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Verfassungen im Vergleich

Rechtsvergleichung ist ein traditioneller Teil der Rechtswissenschaft. Ihre praktische Bedeutung wird trotzdem oft unterschätzt. Sie dient nicht nur dem Bildungsinteresse des Wissenschaftlers, sondern ermöglicht Affirmation und Kritik der eigenen Rechtsordnung von der Perspektive fremder Rechtsordnungen aus. Damit überschreitet sie nationale Verengungen des Diskurses über Recht und Gerechtigkeit und erweitert selbst dann noch den Reflexionshorizont, wenn Lösungsvorschläge des Auslands letztlich nicht akzeptiert werden. Das deutsche Verfassungsrecht hat von jeher dem US-amerikanischen Rechtsdenken besondere Aufmerksamkeit gewidmet; immer wieder zitieren Wissenschaftler und Verfassungsrichter die amerikanische Verfassung und Urteile des U.S. Supreme Court. Rechtsvergleichung bildet einen Schwerpunkt der Arbeit Winfried Bruggers am Juristischen Seminar.

Geschriebene Verfassungen gehören heute fast überall zum Fundament moderner Staatlichkeit. In ihnen sind die wichtigsten Organisations- und Legitimationsprinzipien enthalten, an die sich alle staatliche Gewalt zu halten hat. Dazu gehören Gewaltenteilung, Grundrechte der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungsrechte. Die Bindung der Staatsgewalt an diese Prinzipien wird durch die Gerichte, letztlich durch ein Verfassungsgericht, überprüft. So selbstverständlich war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als der Supreme Court der Vereinigten Staaten 1803 den Rechtsstreit Marbury versus Madison zu entscheiden hatte. In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court zum ersten Mal vier Kriterien, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts einen Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten: (1) Verfassungen sollten schriftlich formuliert sein, um mehr Rechtssicherheit zu verbürgen als Gemeinschaften, deren politische Entscheidungsmechanismen auf Tradition und Übung beruhen. (2) Die Verfassung hat Vorrang gegenüber Legislative, Exekutive und Judikative. (3) Es ist Aufgabe der Gerichte, und letztlich des höchsten Gerichts, diese Verfassungsbindung zu überprüfen. (4) Verstößt ein Akt von Exekutive oder auch Legislative gegen die Verfassung, kann das höchste Gericht die Verfassungswidrigkeit aussprechen. Im deutschen Grundgesetz finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1, 20, 92 und 93.
Über diese anerkannten Funktionen von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus gibt es viele weitere Bereiche des staatlichen Entscheidungsprozesses, in denen sich zwischen der klassischen amerikanischen Verfassung und dem modernen deutschen Grundgesetz nützliche Vergleiche anstellen lassen. Einige Beispiele werden im folgenden vorgestellt.

So verwunderlich das heute klingen mag - im Prozeß der amerikanischen Verfassungsgebung 1787/88 plädierten die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte. Hamilton, Madison und Jay, drei der wichtigsten Gründerväter, vertraten in den gemeinsam von ihnen verfaßten Federalist Papers die Ansicht, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: "Hier müssen wir ... letzten Endes das einzige solide Fundament für alle unsere Rechte suchen." Damit konnten sich die Föderalisten nicht durchsetzen. Auf Druck der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme ein Grundrechtskatalog entworfen, die Bill of Rights, für die die amerikanische Verfassung berühmt geworden ist. Grundrechtskataloge gehören inzwischen untrennbar zum Bestandteil einer rechtsstaatlichen Verfassung. Und doch steckt in dem Hinweis auf den Bürgersinn ein Stück Wahrheit, wie besonders beim Blick auf das Demokratieprinzip deutlich wird.

