Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Aus der Stiftung Universität Heidelberg

"The Formation of a Multiethnic Urban Culture: The Shanghai Concessions 1850-1910" lautete der Titel eines internationalen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Symposions, das im Heidelberger Internationalen Wissenschaftsforum stattfand. Das Thema war eher eine provokative Frage. Denn das Feld wird dominiert von einer zwar nirgends empirisch aufgewiesenen, jedoch politisch hochkorrekten Vermutung. Danach hat nur wenig kultureller Kontakt zwischen den "Westlern" und den "Chinesen" bestanden, die sich temporär oder auf Dauer in diesem neuen Settlement ansiedelten. In dieser Vision konnte ein kultureller Kontakt und Austausch zwischen den westlichen Kolonialisten und Imperialisten und den von ihnen Unterdrückten und Ausgebeuteten bestenfalls von einigen chinesischen Verrätern gepflegt werden.

Demgegenüber wurde während des Symposiums die Frage aufgeworfen, ob nicht eine sehr intensive und lebendige direkte und indirekte Interaktion stattgefunden habe, die eine urbane Kultur ganz eigener und multiethnischer Art habe habe entstehen lassen, die Shanghai nicht nur zur Industrie- und Finanzhauptstadt der letzten Jahrzehnte des Qing-Reiches und der Republik nach 1911 werden ließ, sondern auch zur Medien-, Unterhaltungs- und Tourismusmetropole des Landes. Zu einem Ort, wo Innovationsimpulse aller Art von der Technologie bis zur politischen Theorie, von der Kunst der Stadtverwaltung bis zur Kunst der öffentlich zelebrierten Ausschweifung und der doppelten Buchführung aufgenommen und soweit akkulturiert wurden, daß sie auch für den Rest des Landes verdaubar wurden.

Die Fragestellung des Symposions erwies sich als relevant genug, um einen erheblichen Teil der besten in diesem Gebiet arbeitenden Gelehrten aus aller Welt anzuziehen und zu gu-ten bis erstklassigen Beiträgen zu bewegen. Diese gilt gerade für eine Reihe von Gelehrten von der Akademie für Sozialwissenschaften in Shanghai. Deren langjährige Auseinandersetzung mit amerikanischen Sinologen sowie mit einer Forschungsgruppe am Sinologischen Seminar in Heidelberg ("Structure and Development of the Public Sphere in China") hatte den Anstoß gegeben, sich der Problematik und Methodik der cultural studies und der urban studies zu widmen.

Das wichtigste Merkmal der Konferenz war die Verbindung von breitester Quellenkenntnis unter den Teilnehmern (von den aus vielen verschiedenen nationalen Traditionen neu konstruierten Eintragstypen im Katasteramt des International Settlement bis zu den ritualisierten Umgangsformen in den Kurtisanenhäusern von Shanghai, von der Arzneimittelwerbung in der Shanghaier Presse bis zum Groschenroman) mit einer wohl begründeten, aber provokativen wissenschaftlichen Fragestellung, die für die Analyse der modernen chinesischen Entwicklung ganz grundsätzliche Bedeutung hat.

Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz nimmt es sich heraus, die Quellen vom Problem her auszuwählen und dabei in der Regel die Aufteilung der Quellen an bestimmte Fachgebiete zu überspringen. Die Vermutung, daß die jährlichen Wirtschaftsberichte der Shanghaier Konsulate Sache der Wirtschaftswissenschaftler und -historiker seien, die Shanghaier Romane jedoch die der Literaturwissenschaftler, ist probat und handlich. Sie leidet jedoch daran, daß die Romane oft die soziologisch und psychologisch genaueren Darstellungen der Motivation, Werte und Lebenswirklichkeit von wirtschaftlichen Akteuren geben und umgekehrt die Wirtschaftsberichte aus der Enge des zeitgenössischen Wirtschaftsbegriffes so wenig herauskommen, daß sie etliche der wirtschaftlich wichtigsten Faktoren Shanghais (wie das Pressewesen, die Unterhaltungsindustrie, den Tourismus und Grundstücksmarkt) nie erwähnen, es aber nie vergessen, die genaue Zahl der exportierten Nankeen Unterhosen aufzuführen. Um die Grenzüberschreitungen hier weiter zu fördern, waren die Discussants jeweils aus einem anderen Fachgebiet als der Vortragende. Das gab ihnen die Möglichkeit, aus einem vollig anderen, oft sehr unkonventionellen Quellenbereich, die überraschendsten Informationen und Argumente beizusteuern.

Allen Ankündigungen einer "Liberalisierung" zum Trotz nahmen es sich die chinesischen Behörden heraus, sich in ungebührlicher Weise in die wissenschaftliche Kooperation einzumischen. Zum ursprünglich ganz unschuldig geplanten Termin (4. bis 6. Juni) wurde bereits im Vorfeld von den chinesischen Teilnehmern signalisiert, daß zu diesem Termin eine Ausreisegenehmigung unmöglich zu erlangen wäre. Der Grund: der 4. Juni (Tag der Niederschlagung der Studentenbewegung am Tiananmen 1989) falle in die Konferenz; seitens der chinesischen Behörden würde befürchtet, daß die Gelehrten sich an einer Protestveranstaltung gegen diese Niederschlagung beteiligen wollten. Zwei Tage vor der Konferenz (und nach unzähligen Bittgängen, Telefonaten und der Einschaltung aller verfügbaren "Beziehungen" seitens der Gelehrten selbst und des Heidelberger Instituts) wurde schließlich die Genehmigung zur Ausreise erteilt.

Die Stiftung Universität Heidelberg ermöglichte dankenswerterweise durch einen gesonderten Zuschuß jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen von anderen Orten die Teilnahme an dem Symposion, das in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Wissenschaftsforum (IWH) durchgeführt wurde. Die Konferenz war ein ungewöhnliches wissenschaftliches Ereignis und wurde von allen Teilnehmern als solches empfunden. Eine Buchpublikation mit einer Auswahl der durchweg nach der Konferenz stark überarbeiteten Vortragsmanuskripte ist in Arbeit.

Rudolf G. Wagner
Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang