"Ich bereite jetzt einige hebräische und aramäische Bücher vor..."

Sebastian Münster in Heidelberg (1524-7) und die Begründung der Semitistik

Von Prof. Dr. Hartmut Bobzin, Erlangen (Gastvortrag in Heidelberg 1996)

Über Geld redet man nicht, - zumal nicht am Anfang eines Vortrags. Aber ich muß es tun. Hätte ich vor fünf Jahren hier zu Ihnen zu diesem Thema geredet, hätte ich z.B. einen Briefumschlag aus dem Jacket ziehen können, - einen Briefumschlag, den der Einladende dem Vortragenden diskret schon vor der Veranstaltung zugesteckt hat, ohne über den Inhalt auch nur ein Wort zu verlieren... Geldscheine haben nun aber nicht nur die von allen primär geschätzte materielle Bedeutung, sondern weisen in ihrer Illustration (übrigens wie Briefmarken) auf eine weitere Dimension: sie "erinnern" an etwas. Und der alte "große Blaue", d. h. Einhundert-Markschein ist es, der uns hier interessiert: Sie alle können sich vielleicht noch an ihn erinnern.

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Ihn ziert nämlich das Porträt von Sebastian Münster. Nun könnte man sagen, daß sein Porträt nur deshalb gewählt wurde - in einer Galerie weiterer Renaissance-Porträts -, weil der wunderbare Pelzkragen für Fälscher so schwer nachzumachen sei. Aber daran wollen wir natürlich nicht glauben, sondern lieber annehmen, man habe damit einen großen Wissenschaftler des 16. Jh.s ehren wollen, - einen Theologen, Geographen und - eben den ersten Semitisten seiner Zeit! Und wir wollen auch nicht, um dies noch vorwegzuschicken, darin, daß "Sebastian Münster" vor fünf Jahren aus dem Verkehr gezogen wurde, ein böses Omen für die Heidelberger Semitistik sehen. Wie sollte an einer Fakultät, an welcher das "kulturelle Gedächtnis" besonders gepflegt wird, ein Fach wie die Semitistik fehlen, die ja ganz alleine mehrere in diesem Zusammenhang besonders interessante Sprachen pflegt? Aber das wäre ein anderes Thema, - das meine heute ist die Erinnerung an einen großen "Semitisten", nämlich Sebastian Münster.

Nun mag man mir vorhalten, daß der Wurm schon im Titel meiner Vorlesung steckt. Es gehört ja zu den Gemeinplätzen der Wissenschaftsgeschichte, daß es erst im 18. Jh. überhaupt zur Begriffsbildung "Semitistik" bzw. "semitische Sprachen" kam 1. Als "Erfinder" der Bezeichnung "semitisch" gilt gemeinhin der Göttinger Historiker und Journalist August Ludwig Schlözer (1735-1809) 2, von dem sein berühmter, ebenso geistvoller wie boshafter Zeitgenosse und Kollege Georg Christoph Lichtenberg (1742-99) sagte3: "Ich halte Schlözern für einen Mann, dem ich meinen Beifall nicht geben kann, aber dessen Beifall mir lieber wäre als vieler andern". Schlözer hat den Begriff "Semiten" als "gemeinsame Bezeichnung für die Hebräer, Araber und Abessinier" eher beiläufig erwähnt4, erst aus dieser gemeinsamen Völkerbezeichnung wurde dann die Bezeichnung "semitische Sprachen" abgeleitet und vor allem durch Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) verbreitet5. Der Sache nach gab es schon weit vor Schlözer "Semitistik", d.h. das Studium von all den Sprachen, deren Verwandtschaft mit dem Hebräischen erkannt war, sowie den Vergleich dieser Sprachen untereinander.

In diesem Zusammenhang muß erwähnt werden, daß es schon in der mittelalterlichen hebräischen linguistischen Tradition Versuche gegeben hat, "vergleichende" Studien zu betreiben. Der berühmteste Gelehrte auf diesem Gebiet war der Spanier Abu Ibrahim Ishaq ibn Yusuf ibn Benveniste Ibn Barun (gest. ca. 1128). Sein Buch "Vergleich zwischen der hebräischen und arabischen Sprache"6 bezog nicht nur den Wortschatz ein, sondern auch eine Fülle weiterer grammatischer Phänomene. Aber ich will diesem interessanten Phänomen hier nicht weiter nachgehen, sondern zurückkehren zu den "christlichen" Hebraisten, zu denen ja auch Sebastian Münster gehört, und ihrem Bemühen um die "Semitistik".