Die Präambel der amerikanischen Verfassung beginnt mit den Worten "We the People of the United States ... do ordain and establish this Constitution." Damit rekurriert sie auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und das Recht auf demokratische Selbstbestimmung im Rahmen gewaltenteiliger "checks and balances" und grundrechtlicher Schranken. Wie weit sollen die Schranken reichen? Die Frage ist nicht so trivial, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn die amerikanische wie die deutsche Verfassung enthalten neben spezifischen Freiheits- und Gleichheitsrechten auch allgemeine Freiheits- und Gleichheitsprinzipien: "liberty" und "Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" beziehungsweise "equal protection of the laws" und "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich". Da fast jeder gesellschaftliche Konflikt als Freiheits- und Gleichheitsproblem formuliert werden kann, stellt sich die Frage: Sollen Verfassungsgerichte in jedem dieser Konflikte das letzte Wort haben, auch wenn die Verfassung nur ein vages Prinzip von Persönlichkeitsentfaltung und Gleichbehandlung vorgibt, über das die Verfassungsrichter genauso unterschiedliche Ansichten vertreten wie Bürger und Politiker? Die überwiegende, aber heftig bekämpfte Meinung in den USA bejaht diese Frage, ebenso wie die ziemlich einhellige Auffassung in Deutschland. Die Spannung zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, wenn man sich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen vor Augen hält: (1) die Sicherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe, (2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozesses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate. Im letztgenannten Bereich droht, zumindest bei extensiver Inanspruchnahme der Prüfungskompetenzen, die Ersetzung der legislativen Prioritäten durch eine Herrschaft der Richter. Will man, wie das die einflußreiche, wenngleich nicht herrschende Schule des "representation reinforcing" vorschlägt, die Kompetenzen des demokratischen politischen Prozesses sichern und stärken und dort mehr Qualität fordern, so wird man nicht umhin können, verfassungsgerichtliche Prüfungskompetenzen im Bereich (3) zu beschneiden. Auch in Deutschland gibt es partiell Klagen über eine zu weitgehende Annäherung an den Richterstaat. Falls die Klagen wirklich ernst gemeint sind und eine größere Anhängerschaft gewinnen sollten, so kommt man an der amerikanischen Diskussion zur Optimierung demokratischer Repräsentation nicht vorbei. Die neuere deutsche Diskussion um die Einfügung weiterer Staatsziele in das Grundgesetz läßt vermuten, daß die dirigierende Funktion von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit zu Lasten des politischen Prozesses eher noch gesteigert werden soll. Bislang enthält das Grundgesetz im Hinblick auf die materiale Ausrichtung von Staatshandeln neben den Grundrechtsartikeln im wesentlichen nur das Sozialstaatsprinzip, das alle Staatsorgane zur Förderung von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. Vorschläge in der gegenwärtigen Diskussion laufen darauf hinaus, weitere Zielbestimmungen für die Politik in das Grundgesetz aufzunehmen - etwa Umweltschutz, Schutz ethnischer Minderheiten, Tierschutz, Wohnungsvorsorge und Aufrufe zur Solidarität. Durch die Aufnahme solcher Staatsziele sollen die Integrationsleistung der Verfassung und die Zustimmungsfähigkeit von Politik gesteigert werden; mitzudenken ist dabei aber immer auch die Erwartung, daß für den Fall des Versagens der Politik das Bundesverfassungsgericht einschreiten und das Richtige anordnen möge. Kritiker der Anreicherung des Grundgesetzes bringen sozusagen "amerikanische" Bedenken vor: Politik kann nie alle legitimen Ziele gleichzeitig befriedigen. Statt der erwarteten Zunahme von Integration durch die Postulierung von Staatszielen kann genauso gut eine allgemeine Frustration wegen der erforderlichen Kompromisse bei der Zielverwirklichung eintreten - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit treten auseinander. Durch die Verfassungsinkorporierung der einzelnen Ziele wird auch die Gefahr größer, daß statt Parteien mit unterschiedlichen Gemeinwohlkonzeptionen plötzlich "Verfassungsfeinde" auf der politischen Bühne auftreten. Und das Bundesverfassungsgericht wird - widerwillig oder bereitwillig - in Konflikte hineingezogen, die vielleicht besser den Arbeitsbedingungen parlamentarischer Arbeit (größere Flexibilität und komplexere Problemverarbeitungskapazität) überlassen bleiben sollten.

