Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Die Wurzeln der Sprache konservieren

Historiker nennen sie die frühe Neuzeit. Die Zeit des Buchdrucks und der Reformation. Schußwaffen wurden erfunden und Navigationsgeräte, Amerika entdeckt. Als das Bürgertum aufstieg, änderte sich das Bewußtsein der Menschen und ihre Sprache. Das hat Spuren hinterlassen in der Literatur, sich niedergeschlagen im Wortschatz. Mitarbeiter des Germanistischen Seminars spüren die Veränderungen auf und halten sie in dem dreibändigen ,Frühneuhochdeutschen Wörterbuch" fest. Jeder, der sich mit der Dokumentation, Beschreibung und Interpretation von schriftlichen Überlieferungen befaßt, ist für die Rekonstruktion der Geschichte darauf angewiesen. Oskar Reichmann berichtet über die Fleißarbeit der Lexikographen.

Jede Gesellschaft, aber auch viele Gruppen innerhalb der Gesellschaft, Berufs-, Sozial- oder Raumgruppe, suchen und finden ihre Identität sicher zum einen Teil in ihren Aufgaben; zu einem anderen, oft größeren Teil definieren, ja konstituieren, sie sich über die Geschichte. Sie gewinnen die Inhalte, denen sie ihren Zusammenhalt verdanken, aus einem Verlaufsbild der Vergangenheit, das von der Geschichtswissenschaft (re)konstruiert wird. Dieses Bild enthält unbestreitbar Faktisches in unterschiedlich dosierter Mischung mit Interpretativem; insofern ist der Historiker - trotz aller Einschränkungen - Herr der Geschichte und Architekt gegenwärtiger Orientierungen zugleich.

Für die (Re)Konstruktion der Geschichte kommt der Sprache - und innerhalb der Sprache dem historischen Wortschatz - eine Rolle zu, die schwerlich zu überschätzen ist: Es gibt schlechterdings nichts, weder Reales noch Gedachtes, auf das man nicht mittels lexikalischer Einheiten Bezug genommen oder das man nicht gar durch den Wortgebrauch konstituiert hätte; und es gibt dementsprechend keinen einzigen historischen Bestand, - sei er nun ein Gegenstand der Sachkultur wie 'Pflug' oder eine soziale Gegebenheit wie 'Obrigkeit', ein religiöser Begriff wie 'Gnade' oder eine literarische Fiktion wie 'Aventiure' -, der nicht am besten, wie im Bereich der Sachkultur, oder ausschließlich, wie alle Abstraktgegenstände, über Sprache erfaßbar wäre.

Die historischen Sprachstufen des Deutschen sind lexikographisch mit sehr unterschiedlicher Vollständigkeit und Qualität erfaßt. Die zuverlässigsten Wörterbücher existieren zum Althochdeutschen - achtes bis Anfang des 11. Jahrhunderts - , beziehungsweise sind in der Bearbeitung begriffen. Zum Mittelhochdeutschen - vom 11. bis 14. Jahrhundert - liegen zwei für die Zeit ihrer Entstehung hochrangige, inzwischen aber veraltete dreibändige Lexika vor, von Benecke/Müller/Zarncke, 1854-1866, und von Lexer, 1872-1878. Für das Frühneuhochdeutsche, vom 14. bis zum 17. Jahrhundert fehlt ein entsprechendes Werk bisher gänzlich. Das ältere Neuhochdeutsch - ab der Mitte des 17. Jahrhunderts - wird in dem von Jacob und Wilhelm Grimm initiierten ,Deutschen Wörterbuch" beschrieben, je nach Band, Zeit der Bearbeitung und verantwortlichem Redakteur mit teils unbefriedigender, teils aber exzellenter Qualität. Gänzlich fehlt ein Wörterbuch zum Frühneuhochdeutschen, dessen Erstellung ein dringendes Desiderat ist. Dafür gibt es vier Gründe:
Erstens ist die frühe Neuzeit eine Epoche der sozialen und geistigen Umwälzungen, des Aufstiegs des Bürgertums und der Reformation, der technischen Erfindungen, wie Buchdruck, Schußwaffen, oder Navigationsgeräte, und der territorialen Entdeckungen, zum Beispiel Amerikas, die das Aussehen der Welt verändert und die Entwicklung der folgenden Epochen stark geprägt haben.

