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KULTUR & NATUR

LIEBE LESERINNEN UND LESER DER RUPERTO CAROLA,

Natur und Kultur beziehungsweise Natur und Mensch sind keine Gegensätze. Sie gehören aus Sicht der Geowissenschaften zum System Erde. Die Diskussion um das „Anthropozän“ als neue erdgeschichtliche Epoche ist Ausdruck dafür. Dennoch sind wir geprägt von der Perspektive des Judentums, des Christentums und des Islam, die den Menschen hervorheben und ihm eine besondere Rolle oder Bedeutung zuschreiben. Daraus entsteht ein Dualismus, der zuweilen auch in Gegensätzliches umschlägt: Natur und Kultur – Gegensätze oder nur zwei Ansichten derselben Medaille?

Sind der Mensch und sein Wirken Teil des Systems, ist seine „Kulturleistung“ naturdeterminiert? Dieser Auffassung auf Grundlage des Darwinismus, die zum Beispiel durch den Geographen und Ökonomen Ellsworth Huntington vor dem Ersten Weltkrieg vertreten wurde, hat man im 20. Jahrhundert im Kontext des Bedeutungsgewinns der Sozialwissenschaften die These entgegengestellt, der Mensch und damit auch Kulturentwicklung seien rein vom menschlichen Willen, von seiner unabhängigen geistig-sozialen Leistungsfähigkeit und seinem Gestaltungswillen bestimmt. Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich ausgehend von interdisziplinären Projekten und einem fachübergreifenden Diskurs der Gedanke weiter etabliert, dass Mensch und Natur zwar eine Einheit bilden, etwas, das vielen Naturreligionen nicht fremd ist, innerhalb dieser Einheit der Mensch aber als soziokulturelles Wesen im Rahmen der natürlichen Möglichkeiten durchaus Gestaltungsspielraum, besonders in der Wahl seiner Mittel, hat. Dieses neodeterministische Weltbild scheint sich derzeit immer mehr durchzusetzen.

Immer deutlicher wird, dass angesichts der Komplexität des Systems Erde, und bewusst einschließlich des Menschen verstanden, ein monodisziplinärer Forschungsansatz allenfalls Detailwissen und Einzelprobleme zu lösen hilft. Komplexe Herausforderungen erfordern multidisziplinäre Zusammenarbeit, zumindest um die Ergebnisse von Fachdisziplinen einzuordnen und richtig bewerten zu können. Die Wirklichkeit ist komplex, das zeigt auch das vorliegende Heft KULTUR & NATUR. Die 15. Ausgabe der RUPERTO CAROLA stellt sich dieser Herausforderung, ohne den Anspruch zu erheben, auf alle Fragen dazu eine Antwort zu präsentieren. Aber zum eigenen Nachdenken anzuregen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und damit populären simplen Antworten verschiedenster Interessengruppen entgegenzutreten, diesem Ziel kann man mit den Beiträgen aus Lebens-, Geistes-, Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften näherkommen. Dazu ist Offenheit gefordert, also auch die Fähigkeit, nicht unreflektiert hochselektierten und vorgefertigten Meinungsbausteinen zu folgen – diese Offenheit im (Über-)Denken ist ganz im Sinne unseres Universitätswahlspruchs „Semper Apertus“. Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre.

Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Eitel
Rektor der Universität Heidelberg

Ausgabe 15 · Dezember 2019