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Wie erreicht man Preisstabilität?

Unter welchen Bedingungen kann in Industrieländern Preisstabilität erreicht, und damit zu ökonomischer Erwartungssicherheit und Effizienz beigetragen werden, und unter welchen Bedingungen sind hohe Inflationsraten wahrscheinlich? Der Ausgangspunkt für diese Fragestellung waren die großen Unterschiede hinsichtlich der Inflationsrate zwischen den OECD-Ländern in der Zeit nach 1973. Auf den doppelten Schock des Zusammenbruchs des Systems fester Wechselkurse und der massiven Ölpreiserhöhungen reagierten einige Länder mit Inflationsraten von über 20 Prozent, während es anderen, darunter der Bundesrepublik, gelang, relative Preisstabilität zu bewahren. Warum aber haben ganz ähnliche Ursachen in den 18 OECD-Ländern zu so unterschiedlichen Ergebnissen geführt?

An der jeweiligen Regierungspartei lag das jedenfalls nicht: eine systematische statistische Untersuchung ergab, daß es für die Höhe der Inflationsrate überhaupt keinen Unterschied macht, ob eine "linke" oder eine "rechte" Partei regiert - auch wenn das Gegenteil eine sehr populäre These ist. Und ebensowenig haben historische Erfahrungen, etwa mit Hyperinflation in der Zwischenkriegszeit, einen meßbaren Einfluß. Eine Antwort können jedoch politisch-institutionelle Faktoren geben. Vor allem drei Variablen tragen erheblich zur Erklärung der Inflationsunterschiede in den betrachteten Ländern bei: der Grad der Konflikthaftigkeit der Arbeitsbeziehungen, das Ausmaß der politischen Unabhängigkeit der Zentralbank und das Maß an Schwierigkeit, auf das der Zentralstaat beim Versuch einer fiskalpolitischen Stimulierung der Volkswirtschaft trifft. Die Neigung eines Industriestaats zu Preisstabilität oder Inflation läßt sich also als eine Kombination von Faktoren des Staatsaufbaus und der Struktur der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit verstehen.

Ceteris paribus kann man niedrige Inflationsraten in einem Land erwarten, in dem das Konfliktniveau zwischen Arbeit und Kapital, gemessen an der Streiktätigkeit, gering ist und daher übermäßige, die Preisstabilität gefährdende Lohnsteigerungen nicht stattfinden; eine von politischer Einflußnahme durch die Regierung unabhängige Zentralbank eventuell auch unpopuläre Maßnahmen trifft, und treffen kann, um Preissteigerungstendenzen entgegenzuwirken; und wo hohe institutionelle Barrieren einer starken fiskalischen Expansion entgegenstehen, wie sie für eine Regierung attraktiv sein könnte, die Wachstum und Beschäftigung stimulieren möchte. Umgekehrt sind höhere Inflationsraten zu erwarten, wenn in einem Land unstrukturierte Konfrontation zwischen Arbeit und Kapital zu einem hohen Maß an Streiktätigkeit führt, das sich dann in hohen Lohn- und Kostensteigerungen niederschlägt; eine Zentralbank in ihren Entscheidungen abhängig ist von politischen Opportunitätserwägungen der Regierung, deren Interesse an Preisstabilität unter Umständen gering sein kann; und wenn die institutionellen Gegebenheiten einer Regierung, die die wirtschaftliche Aktivität durch expansive Finanzpolitik ankurbeln möchte, wenig Hindernisse in den Weg legen. Dies ist etwa in stark zentralisierten Staaten der Fall, da dort eine Regierung fast die gesamten staatlichen Ausgaben bestimmen kann, während etwa in föderal organisierten Ländern die Regierungen der Gliedstaaten hier einen erheblichen Einfluß besitzen.

Die Gegenwart oder Abwesenheit dieser "Barrieren gegen Inflation" erklärt das Ausmaß, in dem die OECD-Länder im Untersuchungszeitraum von 1973 bis 1986 von Inflation betroffen waren. In den drei deutschsprachigen Ländern Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren besonders günstiges Inflationsprofil zwischen vier und fünf Prozent im Jahresdurchschnitt Anstoß zu dieser Fragestellung war, wirken alle drei Faktoren in einer inflationsdämpfenden Weise: konfliktarme Arbeitsbeziehungen sind hier kombiniert mit Zentralbanken, die das Ziel der Preisstabilität mit allen dazu nötigen Mitteln verfolgen können und dabei nicht von der Regierung behindert werden. Und sehr hohe institutionelle Hürden hindern einen durch den Föderalismus stark gezähmten Zentralstaat an effektiver fiskalischer Expansion. Das Gegenbeispiel bildet die Situation in Italien, dem Land mit der in der Untersuchungsperiode höchsten durchschnittlichen Inflationsrate von 14,6 Prozent: die Streiktätigkeit ist im Durchschnitt etwa 20mal so hoch wie in der Bundesrepublik, die Zentralbank hatte über lange Zeit nur die Anweisungen des Finanzministeriums auszuführen und sogar alle auf dem Markt nicht absetzbaren Staatsschuldtitel aufzukaufen, und der Anteil des Zentralstaatshaushalts am Bruttosozialprodukt ist mit 28 Prozent doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik, was eine bedeutend niedrigere politische Hürde für fiskalische Expansion bedeutet.

Das hier vorgestellte Modell kann über die historische Erklärung hinaus einen Beitrag zur Analyse aktueller Politik leisten. So läßt sich etwa der Anstieg der deutschen Inflationsrate zu Beginn der neunziger Jahre als zeitweilige Außerkraftsetzung von zwei "Barrierefaktoren" in einer historischen Sondersituation deuten: zum einen der konfliktarmen Arbeitsbeziehungen durch einen Verteilungskampf, auch um die Lasten der Einheit, und zum anderen der fiskalpolitischen Zurückhaltung durch die Notwendigkeit massiver Transfers in die ehemalige DDR. Und in bezug auf die Europäische Währungsunion muß darauf hingewiesen werden, daß eine Koordination und Vergemeinschaftung bisher nur im Bereich der Geldpolitik vorgesehen sind, auf den Gebieten Arbeitsbeziehungen beziehungsweise Lohnaushandlung und Haushaltspolitik aber noch fast vollständig fehlt. Ob ohne eine Unterstützung durch diese zwei Faktoren aber auf Dauer eine erfolgreiche europäische Preisstabilitätspolitik betrieben werden kann, muß bezweifelt werden.

Dr. Andreas Busch, Institut für Politische Wissenschaft, "Preisstabilitätspolitik. Politik und Inflationsraten im internationalen Vergleich", Opladen: Leske & Budrich, 1995

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