In diesen Diskussionen wird ein wesentlicher Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Politikverständnis deutlich. Die Sehnsucht nach der materialen Steuerung von Politik durch die Verfassung und deren gerichtliche Kontrolle bringt das Mißtrauen des Deutschen gegenüber dem Bürger in ihm selbst, zumindest aber im anderen, zum Ausdruck: Wir vertrauen nicht unserem eigenen politischen Urteil und der Leistungsfähigkeit unseres politischen Prozesses zur Legitimierung der Ergebnisse - jedenfalls tun wir dies weit weniger als amerikanische Bürger, für die der Rekurs auf "We the People" eine Quelle ist, aus der für demokratisch verfaßte Politik eine starke Vermutung der Legitimität entspringt, auch wenn die Ziele der Politik nicht im Verfassungstext vorgegeben sind. Sind wir Deutsche hier durch die Nazizeit auf ewig gebrannte Kinder, leicht Verführbare, die zu sehr auf externe Kontrolle statt auf politisch sich äußernden und sich vermittelnden Bürgersinn setzen? Oder werden wir eines Tages selbstbewußt wie der Supreme Court 1908 in Twining versus New Jersey sagen können: "Es darf nicht vergessen werden, daß in einem freien repräsentativen Gemeinwesen nichts fundamentaler ist als das Recht des Volkes, sich durch seine ernannten Vertreter und in Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen regieren zu lassen, soweit es sich nicht durch verfassungsrechtliche Begrenzungen spezifisch gebunden hat"? Die Alternativen in der durch den Verfassungstext angelegten Verhältnisbestimmung von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit treten jedenfalls klar vor Augen: (1) Die inhaltlichen Letztwerte der Verfassung (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) sind durch den demokratischen politischen Prozeß grundsätzlich als verwirklicht oder auch als ersetzt anzusehen. Das wäre die demokratiemaximierende Sicht, nach der verfassungsgerichtliche Kontrolle reduziert ist auf die Auslegung spezifischer Grundrechte und die Sicherung der Fairneß des politischen Prozesses. (2) Die inhaltlichen Verfassungswerte stehen gleichberechtigt neben den Prozeßwerten der Demokratie und Gewaltenteilung. Das läuft auf eine Gleichrangigkeit von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit mit unsicherer gegenseitiger Abgrenzung hinaus - die Machtfrage wird sozusagen in der Schwebe gehalten. (3) Die inhaltlichen Letztwerte der Verfassung können die Prozeßwerte übertrumpfen. Das ist die stark aktivistische Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, die letztlich sowohl in Amerika wie in Deutschland vorherrscht, wenngleich sie in Deutschland noch mehr Anhänger hat als in Amerika: Nach ihr steht den Gerichten eine weitgehende, ja wegen des umfassenden Charakters der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit fast unbeschränkte inhaltliche Kontrolle der Ergebnisse demokratischer Politik zu.

Ende der 60er wurde in den USA auf breiter Front eine Debatte geführt über die Frage, ob man die in den meisten Gliedstaaten geltenden strikten Abtreibungsverbote auflockern sollte, nicht nur für den Fall der Bedrohung des Lebens der Schwangeren, sondern auch bei Vergewaltigung, ernsten Schäden am Fötus und sozialen Notlagen; auch eine Fristenregelung war im Gespräch. Diese Diskussion beendete der Supreme Court 1973 mit der Entscheidung Roe versus Wade. Er gewährte allen schwangeren Frauen ein weitreichendes Grundrecht auf Abtreibung, das bis zur Lebensfähigkeit des Fötus reicht; erst dann dürfen die Gliedstaaten das Leben des Ungeborenen schützen. Roe versus Wade ist bis heute eine der umstrittensten Entscheidungen des Gerichts. Wenn man einmal von dem Ergebnis absieht - das ein Teil der Bevölkerung enthusiastisch begrüßte, der andere genauso heftig angriff -, so liegt die Problematik darin, daß die Verfassung von keinem Recht auf Abtreibung spricht. Der Supreme Court benutzte, nachdem er das "Leben" des Ungeborenen nicht unter die verfassungsrechtliche Lebensklausel hatte fallen lassen, das allgemeine Freiheitsrecht, das aus seiner Sicht auch ein Grundrecht auf Freiheit der Abtreibung enthielt. Damit war das Gericht in die oben genannte dritte Ebene verfassungsgerichtlicher Kompetenzen vorgestoßen: Es konnte sich auf keine spezifische textliche Grundlage in der Verfassung berufen; auch ging es nicht um den Schutz politischer Minderheiten gegen Unterdrückung - im Gegenteil spricht vieles dafür, in den Ungeborenen eine schutzbedürftige Minderheit zu sehen; zudem gab es keine anerkannte Tradition der Freiheit der Abtreibung. Wenn all diese Verfassungs- und Traditionsbindungen nicht existieren, worin liegt dann die Legitimation des Gerichts zur Erfindung neuer Grundrechte? In der Konkretisierung einer allgemeinen Freiheitsklausel, über die Richter genauso unterschiedliche Meinungen vertreten wie Bürger und Philosophen. Soll das ausreichen für gerichtliche Intervention in den politischen Prozeß? In den USA waren und sind die Meinungen geteilt; oft wurden die institutionellen Bedenken zurückgestellt, weil das Ergebnis "stimmte".