Sebastian Münster7 wurde 1488 in Ingelheim am Rhein geboren. Im nachhinein betrachtet, erweist sich dieser Geburtsort insofern als Glücksfall, als die heute in dieser Stadt ansässige Firma Boehringer einen segensreichen Finanzstrom in die Münster-Forschung hat fließen lassen, so daß es um die Quellen-Publikationen (u.a.) nicht übel bestellt ist. Nur leider sind die biographischen Quellen nicht eben reichlich gesät: 51 erhaltene Briefe8 sind, gemessen an der ohne Zweifel um ein vielfaches größeren Korrespondenz, nur eine magere Ausbeute - man darf annehmen, daß Münster kein weniger fleißiger Briefschreiber gewesen ist als sein etwas älterer Zeitgenosse Erasmus, dessen Korrespondenz mehr als zehn Bände füllt9. Insofern sind die gesicherten Nachrichten vor allem über die Frühzeit Münsters ziemlich spärlich. Allerdings gewinnen sie ein wenig Farbe durch ein äußerst kurioses Dokument, und zwar eine hebräische (!) Trauerrede seines Schülers Oswald Schreckenfuchs (1511-75), die erst seit kürzerem in deutscher Übersetzung vorliegt10.

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Münster studierte wohl von 1505-7 in Heidelberg11 und trat dort dem Franziskanerorden bei, - nach Schreckenfuchs deshalb, weil er "unter ihnen ... sehr bedeutende Logiker, Geographen und Grammatiker ... fand" 12. Nach einem kurzen Aufenthalt in Löwen 1507 wendet er sich für die folgenden zwei Jahre nach Freiburg im Breisgau, wo er Johannes Eck (1486-1543) kennenlernt - den späteren Widersacher Luthers -, mit dem Münster seine geographischen und später auch hebraistischen Interessen teilt. 1509 schickt der Orden Münster nach Rufach im Oberelsaß. Dort "hatte er das Glück", so Schreckenfuchs, "einen Fachlehrer zu finden, der in seiner Zeit unübertroffen war. Sein Name war Konrad Pellikan13, dessen inneres Wesen ebenso rein war wie sein äußeres Betragen. Und damit ich euch die guten Eigenschaften dieses Lehrers kurz darlege ...: er verbarg sein Wissen nicht vor Münster und verschloß es in seinem Busen, sondern er lehrte ihn lieber alles, was er selbst sich aneignen konnte, bis der Student die Höhe seines Lehrers erreichte. Von diesem Lehrer erwarb er die Anfangsgründe der hebräischen Sprache, die zu jener Zeit bemerkenswerterweise nur drei oder vier Männer beherrschten" 14. Man darf hier getrost Schreckenfuchs ergänzen, wer diese Männer waren (christliche Frauen, die Hebräisch konnten, gab es erst im 17. Jh.!), und zwar nach einer "Instauratores linguae sanctae" betitelten Liste, die Münster am Ende seiner "Grammatica hebraea Eliae Levitae" (Basel 1543) bietet: "Io. Capnio Phorcensis [d.i. Johannes Reuchlin15 aus Pforzheim], Con. Pellicanus Rubeaquensis [d.i. Konrad Pellikan aus Rufach], San. Pagninus Lucensis [d.i. Santes Pagninus16 aus Lucca]". Jedenfalls bleibt Münster Pellikan sein Leben lang verbunden, - er nennt ihn auch dann noch seinen "liebsten Lehrer" (praeceptor amicissimus), als er selber seinem Lehrer längst den Rang abgelaufen hat!

In Rufach beschäftigt sich Münster vor allem mit Mathematik, Astronomie und Geographie; dann wendet er sich für drei Jahre (bis 1514) nach Pforzheim. Eine erste Lehrstelle tritt er 1514 in Tübingen an, wo er Theologie und scholastische Philosophie lehrt. In Tübingen lernt er den Astronomen Johannes Stöffler (1452-1531) kennen, der für Münsters naturwissenschaftlichen Werdegang große Bedeutung gewinnt. Die nächste Station Münsters ist Basel, wo er 1518-20/21 das Gleiche wie in Tübingen lehrt.

