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Balance zwischen Staat und Markt

Welche politisch-institutionelle Konstellation eignet sich am besten, um Probleme der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu lösen? In allen westlichen Demokratien sind die Staatsaufgaben gewachsen, besonders stark in Ländern mit hohen Sozialleistungen. Daß der Sozialstaat trotzdem nicht ineffizient ist, zeigt die Analyse von Manfred Schmidt. Im Institut für Politische Wissenschaft untersucht der mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnete Politologe die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt im internationalen Vergleich.

Der internationale Vergleich von Staatstätigkeit ist ein neuerer Zweig der Politikwissenschaft. Er untersucht Inhalt und Auswirkungen der Regierungspolitik verschiedener Staaten und analysiert die Wechselbeziehungen zwischen dem staatlichen Handeln, dem "Output" der Politik, und seinen politisch- institutionellen und machtpolitischen Bestimmungsfaktoren. Ein besonderer Schwerpunkt meiner Staatstätigkeitsforschung ist der Vergleich vor allem der sozialstaatlichen Politik in der Gesamtheit der wirtschaftlich entwickelten Demokratien in Europa, Nordamerika, Japan und Australien. Ihm liegt ein Untersuchungsansatz zugrunde, der in der Fachsprache als "Forschungsdesign der meistähnlichen Fälle" ("most similar cases-design") bezeichnet wird. Das ist der Fachausdruck für eine Untersuchungsanordnung, in der gezielt möglichst alle Untersuchungsobjekte mit ähnlichen oder identischen Basisstrukturen, zum Beispiel ähnlicher Wirtschaftsordnung und politischer Struktur verglichen werden. Auf diese Weise lassen sich die Wirkungen der Basisstrukturen für die Analyse neutralisieren und die Effekte anderer Unterschiede um so exakter isolieren. Die Staatstätigkeitsforschung nutzt den Vergleich für drei Zwecke: erstens als Vorgehensweise, mit der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Staatstätigkeit verschiedener Regierungen aufgedeckt und unter Zuhilfenahme von Hypothesen oder Theorien erklärt werden. Zweitens als Quasi- Experiment, das heißt als Ersatz für künstlich geschaffene und wiederholbare Untersuchungsanordnungen, wie sie in den Naturwissenschaften häufig möglich sind, nicht aber in den Sozialwissenschaften, und insofern als Methode, um Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Größen, wie politischen Institutionen und der Staatstätigkeit, zu erfassen und Aussagen über kausale oder wahrscheinliche Wirkungszusammenhänge zu überprüfen. Drittens dient der Vergleich als Hilfsmittel, um eine Leitfrage der älteren Staatsformenlehre und der modernen Politikwissenschaft zu beantworten: Welche politisch-institutionellen Konstellationen eignen sich am besten zur Bewältigung drängender politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme und welche sind hierfür schlecht gerüstet

Die vergleichende Analyse westlicher Länder hat es mit höchst unterschiedlichen Leistungsprofilen der Staatstätigkeit zu tun. Zu ihnen gehören politisch stabile und weniger stabile Demokratien, ferner Länder mit ausgebautem Sozialstaat, wie Skandinavien, die Beneluxstaaten und Deutschland, aber auch mit löchrigen sozialen Netzen, wie die USA, sowie Gemeinwesen, in denen die soziale Sicherung in überdurchschnittlichem Maß Aufgabe der (Groß)Betriebe und der Familien ist, vor allem Japan. Auch das Heer der Staatsdiener ist unterschiedlich groß. Zum Beispiel war 1992 in Schweden jeder dritte Erwerbstätige im öffentlichen Sektor tätig, in Deutschland jeder siebte und in Japan jeder sechzehnte. Auch die Anstrengungen zur Bekämpfung von Inflation und Arbeitslosigkeit und deren Ergebnisse sind verschieden. Gemessen an der langfristigen Arbeitslosenquote liegt die Hauptdifferenz zwischen Ländern mit dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit wie Italien und solchen mit relativ niedriger Arbeitslosigkeit oder Beinahe-Vollbeschäftigung wie Japan und bis zu Beginn der 90er Jahre auch Schweden und der Schweiz. Außerdem betreiben manche Länder eine nachhaltige "Preisstabilitätspolitik" (Andreas Busch), zum Beispiel die Bundesrepublik und die Schweiz, in anderen Staaten herrschen große Stabilitätsprobleme und massive Verteilungskonflikte, wie in den südeuropäischen Demokratien.

Besonders große Unterschiede bestehen in den westlichen Ländern hinsichtlich der Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt. Ein Indikator dafür ist das Niveau und die Entwicklung der Staatsquote, einer aus den gesamten Staatsausgaben und dem Bruttoinlandsprodukt gebildeten und mit 100 vervielfachten Verhältniszahl. Sie ist in allen westlichen Ländern im Trend gestiegen, besonders stark wuchs sie zwischen 1960 und etwa Mitte der 80er Jahre, etwas langsamer in der nachfolgenden Periode. Stagnation oder Abnahme der Staatsquote sind nicht ausgeschlossen, waren aber bislang eher die Ausnahme. Der Anstieg der Staatsquote hat die Balance zwischen Staat und Privatwirtschaft nachhaltig zugunsten des öffentlichen Sektors verschoben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Staatsquote in den USA bei sieben Prozent, in Schweden bei knapp zehn Prozent und in Deutschland bei 14 Prozent. 1950 betrug sie in den USA 22 Prozent, in Schweden 26 Prozent und in Deutschland 29 Prozent. 1992 war sie in den USA bei 35 Prozent angelangt, in Deutschland bei 49 Prozent und in Schweden gar bei 67 Prozent.

Nicht mehr Markt, sondern mehr Staat kennzeichnet demnach den Entwicklungsweg der westlichen Länder - allerdings mit großen Unterschieden in Ausgangsniveau und Wachstumstempo der Staatsquote. Wachsende Quoten, nicht nur in Kriegs-, sondern auch in Friedenszeiten, hatten nur wenige Beobachter vorausgesehen. Zu ihnen gehört ein deutscher Nationalökonom, der bei liberalen Kritikern etatistischer Sozialpolitik als "Kathedersozialist" verschrieen war: Adolph Wagner (1835-1915). Von ihm stammt das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben. Ihm zufolge wachsen Umfang und relative Größenordnung der Staatsaufgaben und der dafür erforderliche Finanzaufwand mit zunehmender Industrialisierung und Urbanisierung. Zugleich erfolge hierdurch der Funktionswandel vom "Rechtsstaat zum Cultur- und Wohlfahrtsstaat". Man hielt Wagner entgegen, sein Gesetz stimme nicht mit den Details der intertemporalen und internationalen Variation der Staatsquote überein. Das ist zutreffend. Allerdings ist ihm zugutezuhalten, daß er hellsichtig wie kaum ein anderer die wachsende Bedeutung des Staats im politisch-ökonomischen Getriebe der Industrieländer vorhersagte. Eine Staatsquote von knapp 70 Prozent hätte aber wohl auch Wagner verblüfft, und Kopfzerbrechen hätte ihm die Beobachtung bereitet, daß die Staatsquote in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Ländern mit niedrigerem Entwicklungsniveau tendenziell stärker wuchs als in Staaten mit höherem Stand wirtschaftlicher Entwicklung.

Von dem Entwicklungspfad, der dem Wagnerschen Gesetz zufolge gelten müßte, weichen zwei Ländergruppen besonders auffällig ab. In der einen Gruppe ist die Staatsquote relativ zum wirtschaftlichen Entwicklungsstand viel zu groß. Griechenland leistete sich 1992 zum Beispiel eine Staatsquote von knapp 48 Prozent und Portugal eine von über 50 Prozent, obwohl es die wirtschaftlich am wenigsten entwickelten westlichen Länder sind. Zu groß ist die Staatsquote allerdings auch in Nordeuropa und in den Niederlanden - wiederum relativ zum wirtschaftlichen Entwicklungsstand. Dort hat die Regierungspolitik auf der Grundlage starker Links- und Mitteparteien und unterstützt von starken Gewerkschaften den "welfare state capitalism" (Walter Korpi) geschaffen, die wohlfahrtsstaatlich regulierte Marktwirtschaft.

Die zweite Gruppe bilden wirtschaftlich hochentwickelte Länder mit überdurchschnittlich niedriger und langsam wachsender Staatsquote, vor allem die USA, Japan, die Schweiz und Australien. Sie repräsentieren den Typus der primär marktgesteuerten Ökonomie.

