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Der Aerger mit der Wahrheit

Anlaesslich der Verleihung der Grossen Universitaetsmedaille berichtete Heinz Haefner, der das Zentralinstitut fuer Seelische Gesundheit von seiner Gruendung im Jahr 1975 bis Oktober 1994 als Direktor leitete, in der Marsilius-Vorlesung ueber das Thema Selbstmord und seine moegliche Ausloesung durch Vorbilder im Fernsehen. Der Selbstmord ist eines der groessten Probleme psychischer Gesundheit in modernen Gesellschaften. Individuelle Vorbeugung ist schwierig, weil Selbstmordhandlungen schwer vorhersehbar sind. Deshalb ist die Suche nach ausloesenden Ereignissen, die sich moeglicherweise kontrollieren lassen, ein wichtiges Ziel der Suizidforschung.

In den "Acta Universitatis" ist zu lesen, dass der erste Rektor, Marsilius von Inghen, am Tag nach der Eroeffnung der "Universitas Studii Heidelbergensis" am 18. Oktober 1386 seine erste Vorlesung um sechs Uhr morgens begonnen habe. Dennoch wird einiges, was ich Ihnen vortragen werde, zwar nicht der Stunde, aber dem Geist dieses bedeutenden Vorlaeufers der Aufklaerung verbunden sein. Mit diesen Gedanken sind wir schon in den ersten, den naturwissenschaftlichen Kontext von Wahrheit eingetreten. Es ist die begrenzte, mit dem Popperschen Instrumentarium der Forschungslogik optimierte Gueltigkeit naturwissenschaftlicher Aussagen. Der zweite Kontext von Wahrheit ist ein existentieller. Friedrich Nietzsches Wort "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen" ist ein treffendes Motto fuer den zweiten Teil unserer Ueberlegungen. Aber beginnen wir mit dem ersten: einem Kapitel psychiatrischer Forschung und den Schwierigkeiten, bescheidener wissenschaftlicher Wahrheiten habhaft zu werden.

Bereits in den 70er Jahren hatten wir Umweltfaktoren identifiziert, die mit Suizidverhalten in Zusammenhang standen. Zusammen mit Rainer Welz fanden wir, dass die Haeufigkeit von Selbstmordversuchen in Mannheim ueber verschiedene Wohngebiete bis zum 14fachen variierte (Welz, 1979). Wir fragten uns, welche Umweltfaktoren das Selbstmordrisiko in staedtischen Lebensumwelten so deutlich beeinflussen koennen und prueften mehrere Hypothesen. Diejenige, ueber deren Pruefung ich hier berichten will, geht von der direkten Vermittlung des Suizidverhaltens von Mensch zu Mensch aus.

Selbstmordverhalten kann als reales Ereignis beobachtet, als Tatsachenbericht oder als fiktives Modell in verschiedenen Medien vermittelt werden. Die Imitation fiktiver Suizidmodelle wird nach Goethes 1774 erschienenem Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" als "Werther-Effekt" bezeichnet. Goethes faszinierende Darstellung einer romantischen ungluecklichen Liebe, die im Selbstmord endete, soll damals eine Welle gleichartiger Selbstmordhandlungen - Erschiessen mit Pistole - ausgeloest haben. Danach war das Thema ziemlich vergessen, bis es mit der Ausbreitung des Fernsehens wieder aktuell wurde.

Seither sind mehrere Studien, vor allem in den USA und in Grossbritannien, veroeffentlicht worden. David P. Phillips fand beispielsweise nach Suizidmodellen in "soap operas" amerikanischer Fernsehanstalten einen Anstieg der Selbstmorde von durchschnittlich 7,5 Prozent in der darauffolgenden Woche.

Die Ergebnisse dieser Studien begegneten erheblichem Zweifel, und die Einwaende lassen sich in der Tat schwer ausraeumen: Um die Selbstmorde zu erfassen, waren die Untersucher auf die amtliche Todesursachenstatistik angewiesen. Die erfasste Bevoelkerung deckte sich jedoch nie befriedigend mit dem Sendegebiet und der Zeitpunkt des Todes nicht sicher mit dem Zeitpunkt der Modellexposition. Die wenigen Studien, die auch - die wesentlich haeufigeren - Selbstmordversuche registrierten, waren auf Krankenhausstatistiken angewiesen, die nur einen kleinen Ausschnitt der Risikobevoelkerung repraesentieren.

