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Maryam DezhamkhooyArchäologin der Moderne

Porträt Maryam Dezhamkhooy

Die Himmelsscheibe von Nebra, ägyptische Pharaonengräber oder die Ruinen von Pompeji – an solche Jahrtausende alten Funde denken viele beim Begriff „Archäologie“. Doch auch wenn die wörtliche Übersetzung „Lehre von den alten Dingen“ bedeutet, beschäftigt sich diese Wissenschaft anhand materieller Hinterlassenschaften mit der gesamten kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit. Die iranische Archäologin Dr. Maryam Dezhamkhooy widmet sich in ihrer Forschung der Archäologie der zeitgenössischen Vergangenheit und der modernen materiellen Kultur. Besonders interessieren sie dabei zwei noch eher unbekannte Forschungsgebiete, deren Ursprünge in den 1970er-Jahren liegen: Die Genderarchäologie sowie die sogenannte Garbologie – die Archäologie des Mülls.

„Archäologen, die sich für die Gegenwart interessieren, interessieren sich häufig für die dunkle Seite der Moderne, beispielsweise für Konflikte, Klimawandel, Abfall oder politische Spannungen“, erklärt Maryam Dezhamkhooy. Das bildet die Gemeinsamkeit der beiden Forschungsprojekte, denen die 40-Jährige aktuell als assoziierte Wissenschaftlerin am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS) der Universität Heidelberg nachgeht: Sie forscht zu Abfall- und Müllgemeinschaften sowie zum Widerstand von Frauen gegen importierte Konsumgüter im Iran des frühen 20. Jahrhunderts.

„In meiner Forschung zu Müll will ich analysieren, wie die Politik des Konsums und des Abfalls die Wirtschaft verändert, Armut erzeugt und die Ungleichheit in der Welt vergrößert“, erklärt sie. Der Begründer der Garbologie, der US-amerikanische Archäologe William Rathje, verglich in den 1970er-Jahren Abfälle mit Zensus-Daten und schlussfolgerte, dass man mit Techniken der klassischen Archäologie bei der Untersuchung zeitgenössischen Mülls zu aufschlussreichen gesellschaftlichen Rückschlüssen kommen kann. „Müll ist aktuell ein großes Problem, nicht nur der armen Länder, wie viele in Europa meinen, sondern weltweit“, betont Maryam Dezhamkhooy. Es gebe immer größere Müllberge und wachsenden Müll im Meer sowie immer mehr Menschen, die sich auf Mülldeponien ansiedelten – diese Gemeinschaften will sie nun aus archäologischer Sicht betrachten und beispielsweise untersuchen, wie der Klimawandel sie beeinflusst oder welche Marginalisierung sie erfahren. Die Garbologie sieht sie als eines der aufstrebenden interdisziplinären Gebiete, das eine führende Rolle in der Forschung für Nachhaltigkeit spielen und die Archäologie „praktischer und nützlicher“ machen kann.

Archäologen, die sich für die Gegenwart interessieren, interessieren sich häufig für die dunkle Seite der Moderne.

Maryam Dezhamkhooy

Viel Potenzial sieht sie auch in der Genderarchäologie, die in den gesellschaftlichen Entwicklungen der 1970er-Jahre wurzelt und in Skandinavien und den USA etablierter ist als in Deutschland. Diese archäologische Forschungsrichtung beschäftigt sich mit der Rollenverteilung der Geschlechter in der jeweiligen Gesellschaft und geht dabei von der Grundannahme aus, dass solche Rollen nicht biologisch, sondern sozial bedingt und erlernt sind. „Das Thema interessiert vor allem Frauen, aber wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir alle uns damit beschäftigen“, betont die Wissenschaftlerin. Um die Genderarchäologie auch in ihrem Heimatland bekannt zu machen, schrieb sie bereits ihre Doktorarbeit über Männer im Sassanidenreich des persischen Altertums.

