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Interview mit Maryam DezhamkhooyGenderarchäologie und die Frauenbewegungen im Iran

20. Dezember 2022

Interview mit der Wissenschaftlerin Dr. Maryam Dezhamkhooy

Unter Archäologie stellen wir uns gemeinhin die Erforschung historischer Funde vor. Sie aber widmen sich der zeitgenössischen Vergangenheit und der modernen materiellen Kultur. Was sind der Anlass und der Reiz, sich als Archäologin mit der Moderne zu beschäftigen?

Dezhamkhooy: Die Archäologie wurde entscheidend durch den Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst und es finden sich noch immer bewusste oder unbewusste koloniale Praktiken in dieser Disziplin. Das zeigt sich beispielsweise in der Ägyptologie oder der Vorderasiatischen Archäologie, wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Westen mit antiken Gegenständen beschäftigen, die der Bevölkerung vor Ort vorenthalten bleiben. Zudem sind die Forschungsthemen der Archäologie eher konservativ in dem Sinne, dass vor allem sehr alte Objekte untersucht werden, während die Erforschung der Moderne noch immer als nicht dieser Disziplin zugehörig wahrgenommen wird. Dabei wurde die Archäologie der Gegenwart bereits in den 1970er Jahren von William Rathje begründet. Der US-amerikanische Wissenschaftler verfolgte das Ziel, eine Forschungsrichtung zu entwickeln, die sich mit den Problemen ihrer Zeit beschäftigt. Als Studentin wollte ich über konservative Ansätze und Interpretationen hinaus einen neuen Zugang zur Archäologie finden und bin dadurch zur Archäologie der Gegenwart gelangt. So kann ich zu heutigen Gesellschaften forschen und mich mit aktuellen Herausforderungen der Menschheit beschäftigen.

Portrait Maryam Dezhamkhooy

Ein Schwerpunkt Ihrer Forschung ist die Genderarchäologie, die sich mit der Rollenverteilung der Geschlechter in einer Gesellschaft beschäftigt: Was macht diese Forschungsrichtung aus?

Dezhamkhooy: Genderarchäologie ist sehr vielfältig und nimmt je nach Kontext und Zeit unterschiedliche Themen in den Fokus. Diese Forschungsrichtung entstand im Zuge der Frauenbewegungen im 20. Jahrhundert und hat sich seitdem zu einer dynamischen Unterdisziplin der Archäologie entwickelt. Als Forscherin, die sich mit dem Nahen Osten und insbesondere mit dem Iran beschäftigt, interessiert mich vor allem die kritische Interpretation der jüngsten Geschichte. Von staatlicher Seite aus wurde die Darstellung der vormodernen Geschichte des Landes und seiner Bewohner, besonders die Rolle der Frauen in der Gesellschaft sowie Fragen sexueller Diversität, immer wieder manipuliert. Das Regime unter Mohammad Reza Schah Pahlavi und nach seinem Sturz die Islamische Republik haben einen großen Einfluss auf die Inhalte von Lehrbüchern – sowohl im schulischen als auch im universitären Kontext. Das führte dazu, dass die Bedeutung von Frauen in der offiziellen Geschichtsschreibung negiert wird, ebenso wie bei anderen unterdrückten Bevölkerungsgruppen. Mit meiner Forschung möchte ich zeigen, dass Geschlecht und Rollenverteilung dynamisch sind und ahistorische Interpretationen in der wissenschaftlichen Arbeit vemieden werden sollten. Es ist sehr wichtig, dass die akademische Welt die gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme sichtbar macht und wissenschaftlich analysiert. Politische Strukturen und Machtgefüge sind ein wichtiger Teil meines Forschungsinteresses.

In Ihrer aktuellen Forschung blicken Sie insbesondere auch auf die iranische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der westlichen Welt herrscht ein falschen Bild von Frauen in islamisch geprägten Ländern vor, sagen Sie. Was können wir aus Ihrer Forschung für die aktuelle Situation lernen?

