Mon texte à moi - Archiv

 

Die Melancholie der Tradition: Ruinen und das auf ihnen wachsende Unkraut bei Nietzsche

1.

Die Ruine als Schmuck. — Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.

(eKGWB/MA-602 — Menschliches Allzumenschliches I: § 602. Erste Veröff. 07/05/1878.)

2.

Die Dichter keine Lehrer mehr. — So fremd es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzückungen hinaus war und desshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatte. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseler des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene — Willens-Bändiger, Thier-Verwandler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der Jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. — Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man diess von ihm verlangte — er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selber kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam der scheue, anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen, Giftkräutern ruinenhaft überwachsen, von Schlangen, Gewürm, Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht, — ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber, warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine, ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins, emporwachsen muss? —

(eKGWB/VM-172 — Menschliches Allzumenschliches II: § VM — 172. Erste Veröff. 20/03/1879.)

3.

Die christliche Rache an Rom. — Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen Siegers, — man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet, — ja wenn das Reich baute, so baute man mit dem Hintergedanken des „aere perennius“; — wir, die wir nur die „Melancholie der Ruinen“ kennen, können kaum jene ganz andersartige Melancholie der ewigen Bauten verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen musste, wie es gehen wollte, — zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung gränzende Müdigkeit, gegen das tödtende Bewusstsein, dass alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoffnung seien, dass überall die grosse Spinne sitze, dass sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. —  …

(eKGWB/M-71 — Morgenröthe: § 71. Erste Veröff. 31/07/1881.)

4.

Nicht unvermerkt zu Grunde gehen. — Nicht Einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer Tüchtigkeit und Grösse; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, — die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmüthigen Empfindung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswächst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde! — Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber auf einmal und plötzlich: dann bleiben vielleicht von euch erhabene Trümmer übrig! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die kleinen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbärmlich selbst zum Triumphiren!

(eKGWB/M-435 — Morgenröthe: § 435. Erste Veröff. 31/07/1881.)

5.

Ruinen soll man nicht zerstören: Gras und Rosen und winzige Kräuter und was sie immer schmückt von Lebendigem, das Alles zerstört auch das Todte.

(eKGWB/NF-1882,4[275] — Nachgelassene Fragmente November 1882 — Februar 1883.)

6.

So wie ihr seid, seid ihr nur als Ruinen erträglich: und das was euch zu Grunde richtet, Blitz und Tropfenfall und Unkraut: euer Unglück und Ungemach rechtfertigt euer Dasein.

(eKGWB/NF-1883,9[23] — Nachgelassene Fragmente Mai–Juni 1883.

7.

Ihr Gegenwärtigen, ihr liegt mir nun einmal im Vordergrunde: wenn ihr mir nicht Ruinen bedeuten wollt, wie wollte ich euch auf meinem Bilde ertragen! Und das Beste an euch ist mir euer Unkraut!

(eKGWB/NF-1883,13[1] — Nachgelassene Fragmente Sommer 1883.)

8.

„Ridentem ferient ruinae“ auf sein Portrait aufgeschrieben.

eKGWB/NF-1887,11[225] — Nachgelassene Fragmente November 1887 — März 1888.)

 


Giovanni Pascoli
Aus Myricae (1891)

 

Arano

Al campo, dove roggio nel filare
qualche pampano brilla, e dalle fratte
sembra la nebbia mattinal fumare,

arano: a lente grida, uno le lente
vacche spinge; altri semina; un ribatte
le porche con sua marra pazïente;

chè il passero saputo in cor già gode,
e il tutto spia dai rami irti del moro;
e il pettirosso: nelle siepi s’ode
il suo sottil tintinno come d’oro.

 

Sie pflügen

Im Feld, wo braun das Blätterwerk des einen
zum andern Strauch hinglüht, und aus den Hecken
die Morgennebel aufzudampfen scheinen,

da pflügen sie. Der hier verfolgt das starke
Gespann mit trägem Schrei, der sät, es decken
die das Gefurchte fleißig mit der Harke.

Hat doch der schlaue Spatz schon sein Vergnügen
herunterlugend aus dem Maulbeerbaume!
Und die Rotkehlchen gar... Du meinst, sie schlügen
wie Gold so dünn – dünn längs dem Ackerssaume.

