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Arbeitslos wird die Chirurgie nicht

Daß das Land Baden-Württemberg sein Transplantationszentrum in Heidelberg aufbaute, ist zum großen Teil Christian Herfarths Verdienst. Michael Schwarz portraitiert den Chirurgen

Für Christian Herfarth gibt es, wenn er an die Zukunft der Transplantationschirurgie denkt, ein entscheidendes Nadelöhr: die Organbeschaffung. Nicht nur die Gesetzgebung macht der Chef der Heidelberger Chirurgie verantwortlich, auch die Dallgemeine psychologische Ausgangssituation" hält er für problematisch. "Bei uns besteht eine gewisse Fortschrittsfeindlichkeit in der Medizin" - aus irrationalen Gründen, wenn zum Beispiel behauptet wird, die Todeszeitbestimmung sei falsch. Oder wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, Organhandel sei gang und gäbe. Wichtig ist für ihn, daß die Öffentlichkeit die Idee der Transplantation trägt und eine positive Atmosphäre gegenüber der Organspende herrscht.

Der international angesehene Wissenschaftler - Arzt in dritter Generation - wollte eigentlich Mathematik und Physik studieren, später, noch als Famulus, Pfleger und Medizinalassistent, hätte er fast die Psychiatrie oder Neurologie gewählt. Erst sein Doktorvater Adalbert Bohle am Pathologischen Institut in Heidelberg weckte die Begeisterung für das praktische Fach und gleichzeitig für die wissenschaftliche Arbeit. Herfarth arbeitete seinerzeit über die Schockniere. Prägend waren wohl die Vorbilder in seiner Familie. Der Vater: in den Augen des Sohnes ein "exzellenter praktischer Chirurg", engagiert, schnell und tatkräftig. Der Großvater: ein praktischer Arzt in Schlesien, der noch mit der Kutsche ausfuhr und den kleinen Jungen begeisterte, wie er seine Praxis führte. So kam Herfarth schon als Zwölfjähriger in den OP, half, aus einem ordinären Staubsauger einen OP-Absauger zu machen. Nach dem Krieg fuhr er mit der Oberschwester des Krankenhauses in einem Leiterwagen über Land, um bei den Bauern Eßbares für die Patienten zu erbetteln. Verwirrend wie der Krieg auch Herfarths frühe Lebensstationen: Breslau, Glogau, Leipzig, Plauen, Metzingen, Trier, wo er sein Abitur mit "sehr gut" bestand. Wanderjahre folgten auch als Student: Tübingen, Wien, Hamburg, Heidelberg. Und als Arzt und Wissenschaftler - Marburg, das schwedische Lund, Freiburg, Denver (USA), Ulm. Im Oktober 1981 wurde Christian Herfarth "seßhaft", als Klinikdirektor für Allgemeine Chirurgie und Unfallchirurgie an der Uni Heidelberg.

DWie haben sich die Fortschritte der Transplantationschirurgie in Ihrem persönlichen Werdegang niedergeschlagen", frage ich ihn an einem sonnigen Samstagmorgen in der Klinik, den wenigen Stunden, in denen etwas mehr Zeit bleibt als sonst. Seine Antwort: "Für mich war das eigentlich gar nicht überraschend. Es gab keine entscheidende Zäsur." 1966 habilitierte er sich in Marburg über Fragen der Pathophysiologie der Leber. Wie kann man das Organ konservieren, was kann es schädigen, wie läßt sich die Schädigung bremsen? Zwei Jahre später, schon in Freiburg, begann der Chirurg große Serien von Lebertransplantationen im Tierexperiment. Mit der Übernahme des Lehrstuhls in Ulm 1973 gab er diese Arbeit auf. Die Infrastruktur einer kleinen Abteilung erlaubte es nicht, eine Lebertransplantation zu wagen. "Da laufe ich ins Leere", dachte Herfarth und konzentrierte sich ganz auf die Onkologie. In Heidelberg griff er den Faden wieder auf. 1985/86 begannen die Vorarbeiten, 1987 fand die erste Lebertransplantation bei einem Menschen statt.

Für die Zukunft setzt Herfarth auf verbesserte Techniken, um Organe zu konservieren, zu schonen, wieder funktionsfähig zu machen. Eine Revolution sieht er kommen, wenn durch genetische Manipulation Fremdorgane - also Organe von Tieren - für die Transplantation zur Verfügung stehen und "Xenotransplantation" kein abstraktes Wort mehr ist. Zehn, fünfzehn Jahre könnten bis dahin noch vergehen.

