bildeten den Hintergrund bzw. die Rahmung des Lebens und Wahrnehmens von lesbischen Frauen*. Damit konnten sie ermöglichend oder begrenzend auf die Handlungsräume von frauenliebenden Frauen* einwirken. Auf diese Weise werden Lebens- und Handlungsräume frauenliebender Frauen* in Baden und Württemberg sichtbar gemacht und zugleich aufgezeigt, wie diese Räume zwischen den 1930er und den späten 1960er Jahren begrenzt und eingehegt wurden.
 


Vorgehen


Nach diesen Berührungs- und Konfliktpunkten von privaten Lebensentwürfen einerseits und Kodifizierungen bzw. Norm(durch)setzungen andererseits sucht das Teilprojekt anhand von raum-zeitlichen Schnitten. Der Untersuchungsraum beschränkt sich auf Baden und Württemberg in der Zeit zwischen den 1930er und den späten 1960er Jahren. Die Zeitschnitte orientieren sich anhand grundlegender Einschnitte im Rechtssystem, die für den Umgang mit weiblicher Homosexualität und ihrer Bewertung relevant sind, wie die Verschärfung des §175 1935 oder der Vorschlag der Großen Strafrechtskommission zur Reform des §175 1959.

Quellen


Für die Untersuchung des Themas werden folgende Aktenbestände aus dem Stadt- und Staatsarchiv Ludwigsburgs, aus dem Stadtarchiv und dem Generallandesarchiv in Karlsruhe, aus den Universitätsarchiven Heidelberg und Freiburg sowie aus dem Tagebucharchiv Emmendingen ausgewertet:

  •   Scheidungs- und Sorgerechtsakten
  •   Fürsorgeakten
  •   Polizeiakten und Gefangenenakten
  •   Akten der Oberschulämter
  •   Einbürgerungsakten
  •   Disziplinarakten
  •   Egodokumente

 

Literatur:


Lautmann, Rüdiger: Willkür im Rechtsgewand: Strafverfolgung im NS-Staat, in: Schwartz (Hg.): Homosexuelle im Nationalsozialismus, S. 35–42.

Schäfer, Christian: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006.

Eschebach, Insa (Hg.): Homophobie und Devianz: Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012.

Plötz, Kirsten: Als fehle die bessere Hälfte. „Alleinstehende“ Frauen in der frühen BRD 1949-1969. Königstein 2005.

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 18.10.2021
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