Zusätzlich existiert noch eine dritte Ländergruppe, in der die Staatsquote in dem Korridor liegt, den man bei Fortschreibung des Wagnerschen Gesetzes erwarten kann. Sie umfaßt wirtschaftlich hochentwickelte Länder mit Staatsquoten um 50 Prozent, vor allem Deutschland, Österreich und Frankreich. Politisch-ökonomisch nehmen diese Länder eine mittlere Position zwischen dem markt- und dem wohlfahrtsstaatsgesteuerten Kapitalismus ein: Sie repräsentieren am ehesten den Typus der sozialen Marktwirtschaft beziehungsweise der sozialstaatlich regulierten Marktökonomie.

Warum ist die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt in den westlichen Ländern so unterschiedlich? Hierfür sind viele Gründe verantwortlich. Unterschiede in der Altersstruktur der Bevölkerung spielen ebenso eine Rolle wie die Größe eines Landes. Überdurchschnittlich stark wächst die Staatsquote zum Beispiel in Ländern mit einem hohen Anteil der älteren Bevölkerung aufgrund des höheren Bedarfs an sozialer Sicherung und in den Kleinstaaten, unter anderem wegen innenpolitischer Kompensation außenwirtschaftlicher Abhängigkeit. Hinreichend verstehen lassen sich die Unterschiede der Staat-Markt- Arbeitsteilung in Demokratien jedoch nur, wenn man politisch- institutionelle und parteienwettbewerbliche Bedingungen berücksichtigt. Niveau und Entwicklung der Staatsquote hängen nämlich ursächlich mit politisch-institutionellen Konstellationen und politischen Kräfteverhältnissen zusammen. Fallstudien und vergleichende Analysen verdeutlichen, daß vor allem Linksparteien-Regierungen, hauptsächlich sozialdemokratisch geführte, und Regierungen zentristischer, vor allem christdemokratischer Parteien, zu den treibenden Kräften für höhere Staatsausgaben gehören. Ein Beispiel hierfür sind die Ergebnisse einer Auswertung der Wechselbeziehungen zwischen dem Anstieg der Staatsquote von 1960 bis 1992 und den verschiedenen politischen Konstellationen in 17 demokratischen Industriestaaten. Die Veränderung der Staatsquote im Untersuchungszeitraum hängt in überzufälliger Weise mit vier Wirkfaktoren zusammen: Sie stieg um so kräftiger, je größer die Regierungsbeteiligung der Linksparteien war. Das ist der wichtigste Faktor. Die Staatsquote wuchs allerdings auch beträchtlich unter Regierungen, die von Mitteparteien, hauptsächlich christdemokratischen Parteien, geführt wurden. Nur langsam nahm sie dort zu, wo liberale oder konservative Parteien nach Art der britischen Conservative Party regierten. Dämpfend wirkten auf die Staatsquote mächtige politisch- institutionelle Begrenzungen der Parlamentsmehrheit und der Exekutive, zum Beispiel ein Bundesstaat, mächtige Vertretungskammern der Bundesländer und eine autonome Zentralbank; diese Faktoren wurden mit anderen Größen zu einem Institutionen-Index gebündelt, der institutionelle Begrenzungen des Handelns der Exekutive erfaßt. Ein vierter besonders wichtiger Bestimmungsfaktor ist die Veränderung des Altersaufbaus der Gesellschaft: Mit zunehmendem Anteil der älteren Bevölkerung wächst die Staatsquote, besonders in den Ländern, in denen die Sozialpolitik für relativ hohe Alters- und Invaliditätsrenten gesorgt und umfangreiche Frühverrentungsangebote bereitgestellt hat.

Die mit Hilfe der Korrelations- und Regressionsstatistik vorgenommene Analyse ermöglicht auch, die Antriebs- und Hemmkräfte der Staatsquote genauer zu quantifizieren. Das Staatsquotenwachstum, ermittelt aus der Staatsquote von 1992 abzüglich der von 1960, beträgt 8,8. Linksregierung: + 0,18; Mitteregierung: + 0,12; Institutionenindex: - 2,20; Alterung: + 1,78. So besagen die Regressionskoeffizienten, daß die Differenz zwischen einer Linksregierung und sonstigen Regierungen einen Unterschied im Wachstum der Staatsquote von maximal 18 Prozentpunkten macht. Der Effekt zentristischer Regierungsparteien beträgt maximal zwölf Prozentpunkte. Die Alterung der Bevölkerung schlägt mit einer Steigerung um 8,9 Prozentpunkte zu Buche, wenn der Anteil der mindestens 65jährigen von zehn auf 15 Prozent anwächst. Dämpfend wirken die institutionellen Hemmnisse der Exekutive: Bleibt alles übrige gleich, verringern sie die Staatsquote um maximal 13,2 Prozentpunkte.

