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Der gesellschaftliche Sinn der Bypass-Chirurgie

Soziologen sind nicht gerade bekannt dafür, daß sie Probleme lösen, mit denen sich Mediziner seit Jahrzehnten vergeblich beschäftigen. Aber bei der Herzchirurgie kann man davon sprechen: Viele Patienten kehren nach einer erfolgreichen Bypassoperation nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, sondern lassen sich berenten - ein Dilemma für die Herzchirurgen, messen sie doch den Erfolg ihrer eigenen Arbeit an der Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten. Anhand individueller Patientenschicksale suchte Uta Gerhardt, Institut für Soziologie, nach Strukturen, die den Sinn der Bypasschirurgie gesellschaftlich erklären. Der neue qualitative Ansatz der Sozialforschung läßt hinter dem vieldiskutierten Effektivitätsdilemma einen Nebeneffekt des modernen Arbeitsmarktes im Wohlfahrtsstaat erkennen.

Seit den sechziger Jahren ist die Herzchirurgie weltumspannend ein Erfolgsunternehmen. Ihr gelingt es, bei einer koronaren Herzerkrankung die verengten Gefäßstellen zu überbrücken. Herzchirurgen benutzen dazu entweder eine Vene aus dem Oberschenkel als ,Ersatz-Arterie" oder leiten eine Arterie aus dem Brustbereich um. Für Patienten mit verengten Herzkranzgefäßen war die Überbrückung der Engstelle - Bypass bedeutet im Englischen: Überbrückung wie bei einer Hochbrücke über einen Engpaß - bis in die achtziger Jahre die einzige Therapie, die ihre schmerzhaften Herzanfälle dauerhaft lindern oder beseitigen konnte. Zehntausende wurden lebenslang von ihrer Angina pectoris befreit. Hunderttausende erlebten eine über Jahre anhaltende Besserung, sodaß sie ihr Leben, welches durch die Schmerzzustände massiv beeinträchtigt gewesen war, wiederaufnehmen konnten wie vorher. Durchschnittlich fünf bis sieben Jahre ,hält" der Erfolg einer Bypassoperation. Die Erfolgsbilanz ist seit den sechziger Jahren immer vorteilhafter geworden, weil sowohl die Operationstechniken als auch Verfahren und Substanzen der Anästhesie erheblich verbessert worden sind und die Herz-Lungen-Maschine während der Operation die Blutzirkulation aufrechterhält. Über zwei Drittel der Patienten sind heute auch zehn Jahre nach dem Eingriff noch schmerzfrei. So besteht kein Zweifel, daß die Bypasschirurgie sowohl die Lebenserwartung als auch die Lebensqualität der schwer Herzkranken überzeugend gesteigert hat.

 

Der Königsweg für die Rückkehr an den Arbeitsplatz?

 

Angesichts dieser Erfolgsbilanz verwundert es nicht, daß die Operation seit den sechziger Jahren als Königsweg zur Erhaltung der Berufstätigkeit gilt. Die Bypasschirurgie beurteilt sich selbst danach, ob die Patienten, deren Arbeitsfähigkeit überwiegend vollständig wiederhergestellt wird, nach der Operation wieder erwerbstätig werden. Die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit gilt für sie als das Kriterium ihrer eigenen Effektivität. Man kann hinzufügen, daß derartige Erwartungen sich vor allem auf männliche Patienten beziehen, die üblicherweise berufstätig sind, während die Frauen nach anderen Rehabilitationskriterien beurteilt werden. Weit über 80 Prozent der Operierten sind aber Männer, also ,stimmt" das Selbstbild der Herzchirurgie, daß sie ihre Patienten wieder fähig macht, ihren Beruf auszuüben.

Umso unverständlicher ist daher das Ergebnis von Studien in Europa, den USA, Kanada, Australien und Japan, die immer wieder nachweisen, daß der Operationserfolg keinerlei Vorhersage über die postoperative Berufsrückkehr erlaubt. Diese enttäuschende Feststellung mußte die Forschung machen, obwohl die Studien verschieden angelegt waren. Zum einen verglichen sie den Anteil der Erwerbstätigen vor und nach einer Operation: Keiner der Untersucher fand einen beachtlichen Anstieg der Erwerbstätigkeit nach der Operation, und in einigen Ländern stellten sie sogar typischerweise einen drastischen Abfall der Berufsausübung fest. Zum Beispiel verminderte sich in Deutschland der Berufstätigenanteil um bis zu 40 Prozent. Zum anderen stellten multizentrische Großstudien zwei zufallsverteilte Patienten-Gruppen, die entweder operiert oder nur medikamentös behandelt wurden, gegenüber, in der Hoffnung, die Chirurgie werde deutlich besser abschneiden. Aber das Ergebnis war so enttäuschend, daß die jüngsten Auswertungen der Daten nicht einmal mehr über die Berufstätigkeit berichten. Es ist also niemanden in den letzten zwanzig Jahren gelungen nachzuweisen, daß der Operationserfolg bei der Bypasschirurgie auch zur Berufsrückkehr führt. Das gilt für 50- bis 60jährige Patienten auch dann, wenn ihre Herzleistung gut ist, - gemessen durch die linksventrikuläre Auswurffunktion LVE - und unabhängig vom Schweregrad der Herzerkrankung. Die medizinische Forschung konnte die Frage, wie die unerwartet seltene Berufsrückkehr nach einem koronaren Bypass systematisch zu erklären ist, bisher nicht beantworten. Aus drei Gründen sind Soziologen zur Klärung nötig: Die Berufs- und Berentungsproblematik ist ein Feld des gesellschaftlichen Lebens, das in die Medizin hineinragt, aber selbst nicht zur Medizin gehört, nicht einmal zur Arbeits- und Sozialmedizin. Zwei Regelungsbereiche des Wohlfahrtsstaates sind dabei zu beachten, nämlich das Behindertenrecht und die Altersversorgung. Auf das Schwerbehindertengesetz, SchwbG, und das Bundesversorgungsgesetz, BVG, stützt sich die seit den siebziger Jahren geltende Regelung, daß eine Operation am offenen Herzen grundsätzlich eine Schwerbehinderung von 50 Prozent darstellt, woraus wiederum laut BVG das Anrecht auf Erwerbsunfähigkeitsberentung (EU) erwächst. Die gesetzliche Altersversorgung für Beamte, Angestellte und Arbeiter in den unterschiedlichen Versicherungs- und Versorgungswerken sieht eine gesetzliche Altersgrenze von 65 Jahren für Männer und 63 Jahren für Frauen vor. Doch das Durchschnittsalter beim Übergang in die Nacherwerbsphase ist heute bereits deutlich unter 60 Jahre gesunken und nur noch ein Fünftel aller Berufstätigen arbeitet bis zum gesetzlichen Ruhestandsalter. Außerdem ist die Arbeitsfähigkeit der Patienten, an der die Herzchirurgie sich mißt, kein Aspekt der Krankheit, nämlich der Verengung der Herzkranzgefäße. Sondern Arbeitsfähigkeit oder Unfähigkeit gehört zum Kranksein, also zum gesellschaftlichen Status einer sogenannten Krankenrolle, die seit den fünfziger Jahren in der Soziologie der Medizin untersucht worden ist. Krankschreibung und Krankengeld, Aussteuerung, Behindertenzeitrente oder Erwerbsunfähigkeitsberentung, aber auch die Arbeitsrückkehr bezeichnen Stadien des nicht- medizinisch geprägten Krankseins. Damit befassen sich zwar der Medizinische Dienst der Krankenkassen - der ,Vertrauensarzt" - und acht Millionen ärztliche Gutachten pro Jahr, doch die Inhalte sind eher gesellschaftlicher Art.