In Basel erscheint 1520 Münsters erstes Buch, übrigens in Zusammenarbeit mit Konrad Pellikan, der die Sprüche Salomos ediert, und zwar eine "Zusammenfassende Darstellung der hebräischen Grammatik" (Epitome Hebraicae Grammaticae), deren Grundlage der Sefer Miklol des großen mittelalterlichen Grammatikers David Kimhi17 ist.

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Obwohl dieses Buch Münsters inhaltlich nicht so bedeutend ist, begründete es gleichwohl eine lange Zusammenarbeit mit dem Drucker Johannes Froben (gestorben 1527), der als erster in Basel mit hebräischen Typen druckte und auch selber eine kleine hebräische Grammatik verfaßte18. Noch im selben Jahr erscheinen, wiederum mit Pellikan zusammen, "Einige Gebete und Lieder" (lat. Precationes quaedam & Cantica, hebr. tefillot we-shirim), sie enthalten den lateinischen Text nebst hebräischer Übersetzung wichtiger Gebete, angefangen vom Vaterunser über das Apostolische Glaubensbekenntnis bis hin zum Ave Maria. Die ziemlich barbarische hebräische Übersetzung stammt allerdings nicht von Münster, sondern lehnt sich an ältere Vorlagen an. Jedenfalls können die Werke von 1520 wirklich nur als "Vorspiel" zu den zahlreichen späteren, viel bedeutenderen und eigenständigeren Leistungen Münsters betrachtet werden.

Gewiß verläßt Münster im Jahr 1521 nicht freiwillig Basel, wo er so günstige Arbeitsmöglichkeiten hat, sondern auf Geheiß des Ordens, um 1521 ein Lektorat in Heidelberg am Franziskanerstudium auszuüben. Erst 1524 übernimmt er die Professur für Hebraistik an der Universität. In diese Heidelberger Epoche fällt das Erscheinen einiger seiner wichtigsten semitistischen Werke:

(1) Eine ausführliche hebräische Grammatik (Institutiones grammaticae in Hebraeam linguam, Basel 1524), der eine polyglotte Ausgabe des Propheten Jona angehängt ist, die neben dem hebräischen Text den aramäischen des Targum Jonathan, sowie eine griechische und lateinische Übersetzung aufweist. Derartige polyglotte Ausgaben haben übrigens zu dieser frühen Zeit weniger textkritische als vielmehr didaktische Funktionen: sie dienen dazu, das Erlernen der ja noch ganz "neuen" orientalischen Idiome wesentlich zu erleichtern.

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(2) Eine ausführliche aramäische Grammatik (Chaldaica Grammatica, Basel 1527). In ihr behandelt Münster nicht nur das Biblisch-Aramäische, sondern auch die Sprache der aramäischen Bibelübersetzungen, der sog. Targume, sowie der rabbinischen Kommentarliteratur, den sog. Midraschim. Münster rühmt sich in der Vorrede ganz zu Recht, daß er bei diesem Werk ganz auf sich allein gestellt gewesen sei und, anders als etwa Reuchlin bei der Abfassung seiner berühmten "Grundzüge des Hebräischen" (De Rudimentis hebraicis, Pforzheim 1507), keinen Lehrer bei der Hand gehabt habe. Ja, in anderem Zusammenhang hatte Münster kurz vorher bekannt19: "Wir waren selbst Lehrer, ohne vorher Schüler gewesen zu sein". Diese erste aramäische Grammatik ist gerade für die Geschichte der Semitistik von so großer Bedeutung, daß ich später noch einmal darauf zurückkomme!

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(3) Ein ausführliches aramäisches Lexikon (Dictionarium chaldaicum), im gleichen Jahr 1527 in Basel (stets bei Froben!) erschienen wie die aramäische Grammatik. Dieses Lexikon beruht auf einer handschriftlichen Vorlage, und zwar einer heute in der Münchener Staatsbibliothek aufbewahrten Abschrift des talmudischen Wörterbuchs "Aruk ha-kaser" von Natan ben Jechiel20. Münster brauchte für dieses Werk fast ein Jahr, ehe er es im August 1526 abschloß. Übrigens stammt das Frontispicium des Buches von Hans Holbein d. J.