(Übersetzung von Benno Geiger)

 

 

 

Idea

Här går jag icke. Detta är ej jag.
Detta är en ljugande spegelbild bara,
spörjande och undrande var jag månde vara,   
längtande att möta sin verklighet en dag.

Sagan förtäljer: långt i fjärran land
flyter en speglande flod ur osedd källa.
Tusende väsen, heliga och sälla,
luta sig som liljor över strandbräddens rand.

Ljus utan gräns omvärver deras drag,
luften dallrar mättad av en skönhet utan like.
Det är de fullkomliga andarnas rike.
Där står i evig glans mitt verkliga jag.

Spegelbilden syns ej i glittrande älv.
Den har en gång ryckts bort av vreda strömmen,
vandrar omkring, overklig som i drömmen,
ofärdig, sönderbruten, sökande sig själv.

Hör jag ej flodens fjärran böljeslag?
Djupt ur mitt innersta djup dess vatten flyter.
Där, varest livets våg i dagen bryter,
bidar mig dolt mitt gudaborna jag.

Aus dem Gedichtband "Moln" (1922) von Karin Boye (1900-1941).

 

Idea

Hier gehe ich nicht. Das bin ich nicht.
Das ist ein lügendes Spiegelbild nur,
fragend und wundernd, wo ich sein könnte,
sehnend meine Wirklichkeit zu treffen eines Tages.

Die Sage berichtet: fern in einem Land weit weg
fließt ein spiegelnder Fluss aus ungesehener Quelle.
Tausend Wesen, heilige und selige,
lehnen sich wie Lilien über den Rand der Sandbank.

Licht ohne Grenzen umschwebt ihre Züge,
die Luft flirrt gesättigt von Schönheit ohne gleichen.
Das ist das Reich der vollkommenen Geister (im Sinne von spritus / πνεύματα).
Dort steht in ewigem Glanz mein wirkliches ich.

Das Spiegelbild sieht man nicht im glitzernden Fluss.
Das wurde einmal fortgerückt vom reißenden Strom,
wandert umher, unwirklich wie im Traum,
unfertig, zerbrochen, suchend nach sich selbst.

Höre ich nicht das fern schlagende Tosen des Flusses?
Tief aus meiner innersten Tiefe, dessen Wasser fließen.
Dort, wo des Lebens Welle in den Tag hinein bricht,
erwartet mich verborgen mein von Göttern geborenes ich.

(Übersetzung von Karin Schlagbauer)

 

 

 

 

Endre Ady

Kocsi-út az éjszakában

 

Milyen csonka ma a Hold,
Az éj milyen sivatag, néma,
Milyen szomoru vagyok én ma,
Milyen csonka ma a Hold.

 

Minden Egész eltörött,
Minden láng csak részekben lobban,
Minden szerelem darabokban,
Minden Egész eltörött.

 

Fut velem egy rossz szekér,
Utána mintha jajszó szállna,
Félig mély csönd és félig lárma,
Fut velem egy rossz szekér.

 

 

Wagenfahrt bei Nacht

 

Wie verwundet ist der Mond,
Diese Nacht, wie wüst sie ist und leer,
Wie traurig ich heute bin, wie schwer,
Wie verwundet ist der Mond.

 

Alles Ganze ist zerschellt,
Alles Feuer brennt bloß verhalten,
Alle Liebenden sind gespalten,
Alles Ganze ist zerschellt.

 

Ach, mich zieht ein schlechter Wagen,
Von hinten Klagen und Verderben,
Tiefe Stille und lautes Lärmen,
Ach, mich zieht ein schlechter Wagen.

 

 

Übersetzung von Wilhelm Droste

Aus: Endre Ady: Gib mir deine Augen. Gedichte. Ungarisch/Deutsch. Übertragen und herausgegeben von Wilhelm Droste. Arco Verlag, Wuppertal 2011. S. 106f.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 


 

"Si continua - coraggio! - ricominciamo la lettura!"

(Aby Warburg, Florenz, 1927)

 

 

 

 

Macbeth, Act I, scene 1:

 
An open Place
Thunder and Lightning. Enter three Witches.

1 Witch: When shall we three meet again
In thunder, lightning, and in rain?
2 Witch: When the hurly-burly’s done,
When the battle’s lost and won.
3 Witch: That will be ere set of sun.
1 Witch: Where the place?
2 Witch: Upon the heath.
3 Witch: There to meet with Macbeth.
1 Witch: I come, Grimalkin.
2 Witch: Padocke calls – anon.
All: Fair is foul, and foul is fair.
Hover through the fog and filthy air.