Mein damaliger Mitarbeiter Armin Schmidtke hatte den genialen Einfall, die bis dahin nicht schluessig bewiesene Annahme, fiktive Suizidmodelle koennten Selbstmorde ausloesen, an der sechsteiligen ZDF-Serie "Tod eines Schuelers" zu pruefen. Die Serie zeigte im Wochenabstand die psychologische Entwicklung eines 18jaehrigen Schuelers bis zum Selbstmord durch Sturz vor einen fahrenden Zug. Mit der zweiten Ausstrahlung der Filme 18 Monate spaeter bot sich die Chance, den Wiederholungseffekt desselben Modells unter veraenderten Bedingungen quasi- experimentell zu pruefen. Die zweite fuer eine kausale Wirkungsanalyse guenstige Bedingung vermittelte uns die Direktion der Deutschen Bundesbahn: Weil alle Ereignisse auf ihren Schienen aufgezeichnet werden, konnten wir saemtliche suizidalen Handlungen auf dem gesamten Schienennetz fuer einen Zeitraum von neun Jahren mit exakten Zeitangaben erfassen. Damit waren alle modellgemaessen Selbstmordhandlungen - nur neun Prozent endeten nicht toedlich - aus dem Sendegebiet des ZDF erfasst. Durch den Vergleich der Anzahl suizidaler Handlungen waehrend und unmittelbar nach den Sendeperioden mit jahreszeitlich gleichen Perioden vor, zwischen und nach der Ausstrahlung konnten wir Anstiege nach Beobachtung des Modells unter Ausschaltung jahreszeitlicher Einfluesse praezise ermitteln. Aus der Grundlagenforschung hatten wir die Hypothese uebernommen, dass die Effekte mit der Aehnlichkeit von Alter und Geschlecht zwischen Beobachter und Modell linear ansteigen wuerden.

Wenn wir von zehnwoechigen Vergleichsperioden ausgehen - fuenf Wochen waehrend der sechs Sendungen und fuenf Wochen danach -, dann stieg die Zahl der Selbstmorde 15- bis 19jaehriger Maenner, die dem Modell nach Alter und Geschlecht am naechsten stehen, um 175 Prozent, und jene der gleichaltrigen Frauen um 167 Prozent signifikant an.

Nach der zweiten Sendung war die Zunahme der Selbstmorde geringer, sie betrug beispielsweise bei den 15- bis 19jaehrigen Maennern nur noch 115 Prozent. Die Haeufungen nach der ersten und zweiten Ausstrahlung verhielten sich jedoch zueinander wie die Einschaltquoten und bestaetigten so eine weitgehend gleiche Effektstaerke beider Sendungen. Alternative Erklaerungen des Phaenomens, etwa eine vorzeitige Ausloesung bereits geplanter Suizide oder vermehrtes Umsteigen auf die vermittelte Methode, konnten wir zuverlaessig ausschliessen.

Das Untersuchungsdesign erlaubte uns, die hohen Anstiege der Selbstmordhaeufigkeit kausal durch einen Modelleffekt zu erklaeren, zumal auch unsere Hypothese der linearen Abhaengigkeit der Effektstaerke von der Aehnlichkeit zwischen Modell und Opfer bestaetigt wurde. Es war uns also gelungen, den "Werther-Effekt" nach den Regeln empirisch-wissenschaftlicher Beweisfuehrung zu belegen.

Nun folgt der Erfahrungsbericht eines Wissenschaftlers ueber die Anwendung seiner Forschungsergebnisse dort, wo man sie zum Anlass des Nachdenkens ueber Konsequenzen nehmen sollte: in den Medien. Bevor ich auf den Aerger eingehe, den unsere Ergebnisse bereitet haben, will ich kurz ueber die Kooperation mit dem ZDF berichten. Wir haben das ZDF von unserem Vorhaben fruehzeitig unterrichtet und zunaechst in dankenswerter Weise Unterstuetzung gefunden. Als unsere Ergebnisse vorlagen, luden wir den Vorstand der Deutschen Bundesbahn, das ZDF und Ministerialdirektor Dr. Blaesi, Wissenschaftsministerium Baden- Wuerttemberg, zu einer vertraulichen Demonstration. Alle Zuhoehrer waren sichtlich betroffen. Danach folgte eine mehrmonatige Latenzphase bis zur Veroeffentlichung unserer Ergebnisse in fuehrenden deutsch- und englischsprachigen Fachzeitschriften im September 1986. In Deutschland und im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz, in Norwegen, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Australien und den USA berichteten grosse Tageszeitungen und Magazine, teilweise auch Fernsehanstalten, ausfuehrlich darueber.

