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ForschungAltersempfinden zwischen gestiegener Lebensqualität und gesellschaftlicher Wahrnehmung

11. November 2021

Forscher werten Daten zu Alterssichtweisen in Deutschland und den USA aus

Die Lebensqualität älterer Menschen ist, wie empirische Untersuchungen belegen, in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Das hat jedoch keine Auswirkungen auf das subjektive Altersempfinden der Betreffenden: Ältere Menschen nehmen das eigene Altern heute nicht positiver wahr als Gleichaltrige vor rund zwanzig Jahren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie unter Leitung von Alternsforschern und Psychologen der Universität Heidelberg und der Humboldt-Universität zu Berlin, die auf Daten zu Alterssichtweisen in Deutschland und den USA beruht. Gründe dafür sehen die Wissenschaftler in eher negativen gesellschaftlichen Altersbildern, aber auch in wachsenden Ängsten vor altersbedingtem Kontrollverlust und Krankheit.

„Historisch betrachtet ist das Älterwerden in den letzten Jahrzehnten unkomplizierter und insgesamt positiver geworden. Die heutigen Älteren sind geistig und körperlich fitter, glücklicher, zufriedener, weniger einsam und leben dem eigenen Empfinden nach selbstbestimmter als Gleichaltrige vor 20 oder 30 Jahren“, erklärt Prof. Dr. Hans-Werner Wahl, Seniorprofessor und Projektleiter am Netzwerk AlternsfoRschung der Universität Heidelberg. Forscherinnen und Forscher aus Deutschland und den USA haben nun Daten zu Alterssichtweisen aus beiden Ländern ausgewertet. Erhoben wurden sie unter Gleichaltrigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten: 1995 und 1996 sowie 2013 und 2014 in den USA, 1990 und 1993 sowie 2017 und 2018 in Deutschland. „Mit unserer Untersuchung wollten wir herausfinden, ob sich die empirisch messbaren Verbesserungen in der Lebensqualität auch in positiveren Sichtweisen dem eigenen Alter und Altern gegenüber niedergeschlagen haben“, so der Wissenschaftler.

Datengrundlage bildeten die Berliner Altersstudien BASE und BASE-II sowie die US-Studie „Mittleres Lebensalter in den USA“ (MIDUS), die Auskunft über verschiedene Facetten von Alterssichtweisen geben, so auch zum subjektiven Altersempfinden. Die Auswertung der Daten zeigte, dass in keinem der beiden Länder und für keinen der abgefragten Indikatoren bei älteren Menschen eine Verbesserung in der Wahrnehmung des eigenen Alterns beobachtet werden konnte – und dies über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren hinweg. „Dass die Vielzahl von Verbesserungen im Älterwerden allem Anschein nach nicht im persönlichen Erleben der Betreffenden angekommen ist, hat uns überrascht“, sagt Prof. Dr. Denis Gerstorf, Entwicklungspsychologe an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Die Wissenschaftler vermuten, dass hierbei unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. So gibt es laut Hans-Werner Wahl Hinweise darauf, dass sich gesellschaftliche Altersbilder im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vielfach verschlechtert haben. Danach wäre die beobachtete Stabilität in der persönlichen Wahrnehmung des eigenen Alters als Leistung im Sinne einer Abgrenzung gegenüber gesellschaftlichen Trends zu werten. Einen weiteren Grund sehen die Forscher darin, dass sich die Bewertungen des eigenen Lebens immer mehr von allgemein beobachtbaren Veränderungen abkoppeln. „Außerdem überlagert sich das ‚junge Alter‘ als Erfolgsgeschichte der Moderne zunehmend mit einem immer längeren ,alten Alter‘, das mit der Furcht vor Demenz und Autonomieverlust einhergeht“, betont Denis Gerstorf. Im Ergebnis, so das Fazit der Studie, könnte dieses komplexe Zusammenwirken von Faktoren dazu geführt haben, dass sich die Sichtweisen auf das eigene Alter und das Altern nicht wesentlich verbessert haben.

Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „Psychology and Aging“ veröffentlicht.

Originalveröffentlichung

H.-W. Wahl, J. Drewelies, S. Duezel, M. E. Lachman, J. Smith, P. Eibich, E. Steinhagen-Thiessen, I. Demuth, U. Lindenberger, G. G. Wagner, N. Ram, D. Gerstorf: Subjective age and attitudes toward own aging across two decades of historical time, Psychology and Aging (25 October 2021, advance online publication)