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Vor allem mit den beiden aramaistischen Arbeiten hat Münster zwei weit über seine eigene Lebenszeit hinaus einflußreiche Werke geschaffen, die erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch bessere abgelöst werden sollten. Von entscheidender Bedeutung für den Forschergeist und die wissenschaftliche Produktivität Münsters ist freilich die Tatsache, daß er bei den Erfolgen dieser Arbeiten nicht stehenblieb. Die humanistische Losung "zu den Quellen" (ad fontes) versuchte er im besten Sinne zu verwirklichen, indem er sich bei seinen grammatischen Studien um hebräische Originaltexte bemühte.

Dabei stieß er auf die Werke des zu seiner Zeit angesehensten jüdischen Sprachgelehrten, Eliah Levita (1469-1549). Levita 21, in der Nähe von Neustadt a. d. Aisch in Mittelfranken geboren und dort aufgewachsen, verließ schon früh Deutschland, um sich wechselweise in Rom und in Venedig aufzuhalten. In Rom wurde er zum Lehrer des Kurienkardinals Egidio da Viterbo 22, eines der bedeutendsten christlichen Kabbalisten, und über diesen auch Lehrer von Johann Eck, der bei Elia in drei Monaten mehr lernt, als je zuvor: "Ich bekenne", so schreibt Eck 23, "daß ich dank seiner Gelehrsamkeit so große Fortschritte gemacht habe, daß ich nunmehr auch öffentlich Hebräisch lehren konnte".

Sebastian Münster und Elia Levita haben sich nie getroffen, - es hat nur schriftliche Kontakte gegeben. Wenn sie sich schrieben, geschah es auf Hebräisch, - das war damals üblich zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten, ja gelegentlich sogar unter christlichen Hebraisten untereinander! Leider ist kein Brief Münsters an Elia Levita erhalten, sondern nur ein einziger von Levita an Münster24, in dem er gegen Ende schreibt: "Ich wünschte, ich könnte eine oder zwei Wochen bei Dir sein und von Mund zu Mund mich mit Dir besprechen". Im Jahr 1540 schreibt Münster an seinen Freund Andreas Masius25: "Die hebräischen Briefe, die Elia Levita und viele andere Juden an mich geschrieben haben, konnte ich noch nicht für eine Veröffentlichung bearbeiten; ich habe auch jetzt noch nicht die Absicht dazu, zumal ich zur Zeit ernstere Studien emsig betreibe"26. Münster ist nie zu dieser Editionsarbeit gekommen, was sehr zu bedauern ist; denn diese Briefe hätten einen einzigartigen Einblick gewährt in das gelehrte Gespräch zwischen Christen und Juden zur damaligen Zeit. Und um das hier angesichts der heutzutage in Heidelberg bestehenden "Jüdischen Hochschule" besonders hervorzuheben: die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Pionieren der christlichen Hebraistik, unter ihnen Münster, und jüdischen Gelehrten, die vielfach bei der Erklärung schwieriger Stellen in hebräischen bzw. aramäischen Werken oder aber auch bei der Beschaffung von hebräischen Büchern halfen.

In diesem Zusammenhang nun war für Münster "Elias Germanus" (Elijahu ha-Aschkenazi, wie er sich selber nannte), von großer Bedeutung. "In unserem Deutschland", so schrieb Münster 1531 in der Einleitung zur hebräischen Grammatik des Moses Kimhi27 mit dem Kommentar von Elia Levita28, "findest du nicht leicht einen Juden, der in der Grammatik kundig ist. Einzigartig aber ist Elia Levita Germanus, der durch seine Arbeit leicht alle Juden unseres Zeitalters hinter sich gelassen hat..."29.