Zweitens wurden die Innovationen von der neu entstehenden Gruppe der weltlichen Gelehrten in einer umfangreichen Literatur reflektiert und überliefert. Drittens hat die Überlieferung bewußtseins- und sprachbildend gewirkt, und ist in der Literatur und Sprache der folgenden Epochen auf Schritt und Tritt wiederzuentdecken. Viertens sind in vielen Fällen diese Nachwirkungen jedoch durch neuere sprachliche Entwicklungen überlagert oder verdrängt - und mithin einem gegenwärtigen Bewußtsein nicht mehr unmittelbar und ganz zugänglich. Davon ist nicht nur die Überlieferung der frühneuhochdeutschen Epoche selbst betroffen, sondern auch die Überlieferung der folgenden Epochen, in der jene mitschwingt, aber anonym bleibt, sofern man sie nicht in den Begriffen zu erkennen und zu dechiffrieren vermag.

Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch versucht, diese lexikographische Lücke, aus der die Gefahr einer immer stärkeren Reduzierung des Verständnisses für die geschichtliche Überlieferung seit der frühen Neuzeit resultiert, zu füllen. Zur äußeren Organisation und zur Geschichte des Vorhabens sei stichwortartig folgendes mitgeteilt:
- Begründet wurde das Vorhaben im Jahr 1977 durch R.R. Anderson und U. Goebel, USA, sowie den Autor dieses Artikels, der auch verantwortlich für die Konzeption des Gesamtwerks ist und es gemeinsam mit Goebel herausgeben wird.
- Das Alphabet wird in neun ungefähr gleich lange Strecken aufgeteilt, deren Bearbeitung idealiter jeweils einen Band von etwa 1000 Seiten ergibt, und die von einem oder mehreren Wissenschaftlern in Heidelberg, Bonn, Bochum, Kopenhagen und Newcastle sowie am Institut für deutsche Sprache in Mannheim bearbeitet werden. Publiziert wird in Lieferungen für mehrere Bände gleichzeitig.
- Die Erscheinungsdaten für die ersten beiden Bände, die in Heidelberg vom Autor unter Mitwirkung von I. Lemberg sowie A. Haller-Wolf bearbeitet werden, sind 1986-1989 und 1991 bis 1994.
- Bisher gibt es für das Projekt keine institutionelle Absicherung, so daß das gesamte Vorhaben aus dem Normaletat des Germanistischen Seminars des jeweiligen Bandbearbeiters und zum Teil auch aus Privatmitteln finanziert wird. Es besteht aber die Aussicht auf Übernahme des Projekts durch das Institut für deutsche Sprache in Mannheim.
Der Gegenstand des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches, FWB, ist der Wortschatz des Hochdeutschen, also des Mittel- und Oberdeutschen, in allen seinen überregionalen, dialektalen, soziolektalen und sonstigen Varianten und in allen seinen Textsorten für die Zeitspanne vom 14. bis 17. Jahrhundert. Als Adressaten des Wörterbuches werden alle diejenigen angenommen, die professionell oder auf sonstigem wissenschaftlichem Niveau mit der Dokumentation, Beschreibung und Interpretation schriftlich fixierter Tradition und solchermaßen mit der (Re)Konstruktion von Geschichte befaßt sind. Dies sind Lernende und Lehrende der Sprach- und Literaturgeschichte ebenso wie aller Sparten der Geschichtswissenschaft, der Rechts- und Kirchengeschichte, der Geschichte der Philosophie- sowie der einzelnen Fachgeschichten. Das FWB beansprucht, mit der Festlegung seines Gegenstandes auf die gesamte Überlieferung ein Grundlagenwerk für alle traditionssichernden Disziplinen zu sein.

Die Erarbeitung eines Wörterbuches vollzieht sich nach seiner Grundlegung, die die genannten Basisentscheidungen enthält, in drei Phasen: Planung, Exzerption der Quellentexte und Formulierung der Artikeltexte. In der Planungsphase werden alle Entscheidungen über das Quellencorpus, die Anlage des Wörterbuches und über die Artikelstruktur gefällt. Für das FWB ergaben sich dabei folgende Festlegungen: Angesichts des Faktums, daß der Gegenstand ,Frühneuhochdeutsch" unter zeitlichen, sprachräumlichen und textsortenbezüglichen Aspekten eine im Vergleich zum jüngeren Neuhochdeutschen hohe innere Heterogenität aufweist, ist ein Corpus zusammenzustellen, das die einzelnen Phasen des Frühneuhochdeutschen, und alle seine Sprachräume - vom Kölnisch-Ripuarischen bis zum ungarischen Inseldeutsch - möglichst ausgewogen erfaßt, ebenso wie alle seine Textsorten von den rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen, den chronikalischen und literarischen Texten, über die didaktischen und theologischen bis zu den Realientexten. Da die Texte jederzeit verfügbar sein müssen, hat man sich dabei in aller Regel auf zuverlässige Editionen zu beschränken, nur in Ausnahmefällen werden Kopien von Handschriften und alten Drucken herangezogen. Das auf diese Weise für das FWB zusammengestellte Corpus umfaßt rund 550 Texte oder Textsammlungen mit einer Gesamtlänge von hochgerechnet 275 000 Seiten und über 100 Millionen Wortvorkommen. Selbstverständlich ist das nur ein Bruchteil der gesamten Überlieferungsmenge, deren genaue Größenordnung sich nicht genau abschätzen läßt, weil sichere Vorstellungen von der Gesamtheit der Überlieferung fehlen.