In ihrer aktuellen genderarchäologischen Forschung interessiert Maryam Dezhamkhooy die Frauenbewegung im Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem deren wirtschaftliche Bedeutung. Damals sei das Pahlavi-Regime nach der nationalen Revolution, an der auch Frauen mitwirkten, zwar die erste moderne Regierung Persiens gewesen, habe aber staatliche Frauenorganisationen bevorzugt und unabhängige Frauenbewegungen unterdrückt. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive heraus organisierten sich diese Frauen gegen den Import europäischer Produkte, die die traditionelle persische Industrie damals fast zerstört hätten. Wichtig ist Maryam Dezhamkhooy diese Forschung auch deswegen, weil in der westlichen Welt ein falsches Bild von Frauen in islamischen Ländern vorherrsche: Diese würden meist nur als unterdrückte Wesen wahrgenommen. „Dabei spielen Frauen im Iran nicht nur bei den aktuellen Protesten eine führende Rolle, sondern sie waren auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich sehr aktiv und haben viel bewegt“, betont sie. „Mittlerweile hat sich die Gesellschaft positiv verändert, wie die breite Unterstützung der Proteste im Namen der Frauen- und Menschenrechte zeigt – eine wertvolle Errungenschaft, die mehr als 100 Jahre gebraucht hat.“

Maryam Dezhamkhooy

In Heidelberg sieht Maryam Dezhamkhooy die passende „avantgardistische akademische Atmosphäre“ für ihre Forschung, „in der Kreativität und die Erkundung neuer Territorien geschätzt werden“, was in der konservativen Archäologie sonst eher nicht der Fall sei. Zum ersten Mal kam sie 2016 als Humboldt-Gastwissenschaftlerin an das Institut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie, nachdem sie Prof. Dr. Thomas Meier kennengelernt hatte, der dort eine Professur innehat und einer der beiden Direktoren des neu gegründeten CAPAS ist. Zuvor arbeitete Maryam Dezhamkhooy, die aus der iranischen Kulturhauptstadt Schiraz – der Heimat des bedeutenden persischen Dichters Hafis, der Goethe sehr beeinflusste – stammt, als Archäologie-Professorin an der Universität Birjand, nachdem sie nach ihrer Promotion bereits mit 27 Jahren Assistenzprofessorin geworden war. Ob sie weiter in Deutschland bleibt oder in den Iran zurückkehrt, ist noch offen – zwar möchte sie gerne wieder im Iran forschen, allerdings unter der derzeitigen Regierung nicht an einer Universität. „Zum Glück gibt es aber viele Bibliotheken und Archive, in denen ich unabhängig weiter forschen kann. Als ‚Humboldtianerin‘ kann ich aber auch regelmäßig für Forschungsaufenthalte nach Deutschland zurückkehren, was sehr wichtig ist, denn ich brauche für meine Forschung nicht nur wissenschaftliche, sondern auch finanzielle Unterstützung – und die will ich nicht von der derzeitigen iranischen Regierung bekommen.“

(Erscheinungsjahr 2022)

Weiterführende Informationen

Das Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS)

Das Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS) an der Universität Heidelberg untersucht seit 2021, wie sich Katastrophen und Endzeitszenarien auf Gesellschaften, Individuen und Umwelten auswirken. Ziel ist es, Systemumbrüche und ‑zusammenbrüche auf Grundlage eines transdisziplinären Forschungsansatzes differenziert zu beschreiben. Auch Reaktionen auf apokalyptische Szenarien sowie Zukunftsentwürfe für die Zeit nach der Katastrophe sollen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen historischen und kulturellen Rahmenbedingungen analysiert werden. CAPAS versteht sich als Reflexionsplattform, um die gesellschaftliche und politische Resilienz gegenüber Endzeitszenarien zu stärken und gesellschaftliche Risiken zu antizipieren. Dafür lädt das Kolleg Wissenschaftler:innen aus aller Welt zu Forschungsaufenthalten ein. CAPAS-Direktoren sind der Romanist Prof. Dr. Robert Folger und der Archäologe Prof. Dr. Thomas Meier.