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Zum Erscheinen dieses Buches übrigens bemerkt Elia Levita in seinem schon erwähnten Brief folgendes30: "Du machst mir die Mitteilung, daß Du die Grammatik des Rabbi Mosche Kimhi zusammen mit meinem Kommentar dazu übersetzt hast. Aber das berührt mich in der Tat unangenehm, weil ich weiß, daß in letzterem nicht wenige Irrtümer sich eingeschlichen haben, teils von Seiten der Drucker und teils von mir selbst verschuldet. Denn es sind jetzt mehr als dreißig Jahre her, seitdem ich [den Kommentar] verfaßt habe, und ich war damals in der Grammatik noch nicht so stark wie heute. Ich weiß daher, daß ich darin auch mancherlei gesagt habe, was nicht richtig ist; und ich muß mich nur wundern, daß das Werk drei oder vier Mal, sowohl in Italien als auch in der Türkei, gedruckt worden ist, ohne daß sich jemand gefunden hat, der auch nur einen von all den Fehlern, die darin sind, verbesserte. Ob du sie verbessert hast, weiß ich nicht. Darum möchte ich Dir, o Herr, den Rat erteilen: wenn Du mit der Drucklegung noch nicht begonnen hast, so laß nicht früher drucken, als bis Du mir die Übersetzung geschickt, die Du davon gemacht hast; denn ohne Zweifel hast auch Du geirrt; gibt es doch überhaupt keinen Menschen, der nicht Fehler machte. Ich will dann alles durchgehen und nachsehen und das Verfehlte berichtigen..." Diese Passage legt deutlich Zeugnis ab von der wissenschaftlichen Redlichkeit Levitas.

Wie ist Sebastian Münster auf Elia Levita gestoßen? Das geschah gerade während seiner Heidelberger Zeit. In Heidelberg lehrte von 1524-29 Simon Grynäus31 Griechisch, der davor in Ofen (heute Buda) Schulrektor gewesen war. Grynäus war auch ein Kenner des Hebräischen, was gewiß zur Bekanntschaft mit Münster führte. Beide waren unzufrieden über eine komplizierte grammatische Arbeit des Abraham de Balmes (ca. 1440-1523), die 1523 in Venedig unter dem Titel "Miqne Abraham" erschienen32 und Münster von seinem Verleger Johann Froben zugestellt worden war. Dieses Werk war "zu ausführlich und ... schwerfällig, als daß es die hebräischen Sprachstudien hätte erleichtern und fördern können"33. Grynäus machte Münster dann auf Werke des Elia Levita aufmerksam, die dieser sogleich mit dem größten Interesse las, - übersetzte und publizierte! Grynäus ist übrigens, um das hier kurz einzuschieben, noch auf eine andere, kuriose Weise an einer Edition Münsters beteiligt, nämlich der Herausgabe und Übersetzung der "Logik" des großen jüdischen Philosophen Maimonides (1138-1204). Grynäus hatte dieses Werk aus Ungarn mitgebracht, und wohl auch seinen Namen als Besitzvermerk eingetragen. Es wäre kaum angemessen, Sebastian Münster den Fehler in die Schuhe zu schieben34, daß auf dem Titelblatt des 1527 in Basel bei Froben erschienenen Werkes "der weise Rabbi Simeon" (Logica Sapientis Rabbi Simeonis) als Verfasser der Logik firmiert, - gewiß wird das ein Fehler des Setzers gewesen sein35.

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Übrigens weist uns dieses Werk auf die Vielseitigkeit Münsters hin, der keineswegs nur Sprachwissenschaftler war, sondern sich, in guter humanistischer Tradition, auf mehreren Feldern souverän bewegte. Als Münster schon längst nach Basel übergesiedelt war, wo er seit 1529 den Lehrstuhl für Hebräisch einnahm, gab er in Zusammenarbeit mit seinem Schüler Oswald Schreckenfuchs eine hebräische "Kosmographie" heraus mit dem Titel "Form der Erde und Gestalt der Himmelssphären" von Abraham bar Hiyya, einem nach 1136 gestorbenen spanischen Philosophen, Mathematiker und Astronomen36. Das Werk hatte Schreckenfuchs über Elia Levita erhalten und mit Münster zusammen bearbeitet, - und das ist deshalb interessant, weil die Thematik des Buches gleichsam eine Brücke herstellt zwischen Münsters hebraistischen und geographisch-kosmographischen Arbeiten.

Doch zurück zu Levita und Münster! 1525 publizierte Münster erstmals seine lateinische Übersetzung von Levitas Grammatik "Sefer ha-bahur", und zwar zusammen mit einer eigenen "Einleitung" in die Grammatik. Dieses Buch wurde, in immer wieder von Münster veränderter, wohl auch verbesserter Form herausgegeben, auch noch nach Münsters Tod 1552; damit gehört diese hebräische Grammatik zu den bedeutendsten des 16. Jh.s, ja sie hat auch noch später manchem Hebraisten als Lehrbuch gedient, wie sich z. B. an den Beständen der an Hebraica reichen Erlanger Universitätsbibliothek zeigen läßt. Münsters in jeder Hinsicht zu lobender Hang zur "Nützlichkeit" hat ihn noch zahlreiche weitere Werke verfassen lassen, die der Erleichterung des Hebräischstudiums dienten, wie z.B. Konjugationstabellen, - aber auch eine zweisprachige, hebräisch-lateinische Ausgabe des Alten Testaments; sie fand übrigens nicht das Gefallen Luthers, der Münster vorwarf, er sei zu sehr von den "Rabbinen" abhängig37! Aus heutiger Sicht betrachtet ist der Vorwurf absurd, ja viel eher als Lob zu betrachten, denn gerade darin liegt ja eines der großen Verdienste Münsters, daß er - ebenso wie sein in Zürich wirkender Lehrer Konrad Pellikan - die Aufmerksamkeit auf die nachbiblische jüdische Literatur einschließlich der zeitgenössischen Literatur der Juden lenkte.

In genau diesen Zusammenhang gehören natürlich auch die aramaistischen Arbeiten aus Münsters Heidelberger Jahr 1527! Denn die nachbiblische jüdische Literatur ist ja zu einem nicht geringen Teil, wie z.B. die Gemara des Talmud, auf Aramäisch verfaßt. Die "Grammatica Chaldaica" hat nun eine sehr interessante Einleitung, die wir etwas näher betrachten wollen. Hier geht es nämlich um die - heute veraltete - Bezeichnung "Chaldäisch": Münster versteht darunter das Aramäische der Bibel sowie des Targum (d.h. der alten jüdisch-aramäischen Bibelübersetzung) und des Talmud, - so wie wir heute auch noch. Es hätte dieser Ausführungen Münsters nicht bedurft, wenn nicht 1518 in Köln ein viersprachiger Psalter erschienen wäre, in dem die Sprache, die wir heute Äthiopisch oder noch genauer Geez nennen, als Chaldäisch bezeichnet wird.

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Der Herausgeber dieses Psalteriums, der Kölner Propst Johann Potken38, beruft sich dabei auf namhafte Informanten: aber daß er damit wenig Gegenliebe gefunden hat, sieht man schon an dem hier gezeigten Titelblatt, in dem der "Fehler" von zeitgenössischer Hand korrigiert ist. Auch Münster lehnt Potkens Bezeichnung ab39, - und in diesem Zusammenhang präsentiert er eine Liste von Wörtern, in denen das Äthiopische mit dem Hebräischen und "Chaldäischen" nur sehr teilweise übereinstimmt.

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Daraus schließt er, daß man lieber den Rabbinen und christlichen Gelehrten folgen solle, die unter Chaldäisch eben Aramäisch verstehen. Das von Potken so genannte "Chaldäisch" sei vielmehr "Indisch" (deshalb die "Indianae voces" auf Abb. 10!)40. In seinem Vorwort geht Münster dann überhaupt auf die Verwandtschaft zwischen diesem "Indisch" (d.h. Äthiopisch), dem Hebräischen, Chaldäischen und "Saracenischen" (d. h. dem Arabischen) ein, auch für die letzten drei Sprachen präsentiert er eine kleine Liste mit verwandten Wörtern, die er einer sehr berühmten Vokabelliste aus einem Reisebericht entnommen hat.

Jede große Wissenschaft fängt klein an: Münster beginnt in diesem "Vorwort" mit der Entfaltung einer "vergleichenden" Semitistik, oder noch genauer: einer "wörtervergleichenden". Andere Forscher nach ihm nehmen noch im 16. Jh. den Faden auf, etwa der berühmte Franzose Guillaume Postel41, dessen Sammeleifer die alte Heidelberger Bibliothek ihre ersten orientalischen Handschriften verdankte 42. Er schrieb 1539 eine Skizze über zwölf verschiedene Sprachen, darunter das Hebräische, Aramäische, Arabische und Äthiopische. Oder Münsters Zürcher Kollege Theodor Bibliander43, der 1548 ein bemerkenswertes Buch über die Gemeinsamkeiten von Sprachen verfaßte44.

Münsters Verdienste um die Semitistik stehen also ganz außer Zweifel: er wies der Sprachvergleichung den Weg, er schuf hervorragende Hilfsmittel, Grammatiken wie Lexika des Hebräischen wie des Aramäischen, sowie eine kommentierte Ausgabe der hebräischen Bibel.

 

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1 Cf. J. Fück, "Geschichte der semitischen Sprachwissenschaft", in: Handbuch der Orientalistik I/3, Leiden 1964, S. 31ff.

2 Vgl. F. Frensdorff, in: ADB 31 (1890) 567-600; ders., Von und über Schlözer, Berlin 1809 (= Abhh. d. kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-hist. Kl., NF XI, Nr. 4). Ferner R. Smend, Über einige ältere Autoren des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, in: ders., Bibel, Theologie, Universität, Göttingen 1997, S. 217-37, hier S. 220-24. Zum Biographischen s.a. B. & H. Kern, Madame Doctorin Schlözer. Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung, München 1988.

3 Sudelbücher, D 421; in: G. C. Lichtenberg, Schriften und Briefe I, hg. v. W. Promies, München 1968 = 19803, S. 293.

4 Vgl. Bobzin, in: ZAL 22 (1990), S. 88.

5 Und zwar mittels seiner Einleitung ins Alte Testament, Theil I, Leipzig 17872, in der es S. 45 heißt: "Die Sprache, welche die Hebräer redeten ..., war ein Dialekt der weit ausgebreiteten Semitischen Sprache"; vgl. Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, Bd. 6 (1794), 5. Stück, S. 772ff. Vgl. zu Eichhorn R. Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, S. 25-37.

6 K. al-muwâzana baina l-lugha al-'ibraniya wa-l-lugha al-'arabiya, entstanden ca. 1100. Vgl. W. J. van Bekkum, in: Lexicon Grammaticorum, ed. H. Stammerjohann, Tübingen 1996, S. 440f.; ferner P. Wechter, Ibn Barun's Arabic works on Hebrew grammar and lexicography, Philadelphia, Pa. 1964.

7 Wichtigste Arbeiten zu ihm: K. H. Burmeister, Sebastian Münster. Versuch eines biographischen Gesamtbildes, Basel und Stuttgart 1963, 19692 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 91); ders., Neue Forschungen zu Sebastian Münster, Ingelheim 1971 (= Beiträge zur Ingelheimer Geschichte, Heft 21); ders. (Hg. und übers.), Sebastian Münster: Briefe. Lateinisch und Deutsch, Franfurt a. M. 1964.

8 Die Briefausgabe enthält 50 Briefe, ein weiterer findet sich in Burmeister (1971), S. 28f.

9 Der Titel der vorliegenden Vorlesung stammt übrigens aus einem Brief Münsters an den Erasmus-Schüler Beatus Rhenanus (1485-1547), s. Briefe, S. 16 bzw. 20.

10 Erasmus Oswald Schreckenfuchs, Trauerrede zum Gedächtnis seines Lehrers Sebastian Münster Freiburg 1552, Ingelheim 1960 (= Beiträge zur Ingelheimer Geschichte, Heft 12).

11 Sein Name erscheint nicht in der Matrikel; vgl. dazu Burmeister (1963), S. 16f.

12 S. 12 (vgl. Anm. 10!).

13 1478-1556; an Literatur zu ihm vgl. H. Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa, Beirut u. Stuttgart 1995 (= Beiruter Texte und Studien, Bd. 42), S. 163, Anm. 31; umfassend vgl. C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526-1556 (= Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, 4).

14 S. 13 (vgl. Anm. 10!).

15 Vgl. H. Kling und S. Rhein (Hgg.), Johannes Reuchlin (1455-1522), Sigmaringen 1994 (= Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 4); A. Herzig und J. H. Schoeps (Hgg.), Reuchlin und die Juden, Sigmaringen 1993 (= Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 3)

16 1470-1541, cf. LThK2 VII, 1349. Sein Thesaurus linguae sanctae erschien erstmals in Lyon 1529.

17 ca. 1160 - ca. 1235; cf. W. J. van Bekkum, in: Lexicon Grammaticorum, ed. H. Stammerjohann, Tübingen 1996, S. 511f.

18 Rudimenta quaedam Hebraicae grammatices, Basel 1522. Vgl. dazu J. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke (1492-1866), Olten 1964, Nr. 12.

19 Aus dem Vorwort zur Grammatica Hebraea absolutissima, Basel 1525, zit. nach G. Weill, Elie Lévita, Leiden 1963, S. 224.