Entscheidend ist die Effektivität des Corpus: Nicht das umfänglichste Corpus ist das beste, sondern dasjenige, das durch räumliche, zeitliche und textsortenbezügliche Ausgewogenheit sowie stetige praktische Verfügbarkeit bei möglichst geringem Umfang maximale Ausbeute garantiert. Die Anlage des Wörterbuches wird durch die Standardsituation der Wörterbuchbenutzung vorgegeben. Diese besteht darin, daß der Texthistoriker, zum Beispiel der Luther-Philologe, bei seiner Beschäftigung mit einem historischen Text auf lexikalische Einheiten stößt, die er nicht oder nur teilweise versteht und über die er dementsprechend Informationen, üblicherweise semantische, sucht. Will man seinem Anliegen entsprechen, so kann das historische Wörterbuch nur als alphabetisch geordnetes Bedeutungswörterbuch - nicht also zum Beispiel als Begriffswörterbuch nach einer vorgegebenen Weltgliederung - konzipiert sein.

Auch die Artikelstruktur muß konsequent auf die Fragen ausgerichtet sein, die von den Wörterbuchbenutzern zu erwarten sind. Im Zentrum steht deshalb die semantische Information, mit anderen Worten: eine Bedeutungserläuterung, die die einzelnen Verwendungsweisen eines Wortes
- differenziert erklärt,
- sie durch Nennung bedeutungsverwandter Wörter und durch Aufzählung syntagmatischer Prädikationen über den Bezugsgegenstand des Wortes stützt
- sie durch Zitierung aussagekräftiger Belegbeispiele an objektsprachlichem Material veranschaulicht und gleichzeitig nachprüfbar macht.

Die Exzerption der Quellentexte kann auf keinen Fall in der Weise erfolgen, daß man mechanisch - möglicherweise maschinengestützt - jedes Wortvorkommen mit einer bestimmten Menge Kontext auf einen Karteizettel oder dessen Computeräquivalent überträgt und dem Lexikographen zur Bearbeitung gibt. Die dadurch entstehenden Beleghalden, die Wiederholung von lexikographisch völlig Uninteressantem, die philologische und linguistische Abstinenz dieses Verfahrens sowie das mit ihm notwendigerweise verbundene Zerreißen mancher Worteinheiten, zum Beispiel Präfixkomposita des Typs reiße [...] ab, machen jede Effektivität zunichte und führen überdies zu Verfälschungen in der Lemma- oder Stichwortliste. Es geht demgegenüber darum, durch eine Kombination verschiedenster methodischer Tricks ein Exzerptionsergebnis zu erzielen, das den Vorteil möglichst geringer Belegquantitäten mit dem Erfordernis möglichst hoher Qualität verbindet. Letztere ist dann gegeben, wenn die Ausbeute an Stichwörtern einen vertretbaren Vollständigkeitsgrad erreicht, und wenn die in den Belegexzerpten enthaltene Information die Prädikationen des Textes zu seinen Bezugsgegenständen gleichsam an ihrer dichtesten Stelle wiedergibt.

Dies soll an einem Beispiel kurz veranschaulicht werden: Die Augsburger Chronik des Burkard Zink, einer der Quellentexte des FWB, enthält zu dem Jahr 1392 folgenden Eintrag (S. 45 der Edition von C. Hegel): Von dieser Textstelle, die gleichzeitig einen Eindruck von der Sprachstufe des Frühneuhochdeutsch vermittelt, werden bei einer der angewandten Exzerptionsmethoden, der sogenannten linearen, zum Beispiel die folgenden Wörter ausgezogen: gnadenjar, bilgerin, abloß, almuessen, himl. Über abloß 'Ablaß' wird im Text unter anderem folgendes prädiziert: Pilger suchen massenweise Ablaß. Dies geschieht - erstaunlicherweise, doch offensichtlich - in einiger öffentlicher Sicherheit. Die Ablaßerteilung erfordert als Gegenleistung Almosen und eine bestimmte Anzahl von Kirchenbesuchen. Die Benedizier veranschlagen den Ablaßsuchenden nach seiner Leistungs- fähigkeit. Es geht alles nur um das Geld. Jedermann möchte in den Himmel kommen, eine für die religiösen Nöte der Zeit zeichenhafte Aussage.

