Heidelberger Förderpreis 2006

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Mittwoch, 31. Januar 2007, Nr. 26, Seite N 3



Wozu noch Philologen?

Die Brücken der Literatur wollen begangen sein

Wie viel Intuition, wie viel Verstand braucht es zur Interpretation von Texten? Ein Symposion zum zweihundertjährigen Bestehen des Heidelberger Seminars für Klassische Philologie suchte neue Antworten auf eine alte Frage.

Mehr denn je geht es in der Wissenschaft um Messbarmachung und Überprüfbarkeit. Ist etwas einem Beweis nicht zugänglich, so wird es schnell für irrelevant erklärt. Astrophysiker können heute nicht nur die hochenergetischen Gammastrahlen eines Blitzes beim Ausbruch eines Neutronensternes messen, sondern wissen auch, dass dieser aus einer Supernovaexplosion entstandene Himmelskörper etwa fünfzigtausend Lichtjahre entfernt ist, einen Durchmesser von etwa zwanzig Kilometern aufweist und von einem zehnmal stärkeren Magnetfeld (zehn bis zwölf Gauß) als dem der Erde umgeben ist. Wie aber ist es mit dem Geistesblitz, mit der plötzlichen und unmittelbaren, auf ein Ganzes gerichteten Intuition? Helfen da Elektroden an und im Schädel? Das erledigt im Zweifel die Hirnforschung: Der Hund hat dann vielleicht beim Anblick einer Wurst einen Geistesblitz von Stärke drei auf einer noch zu skalierenden Skala, der Mensch dagegen nur von zwei, dafür aber von acht bei Gänseleberpastete.

Es ist mittlerweile fast vergessen, dass in der Hochphase des Positivismus um 1900 auch Naturwissenschaftler die Intuition als Modus der Erkenntnis anerkannten. Der französische Mathematiker und Physiker Henri Poincaré beispielsweise schrieb der “ästhetischen Sensibilität” eine wesentliche Rolle im Akt der Wahrnehmung zu und nahm dafür in Kauf, die sterilen Laborbedingungen durch Berücksichtigung eines quecksilbrig Unfassbaren wie der Intuition zu trüben. Er blieb damit freilich weitgehend unbeachtet. Mehr Beachtung fand der Philosoph Benedetto Croce, der in seiner Ästhetik von 1902 die Intuition streng von der Empfindung trennte, dafür aber untrennbar mit dem Ausdruck verband und prophezeite: “Wer die Intuition vom Ausdruck trennt, dem gelingt es nie, sie wieder mit ihm zu vereinigen.”

Um dies zu vermeiden, um also die Intuition in ein Verhältnis zum Text zu setzen, tagte das Mittelrheinische Symposion für Klassische Philologie am Neckar, um unter dem Titel “Text und Intuition” die Zweihundertjahrfeier des Heidelberger Seminars zu begehen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Berliner Gräzistin und Religionswissenschaftlerin Susanne Gödde der Heidelberger Förderpreis für klassisch-philologische Theoriebildung verliehen. Der Laudator Rainer Warning (München), neben Michael Theunissen (Berlin) und Jürgen Paul Schwindt (Heidelberg) Juror des Preises, hielt den Festvortrag in der Alten Aula der Universität zu “Goethe und Diderot”. Er erklärte überzeugend, was Goethe 1804/05 daran gereizt haben könnte, die per Zufall entdeckte, ihm dann von Schiller euphorisch nahegebrachte Abschrift von Diderots “Le Neveu de Rameau” zu übersetzen.

Es ist bekannt, dass Goethe, wie später auch Hegel und E. T. A. Hoffmann, den jahrelang verschollenen, erst postum veröffentlichten “Neveu” für ein “Juwel” hielt: “Frecher und gehaltener, geistreicher und verwegener, unsittlich-sittlicher war mir kaum etwas vorgekommen.” Deswegen war es eben keine bloße Neigung des Augenblicks, auch nicht nur Bewunderung des vielschichtigen Textes – es verdankte sich etwas Unfassbarem und Ahnungsvollem, das Goethe intuitiv erfasste, als er den Diderotschen Dialog ins Deutsche übertrug. Bei der Arbeit am Text verlor er bisweilen den Boden unter den Füßen; so schrieb er an Schiller: “Anfangs geht man ins Wasser, und glaubt man wolle durchwaten, bis es immer tiefer wird und man sich genötigt fühlt zu schwimmen.” Erst Jahre später konnte er den Grund erfühlen und das Unverrechenbare in Worte fassen: “das Dämonische”, das sich in Unruhe und unbegrenzter Tatkraft äußert, jedoch von “Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist” und welches – Warning zufolge – bereits in Diderots Geschichte über den absonderlichen, sich entfremdend entäußernden Neffen des großen Musikers Jean-Philippe Rameau angelegt war.

Nicht nur “Klassiker” wie Warning oder der Altphilologe und Heidelberger Emeritus Michael von Albrecht, Autor der großen, in viele Sprachen übersetzten “Geschichte der römischen Literatur” und einer kürzlich erschienenen Vergil-Monographie (F.A.Z. vom 4. Januar), folgten auf der sich anschließenden Tagung Schwindts Aufforderung zur “Radikalphilologie” (so dieser unlängst im “Merkur”, Heft 12, 2006) oder zur ungeschwätzigen Textorientierung, die mal mehr, mal weniger befolgt wurde. Etablierte Forscher, Nachwuchswissenschaftler und – das ist in heutigen Zeiten erwähnenswert – zahlreiche Studenten diskutierten die alten Dichter.

Näher am Text und zugleich an der von Croce umrissenen Trennlinie zwischen Ausdruck und Intuition ging es kaum: In seinem temperamentvollen Vortrag über Giorgio Agamben und den frühen Horaz rückte der Neuseeländer Glenn Patten (Heidelberg) weder Text noch Intuition in den Mittelpunkt, sondern das Wort “und”, das die beiden verbindet, und stellte damit die philologische Gretchenfrage: Kann die Wissenschaft die Kluft zur literarischen Kunst überbrücken? Dies zu versuchen, das Goethesche “ineffabile”, das Unaussprechbare, wider alle sprachkritischen Bedenken benennbar zu machen und sich damit dem “verborgenen Zentrum auch der wissenschaftlichen Erfahrung” zu nähern, dabei jedoch stets den “Respekt vor dem Unverstandenen” zu wahren, darum kreise die Philologie, so Schwindt in seinem Eröffnungsvortrag.

In Wahrheit ist das philologische Kreisen kein abgeschlossenes Ganzes, sondern ein Bogen, dessen immense Spannung in der Beschäftigung mit den alten Texten deutlich wird: Es geht um die Brückenfunktion der Literatur zwischen verschiedenen kulturellen Bereichen, Epochen oder Räumen. Mit ihren Werken schlagen die Dichter Brücken über Getrenntes, Vergangenes und Vergehendes. Um diese Brücken begehbar zu machen, bedarf es der Philologen. Als Pfadfinder und Wegweiser schlagen sie sich durch das Dickicht der Jahrhunderte und machen den Weg frei: Sie ermöglichen die Einsicht in die Texte, auf denen unser Denken und unsere Kultur baut, und streben nach einer Annäherung an das Unbeschreibbare und vielleicht Unlösbare, um das Philosophen und Dichter von jeher kreisen: den Sinn und um die damit verbundenen Probleme des Lebens

Dem Nicht-Latinisten oder Nicht-Gräzisten sind die Brücken die liebsten, bei denen er wenigstens das eine Ufer ganz gut kennt, also die Verbindung von Antike und näherer Vergangenheit: So führte Karin Westerwelle (Münster) in ihrem beeindruckenden Vortrag über “Kritik und Macht des Bildes” vor, wie Flaubert in der Erzählung “La Légende de Saint Julien L'Hospitalier” seinen Protagonisten in Anlehnung an den Narzissmythos an seiner Prophetenrolle scheitern lässt. Während Ovids Narziss sich in sein Spiegelbild verliebt und darüber zugrunde geht, sieht Julien beim Versuch, sich zu ertränken, auf der Wasseroberfläche plötzlich das Abbild seines getöteten Vaters. Im weinenden Vater erkennt er plötzlich seine Identität und bringt es aus Mitleid nicht übers Herz, sich und damit den Vater noch einmal umzubringen. Von Ovid zu Flaubert führt – das wird oft übersehen – der Weg wohl auch hier über Schopenhauers Ästhetik und Mitleidethik.