 

Arbeitsunfähigkeit ein Aspekt des Krankseins

 

Schließlich enthält die medizinische Forschung, die sich die seltene Berufsrückkehr nicht erklären kann, auch methodische Mängeln bei der Gestaltung der Studien. Sie verwendet epidemiologische Methoden, oftmals ohne die Voraussetzungen für deren Anwendung zu erfüllen. Unter anderem wurde bei den Berufs- und Berentungsgruppen nicht nach Altersklassen aufgeschlüsselt, sodaß eine Altersberentung nicht von Erwerbsunfähigkeitsberentung zu unterscheiden ist. Deshalb legen nur wenige der bisherigen Studien brauchbare Aussagen vor. Um das Problem neu aufzurollen, muß man einen ganz anderen Ansatz wählen, und zwar einen, der sich dazu eignet, die tatsächlich in den Biographien der Betroffenen verwirklichten Regelmäßigkeiten festzustellen. Das leistet die medizinsoziologische Biographieforschung. Sie geht qualitativ vor, das heißt, sie ermittelt die gesamte relevante Patientenerfahrung, und sie macht sich zur Aufgabe, die gesellschaftliche Seite der Erkrankung - also das Kranksein - so zu thematisieren, daß jedes einzelne Patientenschicksal zu erklären ist.

Unser von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt ,Aortokoronarer Venenbypass und Rückkehr zur Arbeit", dessen 1000seitigen Abschlußbericht wir Ende 1993 nach über fünfjähriger Laufzeit vorgelegt haben, orientiert sich an der klinischen Denkweise. Der Heidelberger Philosoph Wolfgang Wieland hat Mitte der siebziger Jahre in seinem Buch ,Diagnose: Überlegungen zur Medizintheorie" überzeugend dargelegt, daß die ärztliche Tätigkeit klinisches Handeln in jedem einmaligen Fall einer Erkrankung ist. Eine Diagnose ist ein singulärer Akt, und die Medizin ist als Praxis wissenschaftlich. Ähnlich hat der Medizintheoretiker Alvan Feinstein, Yale Universität, in den sechziger Jahren begründet, daß die Wissenschaftlichkeit des ärztlichen Tuns darin liegt, den aktuellen Verlauf einer Erkrankung zum Ansatzpunkt des fall- beziehungsweise patientenorientierten Entscheidungshandelns zu machen. Unsere Untersuchung schließt sich an diese Überlegungen an. Uns interessierte bei den Krankengeschichten der Bypasspatienten jeder einzelne Fall, und zwar unter einem doppelten Gesichtspunkt: wie verändert sich der Gesundheitszustand des Patienten über die Zeit und wie verlaufen die Stadien der Krankheitsgeschichte, von der Vorgeschichte über die Operation bis hin zu Berufsrückkehr oder Berentung. Ausgehend vom individuellen Einzelschicksal suchten wir nach Strukturen, die den gesellschaftlichen Sinn der Bypasschirurgie erklären. Zunächst stellten wir sicher, daß wir einen möglichst langen Zeitraum der Patientengeschichte überblicken. Da eine erste Entscheidung für die Wiederaufnahme der Arbeit oder die Berentung während der Monate der Krankschreibung kurz nach der Operation fällt, mußten wir sowohl die Langzeit- als auch die Kurzzeitdynamik der postoperativen Patientenbiographie erfassen. Deshalb sah unser Untersuchungsdesign vor, zwei merkmalsgleiche Patientengruppen, deren Operationstermine etwa zehn Jahre auseinanderlagen, retrospektiv beziehungsweise prospektiv zu erforschen - anhand von Arztdaten und - interviews, Dokumentationen der klinischen Zustandsbilder sowie biographischen Interviews mit den Patienten und ihren Partnern. Wir wählten die Merkmale für die Studienteilnahme so, daß alle aufgenommenen Patienten, im Lichte der bisherigen Literatur, optimale Voraussetzungen für eine Rückkehr in den Beruf hatten: Alter bis 55 Jahre in Ausnahmefällen 57 Jahre, volle Erwerbstätigkeit bis zur Operation, linksventrikuläre Auswurffraktion nicht unter 50 Prozent, Familienstand verheiratet oder langjährig mit dem Partner(in) zusammenlebend. Außerdem mußte die koronare Herzerkrankung zum Zeitpunkt der Operationsentscheidung angiographisch gesichert sein; notfallmäßig Operierte waren also ausgeschlossen. Die homogenen Kohorten von je dreißig Patienten gingen aus größeren Vor- und Hauptstudien hervor. In der retrospektiv untersuchten Gruppe gaben Ärzte und Patienten, deren Operationstermine zwischen 1976 und 1980 lagen, Auskunft über Krankenbiographien von bis zu elf Jahren. Die Ärzte und Patienten der prospektiven Kohorte - Operationstermine von Mai 1987 bis September 1988 - befragten wir dreimal: einen Monat vor der Operation sowie drei und etwa 18 Monate postoperativ. Sie gaben Auskunft über die Entwicklung ihrer Krankengeschichte bis zur Operation, den Operationsverlauf, die Zeit der Krankschreibung und die Entscheidung darüber, ob sie an den Arbeitsplatz zurückkehrten oder einen Rentenantrag stellten, ebenso wie über die anschließende Wiederaufnahme der Arbeit oder die Berentung, innerhalb eines Zeitraums von etwa anderthalb Jahren nach der Operation.

