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Ein Blasenschrittmacher fuer Querschnittsgelaehmte

Neue Verfahren zur Behandlung querschnittsgelaehmter Patienten zu entwickeln, ist das Ziel des Teams von Klaus Peter Juenemann an der Urologischen Klinik der Fakultaet fuer Klinische Medizin Mannheim. In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule fuer Technik in Mannheim arbeiten gegenwaertig vier Aerzte und drei Ingenieure, zwei wissenschaftliche und drei nichtwissenschaftliche Mitarbeiter sowie eine Reihe von Doktoranden und Diplomanden in dem Projekt "Funktionelle Organrehabilitation durch Elektronik". Seit 1989 wird ihre Grundlagenforschung durch Geldgeber aus der Industrie und die Karl-Voelker-Stiftung finanziert, ab 1995 auch vom Bundesforschungsministerium mit einer Gesamtsumme von 4,1 Millionen Mark.

Bei querschnittsgelaehmten Patienten sind alle Funktionen des Rueckenmarks unterhalb der Schaedigungsebene gestoert. Davon betroffen sind, neben der verlorengegangenen Willkuermotorik der Extremitaeten, die Funktionen der Harnblase, des Enddarms und des Geschlechtstrakts. Unkalkulierbarer, nicht mehr zu kontrollierender Urinverlust durch eine teilweise oder vollstaendige Blasenlaehmung ebenso wie Stuhlentleerungsstoerungen sind meist die Folge. Durch die verlorengegangene zentrale Steuerung entstehen pathologische Drucksteigerungen in der Blase, die zu anatomischen und funktionellen Stoerungen des Harntraktes bis hin zur Zerstoerung der Harnblase und bis zum Nierenversagen fuehren koennen. Die haeufig wiederkehrenden Entzuendungen der Harnwege sind ein Zeichen fuer die gestoerte Speicherfunktion der Harnblase. Darueber hinaus koennen unkoordinierte Harnblasenspastiken vegetative Falschreflexe ausloesen, die Blutungskrisen bis zum Schlaganfall hervorrufen. Diese neuro-urologischen Probleme beeinflussen nicht nur das soziale Leben des Betroffenen in kaum gekanntem Umfang, sondern bestimmen in erheblichem Ausmass Lebensqualitaet und Gesundheit.

In der Bundesrepublik Deutschland erleiden jaehrlich ueber 1000 Patienten einen traumatischen Querschnitt, etwa 80 Prozent entwickeln die zuvor genannten neuro-urologischen Probleme. Ein grosser Teil der Arbeiten in Rehabilitationszentren ist ihnen gewidmet. Therapeutisch bleiben aufgrund der eingeschraenkten medikamentoesen Behandlungsmoeglichkeiten meist nur unterstuetzende, mechanische Hilfsmittel oder aufwendige operative Eingriffe, denen die Harnblase teilweise oder gaenzlich zum Opfer faellt.

Einen voellig entgegengesetzten, organerhaltenden Therapieansatz verfolgt der Forschungsverbund "Funktionelle Organrehabilitation durch Elektronik. Entwicklung neuer Verfahren zur Behandlung von querschnittsgelaehmten Patienten: neurobiologische Grundlagen, autoadaptive Neurostimulation, minimal invasive Implantationstechniken" durch Eingriff in die Steue-rungssysteme. Die zur Harnblase ziehenden Nervenfasern werden durch ein implantierbares elektronisches Nervenreizgeraet aktiviert und deaktiviert, kontrolliert durch ein vom Patienten zu bedienendes externes Steuergeraet. Der sogenannte Blasenstimulator muss allerdings eine Reihe von Eigenschaften aufweisen, um die Wiederherstellung der Speicher- und Entleerungsfunktion der Harnblase zu ermoeglichen.

Das Konzept, mittels Elektrostimulation der sakralen Nervenwurzeln von S2 bis S4 eine Blasenentleerung zu erreichen, fand sowohl im Tierexperiment als auch in klinischen Studien an querschnittsgelaehmten Patienten seine Bestaetigung. Die bisher angewandten Reizprotokolle bestehen allerdings aus starren Impulsfolgen und koennen nur eine Art der Blasenentleerung hervorrufen, die vom physiologischen Vorgang sehr stark abweicht und fuer den Patienten nachteilig ist. Dies beruht zum einen auf der nur unvollstaendigen Kenntnis der mit der Blasenentleerung verbundenen neuronalen Prozesse auf Rueckenmarksebene, zum anderen auf den engen apparativen Grenzen und der geringen Flexibilitaet der bisher eingesetzten Stimulatoren. Limitierend fuer die durch Elektrostimulation induzierte Miktion ist die simultan mit der Aktivierung des Blasenhalsmuskels auftretende Kontraktion des externen Schliessmuskels der Harnroehre, die zu einer sogenannten Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie mit entsprechendem pathophysiologischen Miktionsmuster fuehrt. Ein weiteres Problem ist die durch das Trauma verlorengegangene Blasenfuellungssensibilitaet. Der Patient nimmt den Fuellungszustand der Blase nicht mehr wahr, was zu gefaehrlichen Ueberdehnungen und zur Inkontinenz fuehren kann.