They rise from the stage, and fly away.

 

 

Shakespeare, William: Macbeth : A tragedy. By William Shakespeare. Collated with the old and modern editions. - London: printed by W. Bowyer and J. Nichols: and sold by W. Owen, between the Temple-Gates, Fleet-Street, 1773. - Online-Ressource

 

 

 

 

 

 

Si no has de volverme a España,
Dios de la única bondad,    
si no has de acostarme en ella,    
¡hágase tu voluntad!
Como en el cielo en la tierra
en la montaña y la mar,
Fuenterrabía soñada,    
tu campana oigo sonar.    
Es el llanto del Jaizquíbel,    
—sobre él pasa el huracán! —
entraña en mi honda España,
te siento en mí palpitar.    
Espejo del Bidasoa
que vas a perderte al mar,    
¡qué de ensueños te me llevas,
a Dios van a reposar…!    
¡Campana Fuenterrabía,
lengua de la eternidad,    
me traes la voz redentora
de Dios, la única bondad!
Hazme, Señor, tu campana,    
campana de tu verdad,
y la guerra de este siglo
deme en tierra eterna paz.

           Miguel de Unamuno

 

    

Falls du mich Spanien nicht zurückgeben wirst,
Gott der einzigartigen Güte,
falls du mich nicht mehr in Spanien zu Bette bringen wirst,
Dein Wille geschehe!
Wie im Himmel so auf Erden
wie auf dem Berg so im Meer,
erträumtes Hondarribia,
ich höre deine Glocke läuten.
Es ist die Trauer des Jaizkibel,
—über ihn fegt der Orkan hinweg! —
du Innerstes in meinem tiefen Spanien,
ich fühle dich in mir pochen.
Spiegel von Bidasoa,
der du dich im Meer verlieren wirst,
welche Traumbilder von dir nimmst du mir mit,
sie werden Gott zur Ruhe bringen…!
Glocke Hondarribia,
Sprache der Ewigkeit,
du bringst mir die erlösende Stimme
von Gott, die einzigartige Güte!
Mache mich, Herr, zu Deiner Glocke,
zur Glocke Deiner Wahrheit,
und der Krieg dieses Jahrhunderts,
gib mir ewigen Frieden auf Erden.

                         Übersetzung: Manuel Hellriegel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Парус

 

 

Белеет парус одинокий
В тумане моря голубом...
Что ищет он в стране далёкой?
Что кинул он в краю родном?
 
Играют волны - ветер свищет,
И мачта гнётся и скрипит...
Увы, - он счастия не ищет
И не от счастия бежит!
 
Под ним струя светлей лазури,
Над ним луч солнца золотой
А он, мятежный, просит бури,
Как будто в бурях есть покой!

Михаил Лермонтов

 

 

 

De una dama que, quitándose una sortija, se picó con un alfiler

 

Prisión del nácar era articulado
de mi firmeza un émulo luciente,
un dïamante, ingeniosamente
en oro también él aprisionado.

Clori, pues, que su dedo apremiado
de metal aun precioso no consiente,
gallarda un día, sobre impaciente,
lo redimió del vínculo dorado.

Mas, ay!, que insidioso latón breve
en los cristales de su bella mano
sacrílego divina sangre bebe:

púrpura ilustró menos indiano
marfil; invidiosa sobre nieve,
claveles deshojó la Aurora en vano.

 

(Luis de Góngora, Sonette, Berlin 1960 )

 

 

Ein Gefängnis des artikulierten Perlmutts war,
meiner Festigkeit ein leuchtender Nachahmer,
ein Diamant, auf ingeniöse Weise
in Gold auch er gefangen.

 

Clori, also, die ihren Finger beengt
von Metall, selbst kostbarem, nicht mag,
forsch mehr noch als ungeduldig,
befreite ihn vom goldenen Band.

 

Doch ach, das tückische kleine Metall,
in den Kristallfluten ihrer schönen Hand
trinkt es sakrilegisch göttliches Blut.

 

Purpur hat weniger indisches Elfenbein
zum Leuchten gebracht; neidisch hat auf Schnee
Nelken entblättert die Morgenröte vergeblich.

 

(Übersetzung von Gerhard Poppenberg)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 01.02.2024
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