Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Neue Raumvorstellungen in der Mathematik

Wozu ist die theoretische Mathematik gut? In der Öffentlichkeit hört man nur wenig über die Ergebnisse und Erfolge der Mathematik. Dadurch entsteht manchmal der abwegige Eindruck, in der Mathematik gebe es nur noch wenig Entwicklung, alles wesentliche sei schon bekannt oder es käme vielleicht nur noch darauf an, einige schon seit langem bekannte Probleme zu lösen (wie zum Beispiel das berühmte Problem von Fermat, das vor kurzem gelöst wurde). Ein Grund, warum so wenig an die Öffentlichkeit dringt, ist paradoxerweise gerade der schnelle Fortschritt und der große Erfolg der mathematischen Methoden. Joachim Cuntz vom Mathematischen Institut erklärt, worin er besteht.

Die mathematischen Techniken sind so hochentwickelt, daß es extrem schwierig ist, sie einem Nichtfachmann auch nur ansatzweise verständlich zu machen. Aus ähnlichen Gründen ist die Frage nach dem Nutzen der Mathematik und insbesondere der „Reinen“ Mathematik schwer zu beantworten. Es besteht daher selbst in der informierten Öffentlichkeit Unklarheit über die Rolle der modernen Mathematik – und das zu einer Zeit, in der alle Bereiche der Wissenschaft und des täglichen Lebens immer unaufhaltsamer von Methoden und Denkweisen, die aus der Mathematik kommen, durchdrungen werden. Wir wollen daher erst einmal einige Abschnitte dem Versuch widmen, das Wesen und die Ziele der modernen Mathematik zu erläutern.

Die eigentümliche Vorgehensweise der Mathematik besteht darin, Gedankenexperimente durchzuführen. Der Ausgangspunkt dabei sind Abstraktionen von Operationen, die in der Wirklichkeit real durchgeführt werden können. Dies ist eine menschliche Fähigkeit, an die wir uns so gewöhnt haben, daß wir sie kaum mehr zur Kenntnis nehmen. Ein Kind, das einen Turm aus Spielbausteinen errichten will, muß lernen, wie die Steine zu plazieren sind, damit der Turm nicht gleich einstürzt. Nach einiger Übung kann dies in der Vorstellung vorweggenommen werden, ohne die Steine real zu bewegen. Auf einer etwas höheren (oder manchmal auch niedrigeren) Ebene ist diese Technik die Grundlage für die meisten unserer Entscheidungen. Wir spielen in Gedanken die Konsequenzen einer Handlung durch und entscheiden uns dann für die, deren Resultat unseren Wünschen wahrscheinlich am nächsten kommt. Auch der Begriff der Zahl ist eine Abstraktion von solchen gedanklichen Operationen.

Das Experimentierlabor des Geistes

Die interessantesten Aspekte der Mathematik sind aber die, die diese „alltäglichen“ Anwendungen transzendieren und Operationen untersuchen, die sich in der Realität nur mit Schwierigkeiten oder prinzipiell überhaupt nicht durchführen lassen. Um nur ein Beispiel zu nennen, ist das Unendliche in den verschiedensten Formen konsistent in die Methoden der Mathematik eingebaut. Es können in Gedanken Bereiche untersucht werden, die der täglichen Erfahrung unzugänglich sind.

Die platonische Wirklichkeit der Mathematik und geistige Abenteuer: Der Mathematiker untersucht eine platonische Wirklichkeit, die außerhalb seiner selbst existiert. Wir wollen hier keine philosophischen Behauptungen aufstellen, sondern nur eine Erfahrung wiedergeben, die jeder aktive Mathematiker macht. Die Welt der mathematischen Objekte und Strukturen weist in der Tat viele Kennzeichen der objektiven Wirklichkeit auf (Wiederholbarkeit, Nachprüfbarkeit). Der Mathematiker erforscht diese Welt genau wie ein Naturforscher oder Geograph die reale Welt. Die einzige Beliebigkeit besteht in den Bezeichnungen, die er den Objekten, die er findet, verleiht. Ein Beweis ist ein Weg in dieser Landschaft von dem Bereich, den wir kennen, zu dem gewünschten Ziel (Sachverhalt). Auf dem Weg dahin lernen wir weitere Teile des Gebiets kennen und werden bald auch kürzere und bequemere Wege finden oder neue Wege zu Resultaten, die wir schon vorher kannten. Die Entwicklung verläuft dabei nicht nur in kleinen Einzelschritten, sondern an wichtigen Stellen in globalen Visionen, über die Mathematiker aller Zeiten von Archimedes über Galois bis Poincaré berichtet haben (ebenso wie die großen Philosophen Rousseau, Descartes, Pascal ...).