Kurz vor dem Erscheinen dieser Berichte teilten uns drei Redaktionen fuehrender Tageszeitungen und die Redaktion eines Magazins mit, die Intendanz des ZDF habe ihnen ein Fernschreiben zugeleitet, mit dem Titel: "Gutachten relativieren Mannheimer Studie: kein ursaechlicher Zusammenhang zwischen Fernsehserie und steigender Suizidrate Jugendlicher".

Das ZDF hatte zwei Gutachten eingeholt, eines von einem Professor fuer Praktische Theologie der evangelischen Kirche, ein zweites von dem kuerzlich verstorbenen Suizidforscher Erwin Ringel, Wien. Der Theologieprofessor hatte fuer das ZDF bereits eine rechtfertigende Einleitung zum Begleittext der Serie geschrieben und am Schluss der Sendung einige erbauliche Saetze gesprochen. Das ZDF-Fernschreiben zitiert sein Gutachten: "Die allen sonstigen Hypothesen widersprechende Hauptthese, durch Imitation eines im Fernsehen gesendeten Modells habe es ein Mehr an Suiziden gegeben..., wird nicht bewiesen."

Das in dem Fernschreiben nicht zitierte Resumee des kompetenten und unabhaengigen Gutachters Ringel lautet: "Ich habe diese Arbeit intensiv studiert und bin zu dem Eindruck gekommen, dass sie mit aeusserster Sorgfalt und mit grossem Verantwortungsbewusstsein durchgefuehrt worden ist: So bietet sie zum ersten Mal ein gut untermauertes und damit glaubwuerdiges Resultat, welches auch im Hinblick auf die Verantwortung der Medien sehr ernst genommen werden muss."

Die Zeitungsredaktionen hatten damit zwei widerspruechliche Informationen zur Auswahl, jene des ZDF und unsere wissenschaftlichen Daten. Sie entschieden sich nach gruendlicher Pruefung fuer die Veroeffentlichung der "wissenschaftlichen Wahrheit". Die Redaktion des "Spiegel" schloss ihren anderthalbseitigen Bericht mit den Saetzen: "Die Mainzer Fernsehanstalt will davon nichts wissen. Das ZDF schickte vielmehr den Theologen Joerns vor, der dem Sender schon bei der Herstellung der Selbstmordserie Rat gespendet hatte. In einem Eilgutachten kanzelte der Kirchenmann die laestige Studie ab. Auch kuenftig, so liess der Sender erklaeren, werde sich das Fernsehen nicht der Aufgabe entziehen koennen..., die gesellschaftliche Wirklichkeit umfassend darzustellen." Diesem mutigen Bemuehen um journalistische Sorgfalt und wahrheitsgemaesse Information stehen jedoch auch andere Beispiele gegenueber.

Natuerlich habe ich dem Intendanten des ZDF einen Brief geschrieben und darin die Fehlinterpretation des kompetenten und die fehlende Unabhaengigkeit des nichtkompetenten Gutachters im besagten Fernschreiben angesprochen. In seiner Antwort vom 9.10.1986 schreibt er: "Sie selbst haben es fuer richtig gehalten, ueber die Fachpresse hinaus fuer eine weitergehende Publizierung... Ihrer Forschungsergebnisse... zu sorgen. Wir haben uns deshalb veranlasst gesehen, ebenfalls darauf zu reagieren und zwei namhafte Suizidforscher um Stellungnahmen zu Ihrem Gutachten zu bitten."

Wir waren dennoch ueberrascht, als wir Ende August 1988 erfuhren, dass die Serie ueber 3sat ein drittes Mal gesendet werden sollte. Da ein telefonischer Appell an die Intendanz nicht fruchtete, sandten wir an alle 66 Mitglieder des ZDF- Fernsehrats einen von Max Kaase, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute, kommentierten Bericht ueber unsere Studie aus "bild der wissenschaft", der mit den Worten schliesst: "Das ZDF muesste eingestehen, dass ein Problem vorliegt." Wir schrieben dazu: "Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhersehbar, dass eine erneute Ausstrahlung der Serie wiederum einer betraechtlichen Anzahl junger Menschen das Leben kosten wuerde. ... Wir halten es fuer notwendig, die Sendung abzusetzen... und bitten den Fernsehrat, unverzueglich geeignete Schritte zu unternehmen."