Dezhamkhooy: Zunächst muss betont werden, dass die Länder des Ostens sehr vielfältig sind und auch innerhalb eines Landes eine große kulturelle Diversität herrscht. Anders als in westlichen Medien dargestellt, gibt es nicht „die“ muslimische Frau; Frauen in islamisch geprägten Ländern bilden keine homogene Gruppe.

Wenn wir die gegenwärtige Frauenbewegung im Iran verstehen wollen, müssen wir ihre historischen Wurzeln berücksichtigen. Mir ist dabei wichtig, die aktive Rolle der Frauen in meiner Forschung hervorzuheben, da ihr Einsatz für die Freiheit noch immer vernachlässigt wird. Frauen spielten im Iran sowohl während als auch nach der ersten demokratischen Revolution 1906 eine bedeutende Rolle. Historische Quellen und Dokumente belegen, dass die Frauen Unterstützungsprogramme organisierten, dass sie Organisationen und Betriebe gründeten, um zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Neuordnung des Landes beizutragen. Im Zuge der Revolution von 1979 protestierten Frauen am 8. März – zwei Wochen nach der Errichtung des islamischen Regimes – gegen einen Kopftuchzwang.

Wenn man auf die Frauenbewegungen der vergangenen hundert Jahre blickt, ist die aktive Rolle der Frauen heute daher keine Überraschung. Die Gesellschaft hat sich positiv verändert und Frauen übernehmen nach einem langen Kampf für Gleichberechtigung in den aktuellen Protesten eine Führungsrolle und werden von Männern unterstützt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die iranische Gesellschaft eine gewisse intellektuelle Reife erreicht hat. Das ist eine wertvolle Errungenschaft, die mehr als hundert Jahre gebraucht hat.

In den vergangenen Jahren sind im Iran immer wieder Menschen gegen das Regime auf die Straße gegangen, die internationale Sichtbarkeit und Wahrnehmung war jedoch geringer als zur Zeit. Was ist in der aktuellen Situation anders?

Dezhamkhooy: Die aktuelle Bewegung ist tief in vergangenen Protesten verwurzelt – ausgehend von den Studentenprotesten an der Universität Teheran im Jahr 1999, die durch ein Verbot der liberalen Zeitung „Salam“ ausgelöst wurden und den Schutz der Bürgerfreiheiten forderten. Außerdem gab es die sogenannte Grüne Bewegung als Antwort auf das Ergebnis der iranischen Präsidentsschaftswahl von 2009, das dem bisherigen Amtsinhaber die absolute Stimmenmehrheit einräumte. An den öffentlichen Protesten und Demonstationen beteiligten sich Intellektuelle, Studierende und die Mittelschicht. In den Jahren 2018, 2019 und 2021 gab es wiederholt Demonstrationen aufgrund der wirtschaftlichen Krise und weil Wasserknappheit als Folge des Klimawandels die Lebensgrundlage verschiedener Bevölkerungsgruppen wie Landwirte, Züchter und Hirten gefährdet. Die letzte Welle dieser Demonstrationen erstreckte sich über das ganze Land.

Zusammenfassend lassen sich drei Aspekte benennen, die die aktuellen Proteste von vorherigen unterscheiden: Sie finden im Namen der Frauen- und Menschenrechte statt; der Hauptslogan lautet „Frauen, Leben, Freiheit“. Landesweit solidarisieren sich Studierende und andere Gruppen in der Bevölkerung wie beispielsweise Lehrkräfte sowie Arbeiterinnen und Arbeiter und protestieren gemeinsam gegen das Regime. Und die Proteste halten länger an als frühere Demonstrationen.