20 1035 - ca. 1110; vgl. W. J. van Bekkum, in: Lexicon Grammaticorum, ed. H. Stammerjohann, Tübingen 1996, S. 669. Auf derselben Vorlage beruht übrigens auch das 1523 in Rom erschienene Enchiridion expositionis vocabulorum Haruch etc. von Sanctes Pagninus (vgl. Anm. 16).

21 Vgl. zu ihm die in Anm. 19 zit. vorzügliche Biographie von Weill.

22 Vgl. zu ihm Bobzin, Koran (wie Anm. 13), S. 84-88 (mit weiterer Lit.).

23 Nach Weill, Lévita, S. 220.

24 Moritz Peritz, "Ein Brief Elijah Levita's an Sebastian Münster", in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 2 (1894) 252-67, hier S. 265f.

25 1514-73; vgl. zu ihm Bobzin, Koran, S. 278f. u. ö.

26 Briefe, ed. Burmeister, S. 42 (Brief Nr. 9).

27 Bruder des oben erwähnten David Kimhi; vgl. zu ihm W. J. van Bekkum, in: Lexicon Grammaticorum, ed. H. Stammerjohann, Tübingen 1996, S. 512f.

28 Grammatica Rabbi Mosche Kimhi, iuxta hebraismum per Sebastianum Munsterum uersa. Acceßit & utilißimum in eandem Eliae Levitae commentarium. Basel: Cratander 1531. Vgl. Prijs, Drucke (wie Anm. 18), Nr. 33.

29 "... in nostra Germania, ubi non facilem Iudaeum aliquem invenies, qui grammaticae peritus sit. Unicus est Elias Levitas Germanus, qui suo studio facile superavit omnes nostrae aetatis Iudaeos."

30 Vgl. Anm. 24, S. 263ff.

31 1493-1541; s. Ch. H. Lohr, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IV, 19953, Sp. 1085.

32 Verfaßt übrigens auf Veranlassung des bekannten Druckers Daniel Bomberg.

33 Wilhelm Bacher, Die hebräische Sprachwissenschaft (Vom 10. bis zum 16. Jahrhundert.), Amsterdam 1974 (Repr.), S. 228.

34 So Friedrich Niewöhner, Maimonides. Aufklärung und Toleranz im Mittelalter, Wolfenbüttel u. Heidelberg 1988 (= Kleine Schriften zur Aufklärung, 1), S. 9.

35 Man muß dabei bedenken, daß viele Bücher in großer Eile gedruckt wurden.

36 Vgl. zu ihm Colette Sirat, A History of Jewish Philosophy in the Middle Ages, Paris / Cambridge 1995 (repr.), S. 97ff.

37 Vgl. Burmeister, Münster, S. 96f.

38 1470-1524; vgl. zu ihm H. Bobzin, Miszellen zur Geschichte der Äthiopistik. 1: Zu Johann Potkens Psalterium in Quatuor linguis (Köln 1518); 2: "Vera Chaldaea": zur zeitgenössischen Kritik an Johann Potken, in: G. Schoeler & W. Heinrichs (Hrsg.), Festschrift für Ewald Wagner. Beirut 1994 (= Beiruter Texte & Studien, Bd. 54/1: Semitische Studien unter besonderer Berücksichtigung der Südsemitistik), S. 82-92.

39 ebd., S. 87f.

40 In der mittelalterlichen Tradition werden die "Äthiopier" häufig fälschlich als "Inder" bezeichnet; vgl. dazu A.-D. van den Brincken, Die "Nationes Christianorum Orientales" im Verständnis der lateinischen Historiographie, Köln u. Wien 1973, S. 262ff.

41 1510-81; vgl. zu seinem orientalistischen Werk Bobzin, Koran, S. 365-497.

42 Vgl. dazu E. Mittler (Hg.), Bibliotheca Palatina, Heidelberg 1986, S. 414ff.

43 1504-64; vgl. Bobzin, Koran, S. 159ff.

44 Vgl. dazu G. J. Metcalf, Theodor Bibliander (1504-1564) and the Languages of Japheth's Progeny, in: Historiographia Linguistica 7 (1980) 323-333.

Seitenbearbeiter: J. Buchholz
Letzte Änderung: 02.11.2012
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