Um ein komplexes elektronisches System zu entwickeln, das dem Patienten ermoeglicht, Harnspeicherung und -entleerung willkuerlich zu kontrollieren, muessen mehrere Zielvorgaben erfuellt werden: Die zur Harnblase ziehenden Nervenfasern muessen durch ein implantierbares, elektronisches Nervenreizgeraet aktiviert werden koennen. Der Patient muss in der Lage sein, den Entleerungsvorgang per Knopfdruck einleiten und unterbrechen zu koennen. Gleichzeitig muss der Schliessmuskel daran gehindert werden, durch Kontraktion die Blasenentleerung zu unterbrechen. Schliesslich sollte der optimale Stimulator Signale ueber den Muskelspannungs- und Fuellungszustand der Harnblase registrieren, um die Grenzen der physiologischen Speicherfunktion zu erkennen und den Zeitpunkt der Entleerung zu bestimmen. Teilaspekte, wie etwa die Nervenreizung oder deren einfache externe Steuerung, sind gegenwaertig bereits realisiert.

In einer Reihe vorausgegangener tierexperimenteller Untersuchungen wurden im neuro-urologischen Labor der Urologischen Klinik der Fakultaet fuer Klinische Medizin Mannheim der Universitaet Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule fuer Technik Mannheim die Grundlagen fuer die Entwicklung eines optimierten Blasenstimulators erarbeitet und durch die enge Kooperation mit der Fachhochschule in einen funktionstuechtigen Prototypen umgesetzt. Der implantierbare Empfaenger besteht aus einer Hybridschaltung mit sechs Kanaelen, die unabhaengig voneinander und individuell in ihren Reizparametern veraendert werden koennen. Die abgegebene Signalform entspricht einem reinen Sinusimpuls, der eine hohe Blasenselektivitaet gegenueber dem herkoemmlichen Rechteckimpuls aufweist. In ersten experimentellen Untersuchungen wurde der zweieinhalb Quadratzentimeter mal acht Millimeter kleine Stimulator unter der Bauchdecke implantiert und hat seine Tauglichkeit im Akutversuch bewiesen. Wie sich auch gezeigt hat, beeinflusst der Blasenfuellungszustand den durch die Stimulation maximal erreichbaren Druck in der Harnblase mit einem Punktum maximum, das individuellen Schwankungen unterworfen ist.

Ausgehend von elektrophysiologischen Untersuchungen des Harnblasenmuskels wurde eine elektronische Messeinheit auf der Basis eines schnellen Rechners zur Registrierung und Auswertung komplexer Biosignale entwickelt. In ersten experimentellen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass anhand des unterschiedlichen elektromyographischen Aktivitaetsmusters, welches einer fourierschen Transformationsanalyse unterworfen wurde, der Blasenfuellungszustand berechnet und automatisch bestimmt werden kann. Pilotstudien am Menschen haben gezeigt, dass die tierexperimentellen Ergebnisse sich am Menschen reproduzieren lassen.

Nun wollen wir das optimierte Nervenreizgeraet im Dauerversuch erproben. Dabei soll eine weitere elektronische Intelligenz in das Stimulationsgeraet eingebaut werden, die ueber den Grad der Muskelspannung und der Blasenfuellung informieren kann, um den Patienten vor einer schaedlichen Ueberdehnung des Organs zu bewahren. Zusaetzlich soll die elektronische Intelligenz so ausgelegt sein, dass Signalform und Stimulationsstaerke sich selbstregulierend dem jeweiligen Blasenfuellungszustand anpassen koennen.

Die vorliegenden Ergebnisse ruecken die Entwicklung eines intelligenten, autoadaptiven Blasenstimulationsgeraets in realistische Naehe. Nach seiner Verwirklichung soll die Stimulationseinheit weiter miniaturisiert werden, sodass sie unter minimal-invasiven neuroendoskopischen Bedingungen implantiert werden kann.

Autor:
Priv.-Doz. Dr. med. Klaus Peter Juenemann
Klinikum Mannheim, Urologische Klinik, Theodor-Kutzer-Ufer, 68167 Mannheim,
Telefon (06 21) 3 83 23 00

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