Die bis zu zweistündigen Patienten- oder Patientenehepaarinterviews und die einstündigen Haus- und Klinikarztinterviews, wurden auf Tonband aufgenommen und entweder im Wortlaut vollständig oder in großen Textpassagen abgeschrieben. Aus den 486 Einzeldokumentationen bereiteten wir in fast zwei Jahren Arbeit Materialien, die es erlauben, jede einzelne Dimension der Fragestellung an jedem Fallverlauf durch alle Materialien im Wortlaut nachzuverfolgen. Eine derart aufwendige Datenaufbereitung ist in der qualitativen Sozialforschung - nicht nur in der Medizinsoziologie - bisher einmalig. Sie war nötig, um eine angemessene Grundlage für die Datenauswertung zu schaffen, die ebenfalls eine Neuheit auf dem Markt der Forschungsmethoden ist. Wir haben dabei Max Webers methodologisches Prinzip des Idealtypus als Erkenntnisform der mit historischen Daten befaßten Soziologie zugrundegelegt und daraus ein Verfahren der typologischen Verlaufsanalyse entwickelt. Sie eignet sich, um zu untersuchen, wie die Dynamik von Lebensgeschichten gesellschaftlich strukturiert ist, und bildet einen systematischen Zugang zum erklärenden Sinnverstehen in der empirischen Sozialforschung. Bei der Untersuchung rekonstruierten wir zunächst, ob ein befriedigendes oder ein unbefriedigendes Operationsergebnis erzielt wurde und ob eine Berufsrückkehr erfolgte oder nicht. Bei zwei Drittel der Patienten war ein Operationserfolg mit der Rückkehr an den Arbeitsplatz und ein Mißerfolg mit der Berentung verbunden. Bei einem Drittel der Befragten fanden wir keinen Zusammenhang. Sodann prüften wir, welchen Sinn die Betroffenen ihrer Operation gaben, beziehungsweise welche Erklärung die Patienten, Patientenehepaare und ihre Hausärzte für die Erkrankung hatten. Zwei Drittel von ihnen wußten eine Erklärung, die aber meist nicht plausibel für die Entscheidung über Berufsrückkehr oder Berentung war. Ein Drittel hatte überhaupt keine eigene Sinnerklärung für die Erkrankung. Anschließend bezogen wir die beiden Auswertungsbereiche der Daten aufeinander, um zu prüfen, ob es Konstellationen gab, die das biographische Geschehen erklären konnten, und zwar anhand von vier Forschungsfragen, die ihrerseits Teilaspekte der allgemeinen Forschungsfrage sind, die so formuliert war, daß sie sowohl eine positive als auch eine negative Antwort zuließ: ,Ist die Berufsrückkehr sinnvoller als die Frühberentung?" Der Knackpunkt dieser Formulierung steckt in dem Wort ,Sinn". Wir hielten uns eng an die Überlegungen Max Webers, für den der subjektiv gemeinte Sinn eines Handelns und zugleich auch sein objektiver Richtigkeitssinn soziologisch festzustellen sind. Wir fragten: ,Wie ist biographisch zu erklären, daß ein bestimmtes Operationsergebnis auf Beruf oder Berentung hinausläuft?" - und fanden heraus, daß ein Patient unter 55 Jahren mit einem höheren gesellschaftlichen Status, der selbständig ist oder dessen Arbeitgeber oder Behördenleiter die Berufsrückkehr fördert, bei hoher Berufsmotivation selbst dann an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, wenn die Operation mißlingt. Hingegen scheiden an- und ungelernte Arbeiter, die zum Zeitpunkt der Operation 55 Jahre oder älter sind, selbst bei geglücktem Bypass aus dem Erwerbsleben aus. Weiter interessierte uns: ,Welche Bedeutung haben Alter und Altern für die Berufsrückkehr und Frühberentung?" Mit unserer Frage meinten wir ,gesellschaftliches Altern", da beim Übergang in die Nacherwerbsphase ein Erwerbstätiger gesellschaftlich zum alten Menschen wird. Entscheidend dafür, daß jemand die Frühberentung ,wählt", ist aber kaum das Operationsergebnis und auch nicht (nur) das Lebensalter. Vielmehr zählt, ob ein Patient seinen Beruf als zentrales Lebensinteresse betrachtet oder ob er ihn lediglich als Aspekt einer männlichen Normalbiographie sieht, wobei Alters-, Versorger- und Arbeitsidentität zusammenspielen. Nur wenn ein Patient sich damit zufriedengibt, eine ,männliche Normalbiographie" zu leben, scheidet er nach einer unbefriedigenden Operation aus dem Erwerbsleben aus und nimmt die den Bypasspatienten durch das SchwbG und das BVG offenstehende Chance der Frühberentung wahr. Wessen zentrales Lebensinteresse der Beruf ist, der kehrt auch bei unbefriedigendem Operationsergebnis ins Arbeitsleben zurück. Ausnahmen bilden nur Patienten mit dauerhaft schwerster Symptomatik.

Auf unsere dritte Frage, welche Erklärungen des Krankheitsgeschehens empirisch bei Patienten/ehepaaren vorkommen, erhielten wir zur Antwort: Nur zwei Drittel der Ehepaare konnten eine Erklärung nennen, wie die koronare Herzerkrankung entstanden sein sollte, und sie einigten sich - oft nach langem Hin und Her - auf eine bestimmte Krankheitsursache. Ein Drittel konnte sich die Erkrankung entweder überhaupt nicht erklären, oder die Ehepartner konnten sich nicht auf ein bestimmtes Entstehungstheorem einigen, während sie viele verschiedene nacheinander aufzählten. Die Deutungen für das Krankheitsgeschehen reichten von Vererbung über Risikofaktoren, wie Rauchen oder falsche Ernährung, bis zu Stress, Umwelt- oder Biographiebelastungen. Dabei galt Stress für den einen als aus der Umwelt stammend - aus der Arbeitswelt oder Familie -, für andere entstand er in der eigenen Person, was bejaht und positiv gewertet wurde, ,jemand, der sich seinen Stress selber macht". Als einzige Regelmäßigkeit fiel bei den Deutungen auf, daß Patienten mit gutem Operationsergebnis, die sich frühberenten ließen, meistens ihre Erkrankung unerklärbar fanden oder sich nicht auf eine bestimmte Deutung festlegten, also eine Nichterklärung abgaben.

Schließlich wollten wir wissen, ob es Beziehungen zwischen den Krankheitsdeutungen und den Verlaufsformen der Rehabilitation gibt. Wir erhielten zur Antwort, daß Berufsrückkehrer tendenziell eine Erklärung für ihre Erkrankung haben, während Frühberentete sowohl eine Erklärung als auch eine Nichterklärung abgeben können. Das läßt sich noch präzisieren. Besteht ein zentrales Lebensinteresse am Beruf, enthält das Krankheitsverständnis - mit drei Ausnahmen - eine Erklärung, und zwar haben die Berufsrückkehrer dabei eine Deutung, die die eigene Person ganz oder teilweise für die Krankheit verantwortlich macht. Die wenigen Frühberenteten nennen Umweltfaktoren wie ,Hektik". Ist das Lebensinteresse die ,männliche Normalbiographie", gibt es die meisten Nichterklärungen, vor allem bei Frührentnern. Doch haben einige Frührentner mit dem Lebensinteresse ,männliche Normalbiographie" auch Umwelterklärungen, wie giftige Dämpfe, Gase oder Sauerstoffmangel am Arbeitsplatz. Auch die Berufsrückkehrer dieser Gruppe suchen die Krankheitsursachen vornehmlich in der Umwelt, zum Beispiel in Belastungen ihres Familienlebens oder der Überforderung an ihrem Arbeitsplatz. Die Lebensgestaltung läßt sich also nicht einfach auf den Nenner bringen, daß Krankheitsdeutung und Rehabilitationsverlauf einander entsprechen. Der Sinnzusammenhang der Verlaufsdynamik muß in bisher noch nicht betrachteten Details der Biographien stecken. Worin kann der Sinn der Bypassoperation bestehen? Wir hielten daran fest, daß das Fallgeschehen sowohl im subjektiven Meinen als auch gemäß einer objektiven Richtigkeit sinnvoll sein und auch verstehend erklärt werden kann. Auf Umwegen kamen wir der Antwort auf die Spur. Wir unterschieden bezüglich der Krankheitsdeutungen zwischen einem Selbst-Welt-Verhältnis, wo die Person ihr Leben selbst kontrolliert, also den ,Sitz" der Erkrankung ,im Individuum" sieht, und einem, wo der ,Sitz" der Krankheit in der Um- und Außenwelt liegt; diese Menschen fügen sich als Teil in den Kosmos ein und begreifen ihr Leben eher als Schicksal.

