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Die Entwicklung der europaeischen Dialekte

Sprachgeschichte, Soziolinguistik, Sprachkontaktforschung und Dialektologie bilden die Schwerpunkte des Graduiertenkollegs "Dynamik von Substandardvarietaeten", das von 1994 bis 1996 mit etwa 1,2 Millionen Mark von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefoerdert wird. An dem Projekt der Neuphilologischen Fakultaet unter Leitung von Edgar Radtke und Klaus J. Mattheier beteiligen sich acht Professoren und 16 Stipendiaten sowie sechs Kollegiaten.

Die Themenstellung des Graduiertenkollegs "Dynamik von Substandardvarietaeten" greift eine Reihe von Tendenzen in der europaeischen Sprachsoziologie und Linguistik auf, die besonders guenstige Ausgangspositionen fuer die Erforschung zum jetzigen Zeitpunkt erwarten lassen. Zum einen hat die Variationslinguistik in juengster Zeit ihr Beschreibungsinstrumentarium erheblich verfeinert, zum anderen befinden sich die europaeischen Nationalsprachen derzeit in einer Entwicklungsphase, in der zunehmende Toleranz in Fragen der sprachlichen Norm zu erkennen ist. So spricht man heutzutage von New Englishes, n‚o-fran‡ais, neoitaliano und so weiter, das heisst: bislang stigmatisierte Varietaeten einer Einzelsprache werden fuer eine groessere Sprechergemeinschaft akzeptabel.

Zugleich erfaehrt sowohl die mikro- als auch die makrolinguistisch ausgerichtete sprachsoziologische Forschung theoretisch und methodisch eine erhebliche Intensivierung, durch die auch auf der soziolinguistischen Seite der Problemstellung Anregungen und Perspektiven bereitgestellt werden. Und schliesslich ist eine Historisierung dieser auf Substandard und Standard gerichteten Forschungsfragen zu beobachten. Die gegenwaertige Konstellation in diesem Bereich wird immer mehr als momentanes Ergebnis von teilweise seit dem Spaetmittelalter andauernden komplexen sprachsozialen Prozessen aufgefasst, die es ebenfalls zu beschreiben gilt, will man sich dem Substandard und seiner Dynamik naehern. Entwicklungen dieser Art haben sich uebrigens in der europaeischen Kultur auch schon in den klassischen Kommunikationsgemeinschaften Griechenlands und Roms im Lateinischen und Griechischen abgespielt. Die Beschreibung dieser Prozesse hat Modellcharakter fuer die Erfassung der Dynamik von Substandard in der Gegenwart und der juengeren Vergangenheit.

In den durch diese Entwicklungen gebildeten Forschungsfeldern findet das Graduiertenkolleg thematische, theoretische und methodische Forschungsgebiete. Zentrale Strukturierungsfunktion haben dabei einige forschungsleitende Thesen, die an gegenwaertigem und historischem Material ueberprueft werden sollen:
- die These von der gesellschaftlichen Aufwertung des Substandards, und zwar sowohl als Normabweichung als auch als Uebergangsbereich zwischen Dialekt und Standard;
- die These vom Substandard als Quelle fuer sprachliche Veraenderungsprozesse waehrend der Nationalsprachenentwicklung, wie er sich gegenwaertig manifestiert;
- die These vom sprechsprachlichen Charakter des Substandards;
- die These von der Substandardisierung der europaeischen Standardsprachen;
- die These von der Entfaltung der Beziehungen zwischen Standard und Substandard im Rahmen der allgemeinen kommunikativen Modernisierungsprozesse in Europa;
- die These vom Innovationsschub durch den Aufbau generationsspezifischer Varietaeten wie im Fall der Jugendsprachen.

Zusammenfassend kann bezueglich der Untersuchungsobjekte und Zielsetzungen, denen sich die Arbeit des Graduiertenkollegs primaer zuwendet, folgendes festgehalten werden: Das Substandard/Standard-Gefuege soll in den verschiedenen europaeischen Sprachen jeweils in Gegenwart und Vergangenheit untersucht werden hinsichtlich 1. der sprachlichen Struktur der Variabilitaet und Dynamik von substandardsprachlichen Varietaeten und Sprachstilen; 2. der sozialen Auftretenskontexte und Verwendungsbedingungen sowie der gesellschaftlichen und sozio- kommunikativen Funktionen von Substandard; 3. der mit dem Substandard in Verbindung stehenden Sprachbewusstseinsstrukturen, das heisst der Attitueden und kommunikativen Mentalitaeten, des Alltagswissens; 4. der sprachdidaktischen Probleme, die sich aus der Beziehung zwischen Standard und Substandard ergeben und die unterrichts- und kulturpolitisch aufgearbeitet werden sollten; 5. der sprachpflegerischen und sprachpolitischen Ziele im weitesten Sinne (Sprachpurismus).

Autoren:
Prof. Dr. Klaus Mattheier
Germanistisches Seminar, Hauptstrasse 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 32 43,

Prof. Dr. Edgar Radtke
Romanisches Seminar, Seminarstrasse 3, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 27 27

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