Textstellen dieses Dichtegrades geben geradezu schlaglichtartig Auskunft über einen Tatbestand, hier einen sozial-religiösen. Sie in den Exzerpten zu erfassen und die Exzerpte gleichzeitig mit allen für die Formulierung der Wörterbuchartikel notwendigen textphilologischen und linguistischen Informationen zu versehen, ist eine Aufgabe, die neben der technischen und interpretativen Sorgfalt, ein hohes Verständnis des Frühneuhochdeutschen sowie gute Text- und Kulturkenntnisse und schließlich das berühmte - wenn auch methodisch kaum faßbare - wissenschaftliche Fingerspitzengefühl voraussetzt. Diese Aufgabe wird an in Heidelberg zentral für das gesamte Wörterbuch von studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften vollzogen. Die für die deutsche Universität konstitutive Verbindung von Forschung und Lehre ist an der Arbeitsstelle des FWB also tägliche und von allen Beteiligten mit Lern- und Forschungsgewinn geübte Praxis. Die Heidelberger Exzerption wird seit 1991 durch die DFG finanziert. Sie soll 1996 abgeschlossen sein und wird dann einen Belegbestand von rund 1,2 Millionen Einheiten, die überdies mehrfach nutzbar sind, umfassen.

Die Formulierung der Artikeltexte hält sich an die in der Planungsphase festgelegte Artikelstruktur und füllt diese gleichsam materialiter aus, indem sie das durch die Exzerption pro Wort bereitgestellte Belegmaterial in lexikographische Information umarbeitet. Dies ist in wenigen Fällen ein eher technischer Routinevorgang, sehr oft aber, vor allem bei den sogenannten Kulturwörtern, eine Tätigkeit, bei der gleichzeitig gesichtet, ausgewählt, interpretiert, gegliedert, gewertet, zusammengefaßt und vor allem abstrahiert werden muß. Dazu muß man sich vor Augen halten, daß es für viele Wörter mehrere hundert Belegvorkommen mit Dutzenden von Schreibungen und immer wieder wechselnden Bedeutungen mit oft schwankenden Bewertungen gibt. Hieraus müssen die Normalschreibung, die Normalgrammatik und das allgemeine Bedeutungs- und Weltwissen der Schreiber des Frühneuhochdeutschen ebenso ermittelt werden wie die (geregelten) Schwankungen des grammatischen und semantischen Wissens nach Zeit, Raum, Schicht, Gruppe und Textsorte. Und alles soll nicht nur erschlossen, sondern auch so dargestellt werden, daß es vom Benutzer des Wörterbuchs rasch und möglichst unmißverständlich erfaßt werden kann.

 

Auswählen, interpretieren, gliedern, werten

 

Das Ergebnis des Formulierungsprozesses soll wieder an einem Beispiel verdeutlicht werden, und zwar an dem Artikel auflauf: Obwohl der Artikel ohne weitere Erklärung verständlich ist, seien einige Erläuterungen, gleichsam als Legende nachgetragen: Hinter dem Stichwort stehen einige, in dem vorliegenden Zusammenhang irrelevante, grammatische Angaben. Es folgt, eingeschlossen in Häkchen, die Bedeutungsangabe des Wortes. Sie macht deutlich, daß die gesamte Skala zwischen verbaler Auseinandersetzung zweier Einzelpersonen bis hin zur sozialen Erhebung als auflauf bezeichnet wurde. Hinter der Sigle Bdv., bedeutungsverwandt, folgt eine Auflistung partiell synonymer Ausdrücke des 14. bis 17. Jahrhunderts für Auflauf. Die große Anzahl der Ausdrücke läßt, bei Wahrung der nötigen Vorsicht, auf die besondere Rolle schließen, die Streitigkeiten und Unruhen aller Art in frühneuhochdeutscher Zeit hatten. Die Sigle Synt., Syntagmen, leitet die Prädikationen ein, die über die Bezugsgröße ,Auflauf" in den Quellentexten gemacht wurden. Besonderes Gewicht haben die petit gesetzten, zeitlich und räumlich jeweils genau bestimmten Beispielbelege. Sie veranschaulichen in ihrer Gesamtheit alle wesentlichen Nuancen, in denen sich private und soziale Auseinandersetzungen in frühneuhochdeutscher Zeit vollzogen. Die Tatsache, daß hier ein Beispielartikel gewählt wurde, der nur einen einzigen Bedeutungsansatz aufweist, hat ausschließlich Raumgründe. Mehrdeutigkeit des Wortschatzes, von bis zu drei Dutzend Ansätzen für hochgradig polyseme Wörter, ist ansonsten geradezu die Regel.

Autor:
Prof. Dr. Oskar Reichmann
Germanistisches Seminar, Postfach 10 57 60, 69047 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 32 36

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang