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Wer bin ich eigentlich?

Jugendliche in der Krise, ein Fall für den Psychiater? In der Adoleszenz haben junge Menschen schwierige Entwicklungsaufgaben zu meistern, Identität und Selbstwertgefühl, Individualität und Autonomie sind herauszubilden. Vielfach geraten sie dabei in eine Krise. Darin ist zwar nicht unbedingt ein Frühzeichen einer nahenden Psychose zu sehen, trotzdem sollten sie bei der Lösung ihrer Entwicklungsaufgaben nicht sich selbst überlassen bleiben. Franz Resch, der Ärztliche Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, plädiert dafür, Jugendkrisen ernst zu nehmen. Schließlich werden in dieser Zeit wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt.

"... denn keiner, der beginnt, kann wissen, was er in sich finden wird. Wie soll er es auch nur ahnen, da es noch nicht besteht? Mit geliehenen Werkzeugen dringt er in den Erdgrund ein, der selber geliehen und fremd, nämlich von anderen ist. Wenn er zum ersten Mal plötzlich vor etwas steht, das er nicht erkennt, das ihm von nirgends her kam, erschrickt er und taumelt: denn das ist das Eigene." , schrieb Elias Canetti (Karl Kraus, Schule des Widerstands, 1965). Die Jugendzeit markiert den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Nicht die Vertreibung aus dem Paradies ist dafür das zutreffende Bild, das Kind wurde schon längst im Vorschulalter mit Scham und Schuld konfrontiert. Vielmehr kennzeichnet diese Periode eine große Chance, in Selbstbesinnung das Eigene zu entdecken und es anzunehmen. Nicht nur mit den Großartigkeiten, Talenten und Erfolgen, nein, auch mit den Schwächen, Engpässen und Gebrechen wird der junge Mensch konfrontiert: Er sucht Wurzeln - biologische und biographische - um das, was er an Möglichkeiten in sich fühlt, wirksam und stimmig zum Ausdruck bringen zu können. Die kritischen Fragen sind: Wer bin ich eigentlich? Wo komme ich her? Wo ist mein Platz? Was ist der Sinn des ganzen Daseins? Die Bedrohung der Sinnhaftigkeit einer möglichen existentiellen Einbettung geht primär vom Problem der Endlichkeit und des Todes aus: Warum alle Entbehrungen, Planungen, Rücksichten und Einschränkungen angesichts eines absehbaren, alles zerstörenden und so alle vermeintlichen Erfolge verhöhnenden Endes? Die Jugendlichen suchen nach Ewigkeiten, und dort, wo Religion, Tradition und Konvention keine stabilisierende Praxis bieten, wird aus dem Eigenen versucht, ewig Gültiges zu schaffen. Zeitgebundenheit und Vorläufigkeit irritieren, weil sie den identitätsstiftenden Gefühlen und ihrem Anspruch auf Absolutheit entgegenstehen. Was veranlaßt den Arzt, den Psychiater, sich den Jugendlichen in diesen Fragen zuzuwenden? Es sind die Krisen, die Brüche in der biographischen Kontinuität, die in der Adoleszenz die psychische Gesundheit des Menschen bedrohen können. Im Angesicht der Jugendlichenkrisen sind auch die Ärzte aufgerufen, ihre Hilfe anzubieten. Die Jugendzeit gilt ja nicht nur als Bindeglied zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Als eine Phase tiefgreifender Wandlungen, von körperlichen Umstellungen bis zum Paradigmenwechsel im Weltbezug, stellt sie eine individuelle Herausforderung an jeden Menschen im Sinne einer "normativen Neuorientierung" dar. Entgegen den früheren tiefenpsychologischen Ansichten, die jedem Jugendlichen eine physiologische Irritation, eine "normative Krise" zumaßen, also ein Störreizmodell zur Anwendung brachten, zeigen die modernen Konzepte der Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsthemen, daß eine produktive Bewältigung der Adoleszenz trotz massiver Wandlungen auch ohne krisenhafte Zuspitzung gelingen kann. Pubertät und Adoleszenz prägen die Jugendzeit. Pubertät definiert als die körperliche Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale im Sinne biologischer Reifung, Adoleszenz als die seelische Auseinandersetzung mit den körperlichen und psychosozialen Veränderungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Folgende Entwicklungslinien charakterisieren daher die Adoleszenzentwicklung: Die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, der Wachstumsschub und die darauf beruhenden körperlichen Veränderungen wirken massiv auf das körperliche Selbstverständnis ein; das Körperschema als ein Teil des Selbstbilds muß neu formiert werden. Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Phänomen ist die Akzeleration, die als Diskrepanz zwischen einer beschleunigten körperlichen Entwicklung und einer meist noch verlangsamten psychosozialen und emotionalen Entwicklung gekennzeichnet ist. Diese Diskrepanz führt dazu, daß Jugendliche entgegen ihren noch kindlichen emotionalen Bedürfnissen und Erwartungen anhand des körperlichen Aussehens wie Erwachsene behandelt werden.

Auf der kognitiven Ebene löst in der Adoleszenz das Denken in formalen Operationen das konkret anschauliche Denken ab. Der Erwerb der Fähigkeit, Hypothesen zu bilden und Lösungswege für Probleme in Einzelschritten zu entwickeln, führt zu einer Veränderung der bisherigen Bewertungs- und Orientierungssysteme. Die Fähigkeit zu Introspektion und Selbstreflexion nimmt zu und dadurch wird der Jugendliche vor eine existentielle Herausforderung gestellt. Er sucht mit zunehmender Kritikfähigkeit seine ganz persönliche Stellungnahme zur Welt und übernimmt Autoritäten und Wertsysteme nicht mehr unhinterfragt. Wertekrisen können auftreten, wenn die Jugendlichen in unterschiedlichen Lebensbereichen in der Familie, der Gleichaltrigengruppe, der Schule, der Berufsausbildung und der Freizeitkultur unterschiedliche Werthaltungen ausmachen und deren Inkompatibilität entlarven. Unsicherheit in bezug auf den Wertmaßstab kann sie an einem hohen, letztlich unerfüllbaren Werteideal festhalten lassen, an dem alle anderen Menschen und oft auch sie selbst nur abgewertet werden können. Andererseits kann die Diffusion der Werthaltungen zur Entwicklung einer No- future-Perspektive und einer nihilistischen Grundhaltung bezüglich aller ethischen Werte Anlaß geben. Auf der sozialen Schiene nehmen die Jugendlichen neue Rollen des Erwachsenenalters in ihrer Vorläufigkeit an und müssen zunehmend auch die Notwendigkeit zur Übernahme von Verantwortlichkeit erkennen. Gerade im Adoleszentenalter geschieht eine besondere Weichenstellung der Ausbildung und persönlichen Karriere, so daß eine protrahierte seelische Krise in dieser Zeit zu schweren Entwicklungsstörungen führen kann, wenn zu viele Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten über die Versagensschiene ausfallen.

Unter den Entwicklungsaufgaben des Adoleszentenalters ist die Entwicklung von Identität besonders hervorzuheben. Identität beinhaltet die Definition einer Person als einmalig und unverwechselbar durch die soziale Umgebung wie durch das Individuum selbst. Identität ist als Einheitlichkeit des Selbstkonzeptes nicht erfahrungsmäßig endgültig erfaßbar, Identität bleibt immer ein Konstrukt, eine Arbeitshypothese, die sich täglich durch neue Evidenzen selbstreflexiv bestätigen muß. Identität stellt in psychosozialer Hinsicht die zeitliche Kontinuität erlebter Einheitlichkeit im sozialen Verband dar. Die Identitätserfahrung beruft sich dabei auf die Erfahrung der Kontinuität in der Biographie, auf die Erfahrung der Demarkation, der Evidenz, von anderen abgegrenzt zu sein, und auf die Erfahrung der Konsistenz, der aktuellen Einheitlichkeit auch bei unterschiedlichen emotionalen Zuständen, sowie auf die Erfahrung der Aktivität, der Eigenbestimmung im Handeln, und der Vitalität, der eigenen Lebendigkeit. Der Psychiater Scharfetter definierte diese Ich-Erfahrungen zur Aufrechterhaltung des Ich-Bewußtseins.

Ein wichtiger Mechanismus zum Identitätserwerb in der Adoleszenz ist der Mechanismus der Identifikation. Störungen dieses Entscheidungsprozesses einer subjektiv verbindlichen Übernahme einer sozialen Rolle führen zur Identitätsdiffusion. Wenn zwischen unterschiedlichen Selbstanteilen eine zu große Diskrepanz auftritt, wenn emotional so widersprüchliche Selbsterfahrungen gemacht werden, daß diese nicht miteinander vereinbar sind, kommt es zum Phänomen der Depersonalisation. Ein Patient sagt dazu: "Manchmal fühle ich mich regelrecht fremd in meiner Haut. Ich höre dann meine eigene Stimme nicht so normal, sondern anders, und meine Bewegungen erscheinen mir mechanisch und automatisch."

Auch die Frage des Selbstwerts gehört zu den Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz. Der Selbstwert eines Menschen entwickelt sich aus Erfahrungen der Kompetenz und der Akzeptanz. Kognitive Fertigkeiten, körperliche Attribute, aber auch energetische Valenzen wie Temperament, Initiative und Durchhaltekraft können nur dann zum Selbstwert beitragen, wenn sie in eine soziale Akzeptanz eingebettet sind und als Fertigkeiten daher auch in einem interaktionellen Stil aktualisiert werden können. Fähigkeiten müssen einem Menschen auch zugeschrieben werden. Sie einfach zu besitzen, genügt nicht. Ein Spielraum zur Entfaltung der eigenen Kompetenz muß gewährt werden. Kompetenz und Akzeptanz stehen in einem Wechselverhältnis, denn die Fertigkeiten des Kindes, die der Jugendliche in sich erkennen und aus sich aktualisieren kann, entfalten sich nur in einem Klima der emotionalen Einbettung. Gerade im Jugendalter kommt es durch zunehmende Kritikfähigkeit und Selbstreflexion zu einer kritischen Periode der Selbstwertstabilisierung. Wenn Kompetenz und Akzeptanz den eigenen Idealvorstellungen nicht Rechnung tragen, kann dies zur Selbstwertkrise führen. "Denn diese von außen kommenden Assoziationen und erborgten Gefühle tragen die jungen Leute über den gefährlich weichen seelischen Boden dieser Jahre hinweg, wo man sich selbst etwas bedeuten muß und doch noch zu unfertig ist, um wirklich etwas zu bedeuten. ... Wenn man da solch einem jungen Menschen das Lächerliche seiner Person zur Einsicht bringen könnte, so würde der Boden unter ihm einbrechen, oder er würde wie ein erwachter Nachtwandler abstürzen, der plötzlich nichts als Leere sieht." (Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törless, 1930). Man spricht von einer physiologisch gesteigerten narzißtischen Selbstüberschätzung, in der ein fragiles Selbsterleben mit hochfliegenden Ambitionen, Abwertungen, Idealisierungen, verstärkter Kränkbarkeit und Wuterleben verknüpft ist. Wir können davon ausgehen, daß dieser Narzißmus physiologisch notwendig ist. Die normale Entwicklung eines Menschen kann nur durch Konzepte und Ambitionen vonstatten gehen, die über die Person und ihre Bedingtheit hinausführen, an denen die Person wachsen kann und durch die sie gefordert ist. In eigenen Untersuchungen konnten wir feststellen, daß ein Verlust der narzißtischen Überschätzung gerade bei Patienten mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis im Jugendalter nachweisbar war. Es spricht vieles dafür, daß der gesteigerte Narzißmus des Jugendlichen eine protektive Funktion hat. Weitere Untersuchungen sollen dieser Frage nachgehen.

Auch die Entwicklung von Individualität und Autonomie gehören zu den Aufgaben der Jugendzeit. Verselbständigung und Eigenständigkeit entwickeln sich im Spannungsfeld zwischen Autonomiestreben und Bindung. Stierlin nennt das Kunststück einer Synthese beider Bestrebungen "bezogene Individuation". Das Gelingen derselben ist stark an einen stabilen Selbstwert und eine gelungene Identitätsbildung gebunden. Die Ablösungsaufgaben können Jugendliche, die bisher im Einklang mit ihrer Familie standen, aus dem Lot bringen. Ein zu später oder ein mißglückter Abschied, der zur demütigen Rückkehr in die Familie führt, ist ebenso entwicklungsgefährdend wie der zu frühe Abschied, der den Jugendlichen alterstypischen Risikoverhaltensweisen in besonderer Weise aussetzt. Die beschriebenen Entwicklungsaufgaben können also ebenso Entwicklungsanreize wie Auslöser für psychische Erkrankungen sein. Das wirft die alte Streitfrage auf: Ist denn jede Krise des Adoleszenzalters Ausdruck einer psychischen Vulnerabilität und weist somit auf ein erhöhtes Risiko für spätere psychische Erkrankungen hin? Oder aber sind Adoleszentenkrisen als physiologische Anpassungsproblematik zu verstehen, die kein erhöhtes Risiko für psychiatrische Erkrankungen in sich birgt? Diese Fragen sind nicht in der einfachen Linearität zu beantworten, wie sie in die Diskussion eingebracht wurden. Ob Anpassungskrisen der Adoleszenz Folgen einer psychischen Erkrankung oder Ursache einer solchen sind, kann nur in differenzierterer Weise beantwortet werden. Um sich dieser Frage zu nähern, muß das Prinzip der Vulnerabilität herangezogen werden.

Anpassungskrisen als Störungen, die den Jugendlichen daran hindern, seine alterstypischen und situationsgemäßen Lebensvollzüge zu bewerkstelligen, müssen nach folgenden Gesichtspunkten analysiert werden: Welche Entwicklungskonflikte liegen vor? Welche Bewältigungsformen und Risikoverhaltensweisen werden angewendet? Welche psychopathologischen Symptome sind in die Anpassungskrise involviert? In welchem Erlebnisumfeld, in welchem sozialen Rahmen befindet sich der Jugendliche aktuell?

Der Jugendliche bringt über genetische Muster und frühe biologische sowie psychosoziale Einwirkungen aus seiner Biographie eine bestimmte Disposition mit, die sich im Entwicklungskontext der Adoleszenz in manchen Fällen als Vulnerabilität, das heißt als verringerte Fähigkeit zur Lösung der adoleszenten Entwicklungsaufgaben erweist. Unter dem Druck dieser Aufgaben und aktueller schicksalshafter Umfeldeinwirkungen kann der Jugendliche in ein Geflecht möglicher Risikoverhaltensweisen geraten. Das sind beispielsweise Alkohol- und Drogengebrauch oder -mißbrauch, Annäherung an und Eingliederung in eine delinquente Gruppe, eskalierende Interaktionsprobleme mit Eltern oder Lehrern, Rückzug, Leistungsabfall oder Veränderungen des Lebensstils im Alltag mit Einschränkungen des Schlafens oder Veränderungen des Ernährungsverhaltens. Je nachdem, welche dispositionellen Voraussetzungen der Jugendliche mitbringt, kann er nun im Geflecht solcher Risikoverhaltensweisen eine Adoleszentenkrise mit unspezifischer psychopathologischer Ausformung ausbilden, eine psychiatrische Erkrankung im engeren Sinne oder den gefahrvollen Entschluß zur Delinquenz. Jugendliche Risikoverhaltensweisen bilden sich also im Spannungsfeld der Entwicklungsaufgaben und schicksalshafter Lebensereignisse aus und führen - je nach dispositioneller Voraussetzung - zu Krise, Krankheit oder Delinquenz. Bereits bestehende psychopathologische Symptome am Übergang zum Jugendalter können die Übernahme von Risikoverhaltensweisen noch beschleunigen und intensivieren, umgekehrt können diese wiederum die Wahrscheinlichkeit von psychopathologischen Entgleisungen erhöhen.