Die einzige Reaktion des ZDF war ein Anruf von seiten der Intendanz, man habe die Szene, die den Imitationseffekt ausgeloest habe, herausgeschnitten; ich sei sicher auch der Ueberzeugung, dass nun das Nachahmungsrisiko beseitigt sei. Ich musste diese Erwartung enttaeuschen. Die Entfernung einer Szene konnte allenfalls Hoffnung auf eine Abschwaechung, aber keine Garantie fuer eine Vermeidung des Nachahmungseffekts geben. Trotz aller Proteste kam es zur Austrahlung. Weil sie ueber Kabelkanal erfolgte, konnten wir den Effekt nicht untersuchen.

Zu unserer noch groesseren Verwunderung lasen wir Anfang Februar 1992 als Programmankuendigung fuer Freitag, den 14.2.1992, 20 Uhr, in 3sat: "Tod eines Schuelers - 1981 loeste Robert Stromberger heftige Reaktionen mit seiner sechsteiligen Serie aus, die den Selbstmord eines Jungen aus den verschiedenen Perspektiven von Eltern, Freunden und Lehrern erforschte. Das Fernsehen wurde beschuldigt, mit der realistischen Darstellung Jugendliche zur Nachahmung getrieben zu haben. Das ZDF klopfte sich dagegen stolz auf die Schultern, ein schwieriges Thema in einer Unterhaltungsserie transparent gemacht zu haben."

Diese Worte lassen zweifeln, ob die Proteste gesellschaftlicher Gruppen eine offene Auseinandersetzung mit unserer wissenschaftlichen Wahrheit angestossen haben. Den Eindruck gewinnt man auch, wenn man das als "authentische Bilanz" der gegenwaertigen Situation des Fernsehens "zwischen gesellschaftlichem Auftrag und Zuschauerwuenschen" verfasste Buch ,Fernsehen am Wendepunkt" des ZDF-Intendanten Dieter Stolte liest. Zum Thema Selbstmordimitation beschraenkt Stolte sich darauf, die "Entruestung" zu erwaehnen, die Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers" ausgeloest habe. An unsere Studie und die kritischen Worte, die er zur Serie "Tod eines Schuelers" von vielen Seiten gehoert hatte, erinnert er sich nicht. Radikalen Kritikern des Fernsehens wie Neil Postman oder Friedrich Hacker, die unter anderem das Fehlen eines moralischen Fundaments beklagen, setzt er Argumente entgegen, die ebenso verbreitet wie oberflaechlich sind: die Notwendigkeit der Orientierung an den Beduerfnissen der Gesellschaft und die Bekaempfung von Tabus.

Fuer den 1.11.1994 war vom ZDF erneut die Serie "Tod eines Schuelers" angekuendigt worden. Diesmal wurde sie wegen zahlreicher Proteste aus der Bevoelkerung in letzter Minute abgesetzt. Endlich hat sich hinreichend Widerstand aus einem "oeffentlichen Gewissen" gegen die Programmacher des Fernsehens artikuliert.

Imitationseffekte von Suizidmodellen sind tatsaechlich nur ein kleiner Ausschnitt der Frage, ob gewalttaetige oder brutale Fernsehmodelle, mit denen wir sowohl auf der Nachrichtenebene als auch in fiktiven Sendungen ueberschuettet werden, zur Vermehrung von Gewalt fuehren. Wir lesen beispielsweise im Bericht der Gewaltkommission der Bundesregierung: "Im Prozess der Entstehung von Gewaltkriminalitaet kommt den Massenmedien eine erhebliche Bedeutung zu...." Der ZDF-Intendant hat beklagt, dass die Wissenschaft zu dieser Frage keine absolut verlaesslichen Wahrheiten liefert. Das kleine Beispiel "Werther- Effekt", wo sie dies tat, hat er, weil allzu aergerlich, unterdrueckt. Forschungsdefizite, wie sie Dieter Stolte beklagt, koennen wir allerdings, wenn ueberhaupt, nur abbauen, wenn wir uns aergerlichen Wahrheiten mit einem anderen Mass an Offenheit stellen, als uns vom ZDF demonstriert wurde. Und schliesslich ist zu fragen: Duerfen wir notwendiges Handeln aufschieben, bis all unser Erfahrungswissen wissenschaftlich gesichert ist?

Autor:
Prof. Dr. Dr. Heinz Haefner
Zentralinstitut fuer Seelische Gesundheit, I 5, 68159 Mannheim,
Telefon (0621) 17 03 726

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