 

Krankheitsdeutung und Rehabilitationsverlauf

 

So gelangten wir zu der Einsicht, daß hinter der Berufsrückkehr und der Frühberentung umfassendere Formen der Lebensführung stehen. Wir gingen davon aus, daß zwei Lebensformen anläßlich einer Bypassoperation zur Wahl stehen, die wir Leben wie ein Gesunder und Leben als Frührentner nannten. Die Daten zeigen, daß viele Patienten die Entscheidung für die eine oder die andere Lebensform vor der Operation treffen, obwohl sie sich oft noch lange danach mit dem Gedanken tragen, daß auch die andere Möglichkeit nicht grundsätzlich abzulehnen ist. Die biographischen Materialien geben Einblick in die Vorkehrungen und Hoffnungen, mit denen die Patienten sich einer angestrebten Lebensform näherten.

Aus den Krankengeschichten kristallisieren sich vier Biographiestrukturen heraus: zwei bedeuten, daß die Patienten das angestrebte Ziel erreichen, und zwei, daß ihre Bemühungen scheitern oder sie überhaupt keine gesicherte Lebensform erlangen. Die ersten beiden Möglichkeiten sind: Leben wie ein Gesunder und Leben als Frührentner. Beim ,Leben wie ein Gesunder" verbindet sich die Berufsrückkehr unabhängig vom Operationsergebnis mit einer Krankheitsdeutung, die die Person in den Mittelpunkt des Selbst-Welt-Verhältnisses stellt. Weitere Lebensbereiche wie etwa die Diagnose und Krankengeschichte, das postoperative Berufsschicksal, die Freizeitgestaltung und die Einkommensentwicklung folgen demselben Muster der Lebensführung. Beim ,Leben als Frührentner" verbindet sich die Erwerbsunfähigkeitsberentung mit einem Krankheitsverständnis der Nichterklärung oder des außenbezogenen Welt-Selbst-Verständnisses. Das wird ergänzt durch ein Geschehen in den Bereichen Diagnose und Operation, Beruf und Berentung sowie Freizeit und Einkommen, das ohne nennenswerten Einfluß der Person zustandekommt. Demgegenüber sind die Biographiestrukturen des Scheiterns: Frühberentung durch scheiternde Berufsrückkehr, also eine Rückfallposition, die unfreiwillig ,gewählt" wird, ohne jemals gewollt zu werden. Teilweise noch ein Jahrzehnt später können solche Patienten nicht verkraften, daß die Bypassoperation ihnen die Berufstätigkeit verunmöglichte, an der ihr Herz hing. Für sie hatte und hat, wie sie immer wieder im lnterview sagten, die Operation keinen Sinn (mehr). Die letzte Option ist das Scheitern der Existenzsicherung, also das Absinken auf die Sozialhilfe als Fürsorgeempfänger nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Das ist zwar in unserem Wohlfahrtsstaat selten, doch allen Betroffenen als Gefahr präsent, die es zu vermeiden gilt. Der einzige Patient in unserer Studienpopulation - ein retrospektiver Fall -, dessen Existenzsicherung schließlich langfristig scheiterte, hatte eine ,Miasma-Erklärung". Er vermutete Ausdünstungen am Arbeitsplatz und sah die wenigen Anlässe, wo er aktiv in sein Leben einzugreifen versucht hatte, nachträglich als Fehler an.