Der stärkste Zuwachs ist dem politisch-demographischen Modell zufolge dort zu erwarten, wo alleinregierende Links- oder Mitteregierungen oder alternierende Links- und Mitteregierungen, zunehmende Alterung der Bevölkerung und eine geringe Zahl institutioneller Begrenzungen der Exekutive zusammenwirken. Das ist vor allem in Schweden, Dänemark und den Niederlanden der Fall. Haben Links- oder Mitteregierungen mächtige institutionelle Hemmnisse gegen sich, ist der Weg zur substantiellen Erhöhung der Staatsquote erheblich erschwert oder verschlossen. Regieren liberale oder konservative Parteien, wie die Conservative Party Großbritanniens, die Liberaldemokratische Partei Japans, der Schweizer Freisinn und die US-amerikanische Republican Party, werden Staat und Staatsquote hingegen an kürzeren Zügeln geführt. Kommen institutionelle Begrenzungen der Exekutive hinzu und ist der Bevölkerungsdurchschnitt jünger als in Westeuropa, werden Niveau und Wachstum der Staatsquote noch weiter gedämpft, wie der Fall USA veranschaulicht. Auch die Entwicklung der Staatsquote der Bundesrepublik läßt sich mit dem Modell gut erklären. Ihr Staatsquotenzuwachs von 16,2 Prozentpunkten zwischen 1960 und 1992, der im internationalen Vergleich entgegen verbreiteter Meinung unterdurchschnittlich ist - der Mittelwert liegt bei 21,0 Prozentpunkten -, reflektiert die expansiven Effekte der SPD- und der CDU-geführten Regierungen sowie die Überalterung der Bevölkerung, aber auch die dämpfenden Effekte der mächtigen institutionellen Begrenzungen der Exekutive und des Wirkens der FDP in den CDU/CSU- oder SPD- geführten Koalitionen.

Das Wachstum der Staatsquote in Deutschland wird mit dem vorgestellten Erklärungsmodell und den statistischen Kennziffern der Bundesrepublik auf 16,4 Punkte geschätzt, tatsächlich wuchs sie um 16,2 Prozentpunkte. Die Differenz zwischen Ist-Wert und geschätztem Wert ist mit -0,2 sehr klein. Die Dynamik der Staatsquote in der Bundesrepublik wird folglich mit dem hier verwendeten Modell im statistischen Sinn erfolgreich erklärt.

Nur in einem Fall weicht das tatsächliche Wachstum der Staatsquote weit von den geschätzten Werten ab: In Großbritannien nahm sie nur um elf Prozentpunkte zu, viel langsamer als prognostiziert. Das läßt sich größtenteils mit einer wirtschaftspolitischen Hypothese erklären. In Großbritannien kam es vor allem unter den Kabinetten der Premierministerin Margaret Thatcher in den 80er Jahren zu einem radikalen ordnungspolitischen Strategiewechsel zugunsten des Marktes und eines "schlanken Staats", was die Wachstumsdynamik der Staatsquote erheblich verringerte.

Für welche Zwecke wurde die wachsende Staatsquote verwendet? In manchen Ländern stand die Finanzierung umfassender Patronage und klientelistischer Systeme im Vordergrund, zum Beispiel in Italien. Um Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu schaffen, wandten alle Staaten einen wichtigen Teil der öffentlichen Ausgaben auf, auch dort, wo marktorientierte Parteien regierten, wie in den USA. Allerdings gab und gibt es beim Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen Dienst sehr große Unterschiede zwischen den Ländern. Besonders stark wuchs der öffentliche Dienst in den nordeuropäischen Ländern, vor allem im sozialstaatlichen Aufgabenbereich. Dadurch wurde im übrigen die Erwerbsbeteiligung von Frauen drastisch erweitert und somit die sogenannte gender gap in der Erwerbsbeteiligung, die Lücke zwischen der Männer- und Frauenerwerbsquote, deutlich verringert, im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo die Lücke immer noch groß ist und nur im Schneckentempo reduziert wird. Ein beträchtlicher Teil der Staatsfinanzen diente der Ausstattung alter und neuer Aufgabenfelder, und in fast allen Ländern verschlangen die Zinsen auf die zunehmende Staatsverschuldung einen wachsenden Teil des öffentlichen Budgets. Der allergrößte Teil der gestiegenen Staatsbudgets wurde jedoch für den Auf- und Ausbau sozialstaatlicher Programme verwendet, vor allem für die Alterssicherung, das Gesundheitswesen, die Arbeitsmarktpolitik und - in der Bundesrepublik jedoch in unterdurchschnittlichem Maße - für das Bildungswesen und die Familienpolitik. Das Vordringen des Sozialstaats ist demnach die Hauptkomponente der drastisch veränderten Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt, die von der wachsenden Staatsquote angezeigt wird.