Ersatzorgane aus körpereigenem Material zu schaffen, hält der Klinikchef für "banal und uralt". Schon immer habe die Medizin das versucht. Faszinierend sei heute die Transplantation von eigenem oder fremdem menschlichem Darm. "Man kann mit dem Darm Ableitungskanäle ersetzen, Gallengänge oder Teile der Speiseröhre." Zusammen mit Kollegen aus der Mund-, Zahn- und Kieferklinik transplantiert sein Team Dünndarm in den Mundbereich und ersetzt damit die Mundschleimhaut. Seit zwei Dekaden kann der Magen durch Dünndarm ersetzt werden, der Mastdarm hingegen erst seit zehn Jahren. Der hochgewachsene, zielstrebige Mann, den das Familienalbum auch in den Farben der Frankonia zeigt, hält es für möglich, daß in anderthalb Jahrzehnten bestimmte Tierorgane dem Menschen eingepflanzt werden. Die Schweineleber wäre ideal, weil hier wohl die geringsten ethischen Probleme aufkommen. Und auch für die Niere scheint vieles aus heutiger Sicht möglich. Natürlich wären erhebliche genetische Vorarbeiten nötig: "Die Leber ist ein Organ wie ungefähr zehnmal die BASF in zwei Kilo."

Für den Chirurgen war auch das Tumorzentrum Heidelberg/Mannheim ein Grund, von Ulm nach Heidelberg zu wechseln. Herfarth hält das Heidelberger Konzept der engen Verbindung von Klinik und Theorie - verkörpert vor allem durch das DKFZ - auch heute noch für wegweisend. Daß später das Transplantationszentrum hinzukam, ist zu einem Gutteil Herfarths Verdienst. Er überzeugte die Landesregierung, das baden- württembergische Zentrum genau hier, in Heidelberg, aufzubauen. Wichtig an dem Projekt, sagt er heute, sei die Durchsetzung eines perfekten klinischen Programms zugunsten einer neuen Therapieform. Fragen, die sich hier ergeben, dienten als Motor, Neues anzugehen, das "uns weiter nach vorne bringt". Als Beispiel nennt er die neue Form der immunsuppressiven Therapie bei der Lebertransplantation, über die Stefan Meuer in "Ruperto Carola" 1/94 berichtete.

Vor zehn Jahren schrieb Herfarth, dessen Vita von Erfolg gekrönt scheint, in einem Leserbrief an die FAZ einen programmatisch klingenden Satz: "So sehr in der prä- und postoperativen Phase Menschlichkeit als Integrativum jeder Therapie von Nöten ist, so sehr richtet sich eine Operation allein nach den Kriterien des Erfolges." Eine Meßlatte für seine Arbeit, aber wie lebt er mit dem Mißerfolg? - DDer Mißerfolg in der Chirurgie ist eine Tragödie, für den Patienten, für seine Familie und für den Chirurgen." Gerade in der Chirurgie, fügt er nachdenklich hinzu, weil der Chirurg nicht indirekt, sondern direkt handle. Mit seinen Händen, mit seinem körperlichen Einsatz bestimme er zu einem großen Teil den Erfolg einer Operation. Der Mißerfolg ist für ihn, dem das Leben alle Facetten brutal auf den OP- Tisch legt, eine persönliche Belastung, "die man nicht ohne weiteres verarbeitet". Sie verfolge jeden Chirurgen, und manche Erlebnisse vergesse man nie. Für Christian Herfarth ist das Jahr 1963 ein solcher Markstein im Leben. Als Assistent übersah nicht nur er, sondern das gesamte Team bei der Nachbehandlung einer jungen Patientin mit einer schweren Bauchfellentzündung "bestimmte Dinge". DDie Frau ist gestorben. Ich fühlte mich damals wesentlich mitverantwortlich, und dieses Erlebnis verfolgt mich noch heute." Bei jeder ähnlichen Erkrankung denke er an diesen Fall.

Wie geht ein erfolgverwöhnter Klinikchef, anerkannt und geehrt auf der ganzen Welt, damit um? Ohne etwas zu entschuldigen, sagt er, müsse der Chirurg für sich selbst und den Mitarbeitern gegenüber klar die eigenen Fehler benennen. Die Fehleranalyse gehöre zur täglichen Arbeit, aber auch die Folgerung, wie man es anders machen muß. Je älter oder erfahrener ein Chirurg werde, um so leichter könne er mit der Last der Verantwortung leben. Der junge Assistenzarzt tue sich schwerer, für sich Fehler zu akzeptieren.