Untersucht man eine Population von Jugendlichen, die im Stadium einer akuten Anpassungskrise der Adoleszenz psychiatrische Hilfe in Anspruch nimmt, ist ihr auch bei unterschiedlicher psychopathologischer Zuordnung eines gemeinsam: das Phänomen der Depersonalisation. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die im Rahmen einer akuten Anpassungskrise in einer psychiatrischen Ambulanz Hilfe suchten, zeigten das Phänomen der Selbstentfremdung. Verschiedene Hypothesen zur Entstehung und Bedeutung von Depersonalisationserlebnissen sind im Laufe der letzten hundert Jahre formuliert worden. Solche Erlebnisse werden bei den unterschiedlichsten neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen aller Altersstufen als Beschwerdesymptome beschrieben, wie bei Epilepsie, Vergiftungen, Enzephalitis, manisch-depressivem Kranksein, Hysterie und anderen neurotischen Krankheitsbildern. Auch im Rahmen einer akuten Erlebnisreaktion und aus voller psychischer Gesundheit nach Übermüdung, Schlafentzug, Drogenabusus sowie sensorischer Deprivation werden Depersonalisationsphänomene manifest. Sie sind insofern von Bedeutung, als sie nach dem Basisstörungskonzept nach Huber und Klosterkötter eine beginnende Schizophrenie anzeigen können. Übergänge von prodromalen Depersonalisationen in schizophrene Erkrankungen wurden immer wieder beschrieben. Die Frage ist jedoch, ob man von so allgemeinen Erscheinungen der Selbstentfremdung auf spezifische Vorstadien einer beginnenden Schizophrenie schließen kann. Dazu fahndeten wir bei 107 Patienten mit Adoleszentenkrisen nach den charakteristischen Basissymptomen, die bei schizophrenen Entwicklungen faßbar wurden. Wir fanden heraus, daß praktisch jede adoleszenztypische Depersonalisation auch mit sogenannten schizophrenie-charakteristischen Symptomen, wie subjektiven Denkstörungen, Wahrnehmungsstörungen oder Störungen der Körperwahrnehmung, einhergeht. Es ist daher im Querschnitt auf phänomenaler Ebene keine Unterscheidung zwischen schizophreniecharakteristischer und allgemein entwicklungsbezogener Depersonalisation möglich. Solche Symptome müssen daher eher als allgemein verbreitete unspezifische Irritationszeichen denn als schizophreniespezifische Frühzeichen oder Vulnerabilitätsindikatoren für nahende Psychosen angesehen werden. Einzig ein quantitativer Unterschied in Ausmaß und Verbreitung solch unspezifischer Beschwerden im Erlebnisfeld zeichnet sich zwischen Patienten mit unmittelbarer Psychosegefährdung und entwicklungsbedingter Selbstentfremdung ab. Wir werden diese Untersuchungen im Längsschnitt weiterführen.

Die Adoleszenz birgt also das Risiko einer erhöhten Irritabilität des Jugendlichen in sich, die zur krankheitswertigen Ausformung oder Dekompensation von - auch genetisch präformierten - Vulnerabilitäten und Dispositionen führen kann. Daraus ergeben sich Konsequenzen für den psychotherapeutischen Zugang zum Jugendlichen mit der Notwendigkeit, diesem unabhängig von einer möglichen psychiatrischen Erkrankung bei der Lösung seiner Entwicklungsaufgaben zu helfen, denn sonst bleibt er in einem schicksalshaften Spannungsfeld seinen Risikoverhaltensweisen verhaftet und könnte zum Opfer seines eigenen Selbstwerdungsprozesses werden. Im Krisenfall kann der Jugendliche in eine zunehmende Distanz zu sich selbst geraten, wobei diese Entfremdung bei entsprechender Vulnerabilität die Gefahr einer psychischen Entgleisung in sich trägt. Ob der in Richtung Schizophrenie vulnerable Jugendliche bei geeigneter Unterstützung dem Los der akuten Psychose entrinnen kann, vermögen wir aufgrund unserer Forschungen bis heute noch nicht zu sagen. Es gilt aber, Jugendkrisen ernst zu nehmen, und es bleibt auch eine gesellschaftliche Herausforderung, den werdenden Menschen an einer so wichtigen Weichenstellung nicht einfach sich selbst zu überlassen. Den Jugendlichen, die auf risikoreichem Weg sich selbst zu suchen beginnen, darf das Erwachsenwerden schließlich nicht durch Ignoranz verbaut werden.

Autor:
Prof. Dr. Franz Resch
Psychiatrische Klinik, Abt. für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Blumenstraße 8, 69115 Heidelberg,
Telefon (06221) 97 04 41

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