Je nach politisch-institutionellen Grundlagen und politischen Kräfteverhältnissen nahm die Sozialpolitik jedoch unterschiedliche Gestalt und Entwicklungsdynamik an. Besonders stark baute man sie in den nordischen Ländern aus, wo sie den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismus hervorbrachte, und im Patronage- und Klientelismussystem Italiens und Griechenlands. Nur moderat oder schwach ausgebaut wurde sie in den marktgesteuerten Demokratien, vor allem in den USA, Japan und Australien. Ein zentristischer Sozialstaat mit ausgeprägtem Sozialversicherungscharakter entstand hingegen in Ländern mit sozialer oder sozialstaatlicher Marktwirtschaft wie Deutschland und Österreich.

Über Nutzen und Kosten des Sozialstaats streitet man in Politik und Wissenschaft. In der Politik verläuft der Graben zwischen den eigentlichen Sozialstaatsparteien, den Linksparteien sowie den - vorwiegend christdemokratischen - Mitteparteien und den marktorientierten, teils konservativen teils liberalen, Gruppierungen. Letztere favorisieren den Um- oder Rückbau des Sozialstaats zu der knapp dosierten Sozialpolitik eines Minimalstaats. Die Sozialstaatsparteien hingegen präferieren den Status quo oder den Ausbau der Sozialpolitik. Auch Wissenschaftler bewerten die sozialstaatliche Politik unterschiedlich. Zum Kern nahezu aller Kritiken gehören die zunehmende Bürokratisierung und der ausufernde Paternalismus. Von der neoklassischen Wirtschaftstheorie geprägte Kritiker betonen überdies Effizienz- und Effektivitätsmängel der Sozialpolitik. Sie gilt ihnen als marktwidriger Fremdkörper. Auch die skandinavische Machtressourcen-Schule der Sozialpolitikforschung um Walter Korpi u.a. bescheinigt ihr Fremdkörperqualität, wertet sie allerdings als unverzichtbare Funktionsvoraussetzung stabiler und effizienter wirtschaftlicher Entwicklung - in Anlehnung an Eduard Heimanns "Soziale Theorie des Kapitalismus" (1929).

Am meisten überzeugt die Kritik, die am Spannungsverhältnis von ausgebautem Sozialstaat und ehrgeizigen beschäftigungspolitischen Zielen ansetzt. Dem Beschäftigungswachstum in der Privatwirtschaft abträglich ist namentlich die Verteuerung des Faktors Arbeit durch hohe Sozialabgaben, wie sie für die deutsche Sozialpolitik und andere am Sozialversicherungsmodell orientierten Länder charakteristisch ist. Die entstehende Beschäftigungslücke kann im Prinzip durch Arbeitszeitumverteilung auf mehr Hände als zuvor oder zusätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor überbrückt werden. Allerdings stößt dieses Modell, das vor allem die nordischen Länder seit Mitte der 70er Jahre praktizierten, auf Schranken politischer und wirtschaftlicher Machbarkeit. Überdies verdeutlicht der internationale Vergleich, daß Arbeitslosenversicherungen mit hohem Lohnersatzniveau und über lange Frist gewährten Leistungen in den 80er Jahren zu überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquoten beitrugen. Ein gegenläufiger Effekt geht von der sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik aus, die vor allem auf Umschulung und Weiterqualifikation gerichtetet ist. Sie verringert das Niveau der Arbeitslosenquote.