Das Ergebnis hätte aber ebenso gut anders ausfallen können, wie das deutsche Abtreibungsurteil von 1975 zeigte: In ihm erklärte das Bundesverfassungsgericht die vom Gesetzgeber geplante Fristenregelung für verfassungswidrig. Statt dessen ordnete es ein Indikationsmodell an, in dem Abtreibung grundsätzlich verboten ist, aber in den Ausnahmefällen einer medizinischen, kriminologischen, eugenischen und sozialen Indikation gerechtfertigt sein kann. Die verfassungsrechtliche Ausgangslage war vergleichbar: Auch die deutsche Verfassung enthält kein ausdrückliches Abtreibungsrecht oder Abtreibungsverbot; sie enthält ein Recht auf Leben und ein allgemeines Freiheitsrecht auf Persönlichkeitsentfaltung. Anders als der Supreme Court subsumierte das deutsche Gericht das Leben des Ungeborenen unter das grundgesetzliche Recht auf Leben und sprach diesem den Vorrang gegenüber dem Interesse der Schwangeren an ungehinderter Persönlichkeitsentfaltung zu. In der Praxis entwickelte sich das Abtreibungsverbot dann zwar anders - über die soziale Indikation konnte fast jede Schwangere eine Abtreibung vornehmen lassen -, bemerkenswert ist aber doch, daß zwei oberste Gerichte im Rahmen der gemeinsamen westlichen Rechtstradition und unter Berufung auf textlich übereinstimmende Verfassungsnormen zu solch unterschiedlichen, dogmatisch geradezu antagonistischen Urteilen gelangen können. Offensichtlich bleibt Raum genug für unterschiedliche Gewichtungen aufgrund nicht vergleichbarer historischer und kultureller Kontexte: In Deutschland wollte das Gericht wegen der lebensverachtenden Praxis des Dritten Reiches den Lebensschutz besonders extensiv interpretieren; zudem wird dem Staat und der Verfassung generell mehr an Sozialgestaltung zugemutet als in Amerika, wo deren Schwerpunkt eher im Bereich der gesellschaftlichen Selbstorganisation liegt. Dort konkurrieren deutlicher und extremer als in Deutschland zwei Sozialmodelle miteinander: das individualistische "Go West Young Man"-Modell mit der Betonung auf robuster Selbstbehauptung, und das konservative, noch stärker religiös oder republikanisch orientierte Modell des schonenden Ausgleichs und der Gemeinschaftsbindung. Wenn in solchen Lagen offener ideologischer Konkurrenz die Verfassung über den Text keine spezifischen Entscheidungskriterien vorgibt und das Gericht sich trotzdem über die Konkretisierung von vagen Klauseln eine Entscheidungsmacht sichert, dann wird klar Verfassungspolitik betrieben: Die jeweilige Mehrheit der Richter geht "community shopping", sucht sich die Tradition aus, die sie für förderungswürdig hält. Das kann gutgehen und ist in einigen Fällen in den USA auch gutgegangen - etwa bei der Eliminierung von rechtlicher Rassenbenachteiligung -, es kann aber auch schiefgehen, indem ein Urteil das Volk spaltet und die bestehenden Konflikte durch die Verankerung eines Grundrechts noch anheizt. Bemerkenswert ist, daß beide Gerichte sich im Laufe der letzten 20 Jahre aufeinander zubewegt haben: 1992 grenzte der Supreme Court die Reichweite der Roe versus Wade-Entscheidung ein. Nunmehr darf der Staat die Freiheit zur Abtreibung beschränken, soweit es sich nicht um "undue burdens" handelt; zulässig sind jetzt etwa Beratungspflichten über Alternativen und die Pflicht zur Benachrichtigung von Eltern, wenn Minderjährige abtreiben wollen. Das deutsche Verfassungsgericht hat sich 1993 von dem Indikationsmodell entfernt und, grob gesprochen, eine Fristenlösung mit Beratungspflicht akzeptiert. Damit haben sich die beiden Gerichte erheblich angenähert. Das ist ein Ergebnis der heftigen Diskussion in Politik und Recht, wobei in Amerika das deutsche Urteil von 1975 seinen Teil dazu beigetragen hat, den Sinn für die Problematik eines weitgehenden "Grundrechts auf Abtreibung" zu schärfen.