Mitleid schien auch der unbekannte Überarbeiter von Euripides' Tragödie “Medea” mit der Titelfigur, der von ihrem Mann betrogenen, rachsüchtigen Kindsmörderin, gehabt zu haben. Argyri Karanasiou (Saarbrücken) zeigte textkritisch genau, wie die nachträglichen Einschübe durch den sogenannten Interpolator das Bild der unerbittlichen Rächerin und lieblosen Mutter zu korrigieren versuchte. In der Diskussion konnte man sich aber nicht einigen, ob Medea ihre Kinder nun ermorden oder tatsächlich retten wollte. (Wie schwierig es übrigens sein kann, zwischen Mord und “Rettung” der Kinder durch deren Eltern zu unterscheiden, zeigte der Fall der Magda Goebbels. Vielleicht in ähnlicher Absicht wie der Interpolator machte auch Christa Wolf, die vor gut zehn Jahren das Medea-Motiv [“Medea: Stimmen”] abmilderte, die Gesellschaft verantwortlich für die Taten der zum Sündenbock gemachten Frau.)

Eine Brücke der besonderen Art, nämlich über eine bewusst gesetzte Leerstelle von Platon schlug Susanne Gödde und rechtfertigte damit vollauf die Preisvergabe für ihr Buch zur “Euphêmia. Konstruktionen des Guten in Kult und Literatur der griechischen Antike”, das im Herbst veröffentlicht wird. Mit kritischer Platon-Lektüre zeigte sie, wie der Philosoph in seinen “Nomoi” beim Gesetzgebungsverfahren manipulativ argumentiert: Er verzichtet an den entscheidenden Stellen auf Argumente, lässt eine “seltsame” (Platon) Lücke, die nur mittels Gottvertrauen auszuhalten ist. “Denn so Gott will”, sagt der Athener, “wird uns diese Untersuchung, wenn sie ganz zu Ende gebracht ist, vielleicht auch über das genügend Klarheit verschaffen, was jetzt noch zweifelhaft ist.” Sind das antike Untersuchungsausschüsse, die nur pro forma installiert werden, obgleich das Ergebnis längst feststeht?

Wie steht es um das Verhältnis von Text und Intuition – muss Letztere nun vom wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden? Unbestritten dürfte sein, dass der Künstler auch nach überholtem Geniebegriff intuitiv vorgeht. Verfügt der Philologe jedoch nicht über das nötige Einfühlungsvermögen, dann kann er auch keine Leerstellen aufdecken; allein mit seinem Intellekt käme er nicht weit. Aber inwieweit hilft ihm dabei die Philologie? Nietzsche gesteht der Philologie jenseits von Hast und Ergebnisorientierung, von der “unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich fertig werden will”, eine Kunstfertigkeit zu, die er mit der “Goldschmiedekunst” vergleicht: “Sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen.” Vielleicht sind es ja die vom Künstler nur einen Spalt offen gelassenen Türen, die es uns an der Hand des Philologen ermöglichen, von einer Sphäre in die andere zu wechseln – es ist, in Goethes Worten, der Übergang vom Waten zum Schwimmen. Indem der Philologe “gut”, “emphatisch” (von Albrecht) oder eben intuitiv liest, kann er nicht nur Pfadfinder und Brückenwart in der immer schneller werdenden Welt werden, sondern auch dabei helfen, dass wir dabei nicht den Boden unter den Füßen verlieren.

Friederike Reents

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 02.09.2011
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