Siegel der Universität Heidelberg
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Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

als die vielleicht revolutionärste Entwicklung in der Biologie des 20. Jahrhunderts hat Ernst Mayr, einer der bedeutendsten Biologen unserer Zeit, das Aufkommen der Molekularbiologie bezeichnet. Als Folge der Fortschritte in der Genetik vor 1953 und ohne Paradigmenwechsel wurden grobe Analysen durch feinere ersetzt und vollkommen neuartige Methoden entwickelt. Die bereits als "Jahrhundertwissenschaft" bezeichnete Biologie hat ohne Zweifel einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Industriegesellschaft. Die neuen Verfahren der Biochemie und Molekularbiologie haben sich in den vergangenen Jahren in Deutschland zu einem Hoffnungsträger für die deutsche Wirtschaft entwickelt. Inzwischen beeinflussen die Verfahren nicht nur die Medizin; sie werden auch in der Chemischen Industrie sowie in der Textil-, Lebensmittel-, Papier- und Zellstoff-Industrie angewendet. Die Anzahl gegründeter Biotechnologie-Unternehmen verdoppelt sich zur Zeit alle 18 Monate.

Auch für die bislang chemisch geprägte Pharmaforschung hat sich die Biologie zu einem dominanten Erneuerungsfaktor entwickelt. Die Bioinformatik, welche Computer- und Robotertechnik in der Chemie und Molekularbiologie einsetzt, untersucht die Wechselwirkungen zwischen Stoffen auf molekularer Ebene und hat inzwischen eine unvorstellbar große Kapazität beim Auffinden neuer Wirkstoffe entwickelt; in diesem Jahr soll eine Screeningkapazität (Testung auf Wirksamkeit) von 100 000 Verbindungen pro Tag erreicht werden; das neue "Drug Design" modelliert Wirkstoffe am Bildschirm. Als Folge dieser rasanten Entwicklungen und der neuen Firmengründungen im Bereich der Biotechnologie wird bereits von einem Nachwuchsmangel an qualifizierten Mitarbeitern berichtet. Die Universität ist bereit, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und das Rektorat Professor Ulmer hat mit Hilfe einer auswärtigen Beraterkommission Vorschläge ausgearbeitet, die Pharmazie neu zu strukturieren. Der klassische Pharmaziestudiengang soll in seiner Kapazität halbiert und ein "Institut für Arzneimittel- und Wirkstoff-Forschung" gegründet werden, das den Fakultäten für Biologie, Chemie und Medizin zugeordnet wird. Ein neuer interdisziplinärer Aufbaustudiengang soll dazu beitragen, qualifizierte Mitarbeiter auszubilden. Leider sind die Bemühungen der Universität um eine dringend notwendige Anschubfinanzierung durch die Industrie bisher noch nicht erfolgreich gewesen. Das Rektorat wird dieses Ziel weiterverfolgen und hofft auf eine entsprechende Unterstützung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Die Techniken der Molekularbiologie haben jedoch auch neue ethische und rechtliche Probleme aufgeworfen. Es sind heute Eingriffe in die Entstehung des Menschen selbst möglich, welche in der Geschichte der Medizin ohne Beispiel sind: Bereits vor der Geburt überprüft die pränatale Diagnostik Schwangerschaften mit einem hohen Risiko für eine Schädigung oder Erbkrankheit des Fötus. Bei der in-vitro-Fertilisation wird die Samen- mit der Eizelle außerhalb des Körpers mit dem Sperma des Ehemannes oder eines ehefremden Mannes (heterolog) befruchtet. Die gewonnenen Embryonen können eingefroren (Kryokonservierung) und anschließend wieder in die Gebärmutterhöhle (Embryotransfer) eingeführt werden; dies kann auch in eine Fremdmutter erfolgen (Leihmutter). Die neue Präimplantationsdiagnostik schließlich ermöglicht die Analyse oder gar die Beeinflussung der genetischen Ausstattung von Embryonen kurz nach der Befruchtung in vitro. Weitere Probleme im Bereich der Bioethik, des Medizinrechts und des Gesundheitsrechts betreffen die Analyse des menschlichen Genoms, das Klonen von Tieren (und bald von Menschen?), die Transplantationsmedizin, die Sterbehilfe, die Arzthaftung (aktuelle Diskussion um das "Kind als Schaden") und die Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen.

Da die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen von vielen Bürgern unseres Landes als bedrohlich angesehen werden, muß die Wissenschaft in einen Dialog mit der Gesellschaft eintreten, um in einem kollektiven Entscheidungsprozeß verantwortbare Handlungs- und Ordnungsprinzipien zu entwerfen. Die Universitäten Mannheim und Heidelberg haben deshalb im Rahmen ihres Kooperationsvertrages auf Vorschlag ihrer juristischen Fakultäten beschlossen, ein "Institut für deutsches, europäisches und internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik" (IMGB) zu gründen. Das Institut wird mit den an der Bio-Region Rhein-Neckar-Dreieck beteiligten Institutionen und Unternehmen zusammenarbeiten und interdisziplinäre Forschung in einer Breite ermöglichen, die an einer einzigen Fakultät oder Universität nicht erreichbar ist. Auch hinsichtlich dieser strukturellen Erneuerungen erwartet die Universität eine Unterstützung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Ihr
Hartmut Kirchheim,
Prorektor
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