Die Biographiestrukturen ,Leben wie ein Gesunder" und ,Leben als Frührentner" gehören zu den Lebensformen, die der Bypassoperation einen Sinn geben. Fazit unserer Untersuchung ist daher zunächst, daß die Forschungsfrage ,Ist die Berufsrückkehr sinnvoller als die Frühberentung?" nicht mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden kann. Denn beide Alternativen sind legitime Lebensformen, also wählbare Biographiestrukturen. Da alle Bypassoperierten auf Antrag einen Schwerbehindertenstatus erhalten, haben sie eine wirkliche Wahl zwischen der Erwerbsunfähigkeitsberentung, die sie als Schwerbehinderte nach BVG beanspruchen können, und der Rückkehr in ihren Beruf, wobei sie aufgrund ihrer Schwerbehinderung mit 60 Jahren eine vorgezogene Altersrente erhalten können. Wenn man fragt, ob eine der beiden Lebensformen sinnvoller ist als die andere, kann man also keine Unterschiede feststellen. Fragt man allerdings, welcher Patient von welcher Möglichkeit am meisten profitiert, kommen subjektive sinnsetzende Handlungstendenzen ins Spiel, nämlich der Beruf als zentrales Lebensinteresse im Unterschied zur männlichen Normalbiographie. In unserem Datenmaterial sieht der ,reine" Fall ,Leben wie ein Gesunder" folgendermaßen aus: Ein in im Alter von 50 Jahren operierter Hauptabteilungsleiter einer Sparkasse mit zwei weiteren nebenberuflichen Tätigkeiten, soziale Statuslage II, ist seit seiner Operation im Jahr 1979 wieder voll berufstätig. Er lebt bis heute symptomfrei, hatte keinerlei finanzielle Einbußen und erklärt sich seine Krankheit durch seine Arbeitsbelastung, die er selbst verantwortet hat. Deshalb ist er überzeugt, daß er heute die Erkrankung ganz unter Kontrolle hat. Sein Hausarzt ist stolz auf ihn und nennt ihn ,so ein bißchen in der Hinsicht unser Paradepferd". Demgegenüber ist der ,reine" Fall des ,Lebens als Frührentner": Ein im Alter von 49 Jahren operierter Beamter eines Fachdienstes der Bundeswehr, der bereits vor der Operation im Jahr 1987 auf eigenen Antrag aus gesundheitlichen Gründen vom Schichtdienst befreit war, soziale Statuslage IlI, stellt sofort nach seiner erfolgreichen Operation einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente, der genehmigt wird. Er stockt danach seine Rente durch Jobs auf das frühere Einkommensniveau auf und hat eine Nichterklärung, die alle möglichen Deutungen anspricht, ohne irgendeine plausibel zu finden. Sein Hausarzt, der ihn in allem unterstützt, sieht bei dem Patienten einen ,guten Erfolg", und erläutert: ,Sowohl von der chirurgisch- anatomisch-kardiologischen Seite ist es ein guter Erfolg als auch vom Sozialaspekt: Es geht dem Mann also sicherlich nach der Operation klinisch-körperlich-kardial besser also auch nach der Berentung".

Unsere Studie zeigt also, daß der Sinn der Bypasschirurgie gesellschaftlich ist. Die Operation hat insofern gesellschaftlich einen anderen Sinn als medizinisch, als sie Patienten, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt angesichts ihres fortgeschrittenen Lebensalters oft nicht mehr gut sind, die Wahl zwischen der Berufsrückkehr und der Erwerbsunfähigkeitsberentung eröffnet. Das Dilemma der Herzchirurgie, daß eine erfolgreiche Operation oft nicht zur Wiederaufnahme der Arbeit führt, erweist sich soziologisch als Nebeneffekt des modernen Arbeitsmarktes, dessen Härten der Wohlfahrtsstaat zugunsten der Schwerbehinderten mildert.

Autor:
Prof. Dr. Uta Gerhardt
Institut für Soziologie, Postfach 10 57 60, 69047 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 29 75

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