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Verfassungsfeinde im Land?
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Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, '68 und der "Radikalenerlass"

Über das Projekt

Das Forschungsprojekt Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, '68 und der "Radikalenerlass" untersucht die Maßnahme des sog. "Radikalenerlasses" und dessen Folgen für Baden-Württemberg aus zeitgeschichtlicher Perspektive. Der 1972 verabschiedete Erlass war von Beginn an hoch umstritten. Am regionalgeschichtlichen Paradigma sollen die Effekte des Kampfs gegen politischen Extremismus historisch kontextualisiert und für eine Zeitspanne bis in die jüngste Gegenwart hinein wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Der "Radikalenerlass", 1972

Am 18. Februar 1972 erging ein Gemeinsamer Erlass der Ministerpräsidenten und aller Landesminister über die Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst. Unter Rücksprache mit Bundeskanzler Willy Brandt hatten die Regierungschefs die folgenden Grundsätze beschlossen:

Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt, sind Beamte verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. [...] Jeder Einzelfall muß für sich geprüft und entschieden werden. Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen: [...] Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. [...] Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages. [...] Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung die Anforderungen des § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz nicht, aufgrund derer er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des GG zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, so hat der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sachverhaltes die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst anzustreben ist.

Für Zweifel an dieser im Erlass benannten "Gewähr" konnten bereits verdächtige Verbindungen, Fahrten ins kommunistische Ausland oder die Mitgliedschaft in einer als verfassungsfeindlich deklarierten Organisation sorgen. Für Betroffene konnte die Anwendung des "Radikalenerlasses" verstärkte Kontrolle, Ablehnung, Nichteinstellung und Entlassung aus ihrer jeweiligen beruflichen Position bedeuten ("Berufsverbot"). In den Jahren nach seiner Verabschiedung war der "Radikalenerlass" nicht nur umstritten, sondern zog eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (1975) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (1995) nach sich; die Regelung sorgte für Kritik aus dem Ausland und auf der Ebene internationaler Organisationen. Brandt hatte den "Extremistenbeschluss" als Mittel einer "wehrhaften Demokratie" verstanden. Einige Jahre später wertete er ihn als "kardinalen Fehler" seiner Kanzlerschaft.

Die Geschichte des "Radikalenerlasses" ist streitbare Zeitgeschichte im direkten Sinne: Sie ist eng verknüpft mit der Frage nach Demokratieschutz und Bürgerrechten in der "geglückten", jedoch verspäteten Demokratie der Bundesrepublik. Zugleich berührt die Frage nach der Umsetzung der Maßnahmen gegen vermeintliche "Verfassungsfeinde" die Nahgeschichte des Regionalen und damit unser aller Lebensumfeld.

"Verfassungsfeinde" in Baden-Württemberg

Gerade auf lokaler und regionaler Ebene gab es erhebliche Unterschiede in der Durchführung des "Radikalenerlasses". Viele der von der "Regelanfrage" Betroffenen stammten aus Baden-Württemberg, das als "Hochburg" des Beschlusses galt: Dort sah der so genannte "Schiess-Erlass" eine Überprüfung von angehenden Junglehrern vor dem Referendariat vor. Der damalige Innenminister Karl Schiess hatte auf der Grundlage des "Extremistenbeschlusses" veranlasst, dass, bevor ein Bewerber in den öffentlichen Dienst übernommen werde, "die Einstellungsbehörden zunächst beim Innenministerium anzufragen" hätten, "ob Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die Einstellung begründen."

Die Landesregierung in Baden-Württemberg unter Hans Filbinger sah den "Extremistenbeschluss" als Instrument einer "Festigung der inneren Sicherheit". Man wollte die "gemeinsamen Beschlüsse des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten über die Bekämpfung der Radikalen im öffentlichen Dienst konsequent ausführen." In den Jahren 1978 und 1987 wurde der "Radikalenerlass" zum Thema intensiver Debatten im Landtag.

Gerade der Widerstand gegen die Maßnahmen entzündete sich maßgeblich an Einzelfällen individueller "Berufsverbote" und damit im lokalen oder regionalen Kontext. Das Spektrum des Einspruchs war dabei breit gefächert. In den Jahren 1973/74 bildeten sich "Komitees gegen die Berufsverbote und die politische Entrechtung im Öffentlichen Dienst" in Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe, die sogar eine Zeitung herausgaben. Auch der Stuttgarter DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) verurteilte den Beschluss als "grundgesetzwidrig" und forderte dessen Abschaffung. Formen des Einspruchs waren neben der Sammlung von Unterschriften, Aufrufen "an die Studenten der Hoch- und Fachhochschulen" von Seiten der asten und Demonstrationen etwa auch die filmische Verarbeitung – so zeigte am 17. Oktober 1975 das "Komitee gegen Berufsverbote Esslingen" den Film "Protokoll", "der ein Anhörungsverfahren in Sachen Berufsverbot" thematisierte und bot eine anschließende Diskussion an. Als eine "schwerlich mit dem Grundgesetz vereinbare Überprüfungspraxis" galt der "Schiess-Erlass" der Initiative, die sich 1975 an mehreren Baden-Württembergischen Universitäten verbreitete. Die "Konstanzer Erklärung der hundert Professoren" vereinte Hochschulangehörige, die warnten, dass die Freiheit der Forschung in Gefahr sei und die ihrerseits auf die "bittere historische Erfahrung gerade in Deutschland" verwiesen, nämlich, "daß die Bedrohung einer verfassungsmäßig demokratischen Grundordnung auch von staatlichen Bürokratien ausgehen kann." Sowohl Befürworter wie Gegner des "Radikalenerlasses" beriefen sich auf die Sorge um Grundwerte – so argumentierte zum Beispiel Filbinger mit der Unfreiheit der NS-Zeit, um den Erlass als ein Instrument des Demokratieschutzes zu verteidigen.

Die unmittelbare Geschichte des behördlichen Vorgehens gegen linke vermeintliche "Verfassungsfeinde" reicht mindestens bis in die 1990er-Jahre. Überprüfungsmaßnahmen bestanden, nach einer Nachbesserung 1976 auf Bundesebene und der Aufkündigung durch die sozialliberale Regierung im Jahr 1979, gerade auf Länderebene fort – im Saarland bis 1985, in Bayern und Baden-Württemberg bis 1991, als die Regelanfrage auch hier abgeschafft wurde. Das Forschungsprojekt Verfassungsfeinde im Land? untersucht daher die Effekte der im Rahmen des "Radikalenerlasses" getroffenen Maßnahmen im langfristigen historischen Kontext von den 1960er-Jahren bis heute.

Forschungsfragen und Ziele des Projekts

Das Forschungsprojekt Verfassungsfeinde im Land? setzt sich mit der Geschichte des "Radikalenerlasses" in der Region Baden-Württemberg auseinander. Es bewegt sich methodisch an der Schnittstelle von Demokratie-, Konflikt-, Mentalitäts-, Rechts- und Institutionen- bzw. auch Bewegungsgeschichte. Eine regional an Baden-Württemberg orientierte, zeitgeschichtliche Aufarbeitung des Themas kann eruieren, wie die Umsetzung der politischen und justiziellen Instrumente gegen linken Extremismus im Nahbereich der Bürgerinnen und Bürger verlief.

Zentrale erkenntnisleitende Forschungsfragen in diesem Kontext lauten:

  • Vor welchem regionalgeschichtlichen politischen Hintergrund entfaltete sich die Umsetzung von Maßnahmen gegen die 1968er-Bewegung, gegen die linke Szene in Baden-Württemberg und wie sah die politische Willensbildung auf regionaler Ebene hierbei aus?
  • Mit welchen Mitteln wurden die Maßnahmen im Kontext des "Radikalenerlasses" konkret implementiert und wie sahen Einzelfälle von betroffenen Personen aus?
  • Welche spezifischen regionalen Besonderheiten lassen sich bei der Umsetzung der Maßnahme in Baden-Württemberg ausmachen?
  • Wie reagierte die Öffentlichkeit in Baden-Württemberg auf den "Radikalenerlass" bzw. "Schiess-Erlass"? Wie gestaltete sich die Diskussion vor, während und nach der Umsetzung der Bestimmungen des "Radikalenerlasses" innerhalb der Institutionen und für die Betroffenen? Wie wurde die Debatte künstlerisch, medial, in Bild und Ton begleitet?

Ziel des Projekts ist es, wissenschaftlich aufzuarbeiten, wie sich unterschiedliche Maßnahmen im Zuge des Erlasses auf Baden-Württemberg selbst, hier auf Institutionen wie Behörden, Universitäten und Schulen sowie auf Betroffene, auswirkten, ferner, welche Reaktionen in der lokalen und regionalen Öffentlichkeit dies hervorrief und wie der öffentliche Umgang im Nachgang sich gestaltete. Auszugehen ist dabei von einer Wechselwirkung sowohl von Bundes- wie Landesebene, was politische Beschlüsse und Debatten angeht, deren genauere Feinmechanik ebenfalls Gegenstand der Untersuchung sein wird. Ferner ist zu ermitteln, wie Konflikt- und Kommunikationspunkte der Auseinandersetzung zustande kamen, welche Bedeutung dabei Ereignissen und Personen zukommt, wie zentral Einzelfälle waren und welche Rolle parteipolitische Gebundenheiten auf Seiten von Betroffenen spielten.

Der zeithistorische Horizont des vorgestellten Projekts erstreckt sich von der Vorgeschichte der Maßnahmen, die staatlicherseits bereits zur Unterdrückung der 68er-Bewegung genutzt wurden, über ihren Höhepunkt der 1970er-Jahre und das unmittelbare Ende des "Radikalenerlasses" zu Beginn der 1990er-Jahre bis in unsere Gegenwart, da auch die langfristigen Folgen und der Kampf um Rehabilitation und Aufarbeitung in die Untersuchung einbezogen werden .

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 31.07.2021
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