An jenem Samstag, als ich mit ihm in der Klinik sitze, wird gerade die 207. Lebertransplantation unter Herfarths Verantwortung durchgeführt. Gehen ihm wirklich 207 Schicksale nah? "Bei rund 50 solcher Transplantationen pro Jahr ist jeder einzelne Patient sehr präsent." Ist Sport - Segeln, Skilaufen, Klinik-Fußball, die das Familienalbum zeigt - ein Verarbeitungsmechanismus für ihn? "Nein. Ich lese gerne etwas anderes als Fachliteratur, zum Beispiel Geschichtliches, oder ich gehe Wandern."

Immer wieder hört man ein Klischee: der Klinikarzt sei kein Wissenschaftler, der Klinikbetrieb habe mit Forschung wenig zu tun. Selbst der Wissenschaftsrat, Deutschlands höchstes Beratergremium für die Forschung, nörgelt immer wieder am Zustand der klinischen Forschung in diesem Land herum. Zu recht oder zu unrecht? - Christian Herfarth merkt man es an, daß er sich bei der Antwort bremsen muß. Die wissenschaftliche Arbeit im chirurgischen Alltag sei etwas völlig anderes als anderswo. "Die Chirurgie ist ja ein klinisches Fach, klinischer als jedes andere, weil man handwerklich arbeitet, am Patienten direkt, im OP und auf den Stationen - viel weniger abstrakt, als am Schreibtisch Therapien zu planen oder Differentialdiagnosen durchzugehen. Das führe zu einer speziellen Forschungsform in der Chirurgie.

Die Grundebene ist die laufende Überprüfung gängiger Operationsverfahren, "die Wertung und Infragestellung der Verfahren und damit die Weiterentwicklung". Genau hierin sieht er den ersten Schritt wissenschaftlicher Tätigkeit. Als zweiter folge die Analyse bestimmter Operationen bei einzelnen Patienten. Dabei überprüfe der Chirurg anhand wissenschaftlicher Kriterien, "ob das, was man tut, richtig ist oder ob es besser gemacht werden könnte". Forschung am einzelnen Patienten - heißt das, jeder ist ein Versuchskaninchen? DNein", wiederholt Herfarth, "es wird nur das kritisch überprüft, was man tut." Zur Forschung gehört auch der Vergleich verschiedener Therapieverfahren in Studien. Zum Beispiel bei der chronisch entzündlichen Darmerkrankung, Morbus Crohn. Anfang der achtziger Jahre führte Herfarths Team eine Studie durch, bei der die Frage hieß: Ist es besser, bei Morbus Crohn radikal zu operieren wie bei Krebs - oder vorsichtig und zurückhaltend wie bei einer Entzündung? Heraus kam, daß bei der schonenden Operation - der minimalisierten, gezielten, kunstgerechteren - die Patienten weniger Rückfälle und bessere Verläufe als bei der 30 Jahre praktizierten radikalen Operationsart hatten. "Das ist klassische klinische Forschung. Therapievergleich."

Auch das Experiment am Tier oder am Modell gehört zur Forschung in der Chirurgie, ebenso wie Studien über die Organerhaltung, die Durchblutung von Organen und bestimmte therapeutische Ansätze. Was Herfarth besonders am Herzen liegt, und was in der Onkologie und Transplantationsmedizin entscheidend ist: die klinische Umsetzung neuer Methoden aus der Grundlagenforschung. Zum Beispiel der neue therapeutische Ansatz, die Abstoßungsreaktion des Empfängerorganismus nach einer Transplantation mit Hilfe von Antikörpern zu unterbinden - oder molekularbiologische Methoden zur Diagnose von erblichen Erkrankungen und zur Differenzierung von Krebsvorstufen. Hier öffne sich ein weites Feld.

Der Arzt und Forscher ist sicher, daß die Gentherapie hinzu kommen wird. "Die Chirurgie stirbt durch die modernen Erkenntnisse der Molekularbiologie nicht aus, sondern wird viel differenzierter und bekommt stärker präventiven Charakter." Sie werde deutlich schonender, minimalisierter. Es gebe in Zukunft kaum ausgedehnte, sondern gezielte Operationen, die Organfunktionen erhalten, aber kranke Herde beseitigen. Mehrschrittbehandlungen nehmen sicher zu. Doch in der Karzinombehandlung behält die Chirurgie wohl weiterhin ihre Schlüsselrolle, da große Tumoranhäufungen mit schlecht durchbluteten Arealen für eine Zusatztherapie schwer zugänglich sind. "Arbeitslos wird die Chirurgie nicht."

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