Die Bewegung wird heute durch folgende Faktoren bestimmt: durch das Ausmaß und die Dauer der Proteste, durch die damit verbundenen Forderungen im Hinblick auf Frauen- und Menschenreche sowie durch die aktuellen internationalen Verflechtungen. Die Ukrainekrise und die Rolle der Islamischen Republik in diesem Krieg sind dabei entscheidend. Insbesondere die Außenpolitik der Islamischen Republik, die durch die engen Beziehungen zu China und Russland gekennzeichnet ist, richtet sich gegen die Interessen vieler Länder, vor allem gegen europäische Staaten. Ein weiterer Faktor ist die Energiekrise, die aktuell eine große Herausforderung für die Westliche Welt darstellt. Der Iran könnte ein Hauptlieferant für Energie sein, da das Land über die zweitgrößten Gasquellen der Welt verfügt. Aus meiner Sicht hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine sowie die damit einhergehende Energiekrise starke Auswirkungen auf die innenpolitische Situation des Iran – sowohl auf die aktuellen Proteste als auch auf die Zukunft der iranischen Bevölkerung insgesamt.

Die Proteste sind auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen und dabei spielen vor allem die politischen Entscheidungen der europäischen Länder – zum Beispiel in Bezug auf Energielieferungen und Sanktionen – eine wichtige Rolle. Bei Gaslieferungen des Irans nach Europa würde vor allem das Regime von den Einnahmen profitieren. Aktuell hat Russland jedoch einen großen Einfluss auf die iranische Regierung und unterbindet aus eigenem Interesse Gaslieferungen in europäische Länder. Ähnlich kompliziert gestaltet sich die Situation mit Sanktionen, unter denen zumeist die einfache Bevölkerug leidet, beispielsweise weil es zu einem Mangel an Medikamenten kommt. Sanktionen sollten nicht allgemein verhängt werden, sondern sich explizit an bestimmte Personen der revolutionären Garde oder regimetreue Verbände richten, um etwas zu bewirken.

Was erwarten Sie für die Zukunft von den anhaltenden Protesten?

Dezhamkhooy: Die Veränderungen im Iran in den vergangenen Jahren können mit den Worten des Soziologen Asef Bayat als „The Quiet Encroachment of the Ordinary“ bezeichnet werden. Mit diesem „stillen Vordringen“ der einfachen Bevölkerung ist eine Art Widerstand gegen die Machtelite gemeint, der schleichend vonstatten geht und durch episodische kollektive Aktionen gekennzeichnet ist. Insbesondere junge Menschen, Frauen und Minderheiten schaffen sich immer mehr Raum in der Öffentlichkeit. Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass sich Frauen den Vorschriften des Regimes widersetzen. Sie lassen sich ohne Kopftuch fotografieren und werden im öffentlichen Raum immer sichtbarer. Außerdem wird verstärkt über die Rechte von Minderheiten wie Homosexuellen diskutiert. Das zeigt, dass sich die iranische Bevölkerung tiefgreifend verändert hat; viele wollen nicht mehr zurück zu früheren Zeiten. Das setzt die Regierung unter Druck. Ob dieser Druck reicht, das Regime zu stürzen, ist schwer zu sagen, aber langfristig hat es meiner Einschätzung nach keine Chance – insbesondere dann nicht, wenn auch der Druck von außen zunimmt. Dazu trägt zum Beispiel die jüngst verabschiedete Resolution der Vereinten Nationen bei. Sie soll es ermöglichen, die Gewalt der iranischen Führung gegen friedlich Demonstrierende unabhängig zu untersuchen.

Zur Person

Maryam Dezhamkhooy hat Archäologie an der Universität Teheran (Iran) studiert und wurde dort 2011 promoviert. Im Iran war sie nach Lehrauftägen an der Shiraz Azad Universität und der Larestan Azad Universität fünf Jahre als Assistenzprofessorin für Archäologie an der Universität Birjand tätig bis sie 2016 als Alexander von Humboldt-Stipendiatin nach Deutschland kam. Zurzeit ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien der Universität Heidelberg tätig. Dort forscht sie zu den Begriffen Nation und Staatsbürgerschaft sowie zur Frauenbewegung im Iran der jüngsten Vergangenheit.