Länder mit ausgebauter Sozialpolitik sind jedoch politisch und gesellschaftlich stabiler. Unsere vergleichende Analyse zeigt, daß ein hohes Sozialstaatsniveau nicht nur Lasten mit sich bringt, sondern auch produktive und stabilisierende Funktionen hat, zum Beispiel entlastet es die Arbeitswelt von Konflikten über Art und Höhe des Sozialeinkommens. Schwere Verteilungskonflikte zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden finden in Ländern mit ausgebauter Sozialpolitik viel seltener statt als in Staaten mit schwacher sozialer Sicherung. Dort sind häufig die Betriebe Schauplatz der Auseinandersetzungen über Sozialleistungen, im entwickelten Sozialstaat und in den nordischen Wohlfahrtsstaaten wird der Platz von den Parlamenten und der Staatsbürokratie eingenommen und somit die Privatwirtschaft von schwer lösbaren Konflikten entlastet. Erwiesenermaßen ist auch die relative Armut in Ländern mit ausgebauter sozialer Sicherung tendenziell niedriger als in Ländern mit schwächerer sozialer Sicherung. Überdies stützen zahlreiche Belege die These, daß ein hohes Niveau sozialer Sicherung der betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung dienen kann, zum Beispiel durch Anreize für die Einführung arbeitssparender Technologien und die substantielle Personalkostenentlastung der Betriebe, die typischerweise mit umfangreichen Vorruhestands- und Frühverrentungsregeln einherzugehen pflegt. Außerdem zeigen viele Studien, daß ein hohes Maß an Sozialstaatlichkeit ein erstrangiger Ordnungsfaktor sein kann, vor allem weil sozialpartnerschaftliche Arbeitsbeziehungen gestützt und Lebenslagen stabilisiert werden, die sonst durch Einkommensausfall infolge von Alter, Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit kippen würden. Somit erweist sich der Sozialstaat nicht per se als ineffizient und ineffektiv; vielmehr ist das Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Effizienz, sozialstaatlichen Verteilungszielen und politischer Stabilisierung gestaltbar und optimierbar. Eine besondere Herausforderung für die zukünftige vergleichende Forschung besteht darin, die institutionellen Bedingungen für eine möglichst optimale und demokratieverträgliche Bewältigung von Effizienz-, Verteilungsgerechtigkeits- und Stabilitätszielen zu ermitteln.

Die Zwischenergebnisse unserer Analyse deuten darauf hin, daß die verschiedenen Typen der Marktwirtschaftsländer in dieser Hinsicht jeweils charakteristische Stärken und Schwächen haben. Die Stärke der wohlfahrtsstaatlich regulierten Marktwirtschaft nach nordeuropäischer Art liegt in der Gewährleistung eines hohen Niveaus sozialer Sicherheit und distributiver Gerechtigkeit, ihre Hauptschwäche ist die tendenzielle Überlastung der Privatwirtschaft. Der marktgesteuerte Kapitalismus US-amerikanischer Art erzielt Pluspunkte beim Beschäftigungswachstum, doch liegt ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Infrastuktur und der sozialen Sicherung im argen. Auch werden innenpolitische Friedens- und Rechtwahrungsfunktionen schlechter als in den meisten übrigen Demokratien erfüllt. Ein beachtliches Niveau der Verteilungsgerechtigkeit und Arbeitsproduktivität kennzeichnet die sozialstaatlich regulierte Marktwirtschaft nach deutschem Modell. Dessen Achillesferse ist jedoch die niedrige und weithin stagnierende oder schrumpfende Erwerbsquote. Da ein erheblicher Teil der Sozialleistungen aus Versicherungsbeiträgen auf Lohn und Gehalt finanziert wird, verteuert sich der Faktor Arbeit besonders stark. Das hemmt die Beschäftigung, sofern alles übrige gleich bleibt. Dadurch gerät allerdings der Sozialstaat in eine besonders prekäre Lage: Relativ zu seinen wachsenden Aufgaben bleiben die Einnahmen zurück. Werden die Defizite nicht durch weitere Abgabenerhöhungen oder den Abbau anderer Vergünstigungen gedeckt - was politisch unpopulär ist und im Falle der Beitragserhöhung den Faktor Arbeit weiter verteuert - nimmt der "verschuldete Steuerstaat" (Rudolf Goldscheid) weiter zu - zugunsten der Gegenwart und zu Lasten der Zukunft.

Autor:
Prof. Dr. Manfred G. Schmidt
Institut für Politische Wissenschaft, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 28 82

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