Nachdem deutlich geworden ist, wie wichtig die Rolle der Verfassungsrichter bei der Interpretation der Verfassung ist, verwundert es nicht, daß deren Wahl auf besonderes Interesse stößt. In Deutschland werden sie je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. In beiden Organen bedarf es einer Zweidrittelmehrheit. Für den Bundestag handelt ein aus zwölf Mitgliedern bestehender Wahlausschuß, der zur Verschwiegenheit über die persönlichen Verhältnisse der Bewerber verpflichtet ist. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit gilt weithin als gelungene Regelung, weil es die Berufung einseitig festgelegter Kandidaten verhindert. Kritik wird aber an der Vertraulichkeit der Beratungen geübt, die öffentlich sein und eine Befragung der Kandidaten mitumfassen sollten. Befürworter einer solchen Änderung stützen sich oft auf das amerikanische Auswahlverfahren, wo der Präsident einen Richter vorschlägt, der Senat aber zustimmen muß. Dabei wird dem Präsidenten dank seiner demokratischen Legitimation ein gewisser Spielraum gewährt - er darf Kandidaten präsentieren, die mehr oder weniger "auf seiner Linie liegen". Wie weit dieser Spielraum reicht, wird durch die Politik selbst bestimmt: Geht es um Fragen, in denen die Bürger - und dementsprechend auch die Parteien - ideologisch gespalten sind, wird der Senat versuchen, den Kandidaten des Präsidenten zu "kippen", wenn dieser die "falsche" Linie vertritt. So geschehen, als Präsident Ronald Reagan Robert Bork, einen Gegner des Grundrechts auf Abtreibung, präsentierte. Die "Offenheit", die im Anhörungsverfahren herrschte, war so groß, daß der Kandidat abwechselnd als größter und integerster oder als mittelmäßiger und voreingenommenster Jurist des Jahrhunderts dargestellt wurde. Es war, wie selbst viele Gegner Borks nach seinem Scheitern zugestanden, kein vorbildliches, sondern ein abschreckendes Verfahren zur Bestellung eines Supreme Court-Richters. Und die Fortsetzung war ebenfalls nicht dazu angetan, Vorbildfunktion zu entfalten: Präsident George Bush präsentierte ein "unbeschriebenes Blatt", einen Richter, der sich bislang durch fast totale Zurückhaltung in allen ideologisch befrachteten Rechtsfragen hervorgetan hatte. Der Kandidat wurde vom Senat akzeptiert, aber es stellt sich die Frage: Sind die rücksichtslose Durchleuchtung und Demontage ideologisch ungeliebter Personen einerseits und die Präsentation möglichst "unbeschriebener Blätter", farbloser Kandidaten andererseits notwendigerweise die beiden Alternativen für das Verfahren der ja auch in Deutschland zum Teil geforderten "offenen Richterbestellung"? Oder sind dies nur die Alternativen im Rahmen der spezifisch amerikanischen Robustheit in politischen Auseinandersetzungen, die nicht ohne weiteres ein "offenes" Richterbestellungsverfahren in Deutschland prägen würden? Hängt der Grad der Ausnutzung des offenen Verfahrens vielleicht vom Anstieg multikultureller Auseinandersetzungen ab, so daß die bislang in Deutschland vorherrschende Zivilität der Richterbestellung in gleichem Maße abnimmt, wie die Härte der politischen Auseinandersetzung zunimmt? All diese Fragen bedürfen zunächst wohlbegründeter Antworten, bevor man das deutsche Modell der Richterbestellung durch das amerikanische ersetzt.

Autor:
Prof. Dr. Winfried Brugger
LL.M., Juristisches Seminar, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 74 62

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