Die menschlichen Möglichkeiten sind notorisch beschränkt. Die Sicherheit der mathematischen Ergebnisse erlaubt es aber, die Beiträge von unzähligen Einzelwissenschaftlern aufzusummieren und zu einem großen Puzzle zusammenzufassen. Denn in der Mathematik geht nichts verloren – was einmal als richtig erkannt wurde, bleibt richtig. Mit der Zeit ist daher ein Gebäude von unerhörter Komplexität enstanden. Welche Beziehungen bestehen zur objektiven Wirklichkeit und wo liegt der praktische Nutzen? Die Anwendungen der Mathematik sind keinesfalls nur ein nützlicher Nebeneffekt. Um bei dem oben beschriebenen Bild des Erforschers der mathematischen Wirklichkeit zu bleiben: Es könnte die Gefahr bestehen, daß dieser Forscher nur in seinem Elfenbeinturm bleibt, um diesen immer genauer zu untersuchen. Um nicht zu verkümmern, braucht die Mathematik die frische Luft neuer unerforschter Gebiete. Sie lebt davon, in dauerndem Kontakt mit der objektiven Wirklichkeit neue Strukturen zu untersuchen, die anschließend ihren Platz in dem großen Gebäude finden. Es ergeben sich dann fast automatisch Beziehungen zu bereits existierenden Theorien. Durch diese Einordnung werden Methoden direkt verfügbar zur Behandlung der neuen Phänomene. Auf der anderen Seite können die neuen Strukturen die bereits vorhandenen in oft ganz unvorhergesehener Weise ergänzen und damit ganze Bereiche revolutionieren und zu neuen Anwendungen (auch praktischen) an ganz anderen Stellen führen. So können etwa Ideen, die aus der theoretischen Physik kommen, zu Anwendungen in der Zahlentheorie führen oder auch umgekehrt.

Die Mathematik überwindet die physischen Grenzen unserer Existenz

Jahrhundertelang hat sich die Mathematik in einer fruchtbaren Symbiose mit der Physik entwickelt. An vielen Stellen ist nicht klar, ob ein spezielles Resultat der Mathematik oder der Theoretischen Physik zuzuordnen ist. Oft wurden physikalische Entdeckungen durch rein mathematische Überlegungen vorweggenommen. Bekannte Beispiele sind die elektromagnetischen Wellen oder die allgemeine Relativitätstheorie. Theorien wie die theoretische Mechanik, die Elektrodynamik, die allgemeine Relativitätstheorie, die Quantenmechanik oder die Chromodynamik sind im Grunde vollständig mathematische Theorien, die übrigens dem Laien ebenso schwer verständlich zu machen sind, wie alle mathematischen Strukturen. Viele physikalische Sachverhalte lassen sich adäquat nur in sehr anspruchsvoller mathematischer Sprache formulieren. Wenn Physiker in populärwissenschaftlichen Darstellungen diese Strukturen beschreiben, arbeiten sie im allgemeinen mit ziemlich vagen Analogien. Wir werden weiter unten versuchen, einen neuen Teilbereich der modernen Mathematik in ähnlicher Weise mit Hilfe von Analogien zu erklären.

Wie sieht der „Subraum“ von Star Trek aus?

Es gehört zum Wesen der Mathematik, einmal verstandene Funktionsweisen überall wiederzuerkennen. Dies führt zu der Universalität der Mathematik und der Anwendbarkeit der von ihr entwickelten Methoden auf die verschiedensten Mechanismen und Prozesse in unserer Umwelt. In letzter Zeit finden die mathematischen Methoden auch in vielen anderen Einzelwissenschaften Eingang. Als Beispiele von Anwendungen neuerer mathematischer Methoden (die bereits vor diesen Anwendungen existierten) seien etwas wahllos genannt: Computertomographie, Fourieranalyse und Zerlegung in Wellenpakete („wavelets“) bei Erdölbohrungen, Hirnstrommessungen oder Echolot, Anwendungen der Spieltheorie in den Wirtschaftswissenschaften, der Logik und Algebra in der formalen Linguistik, statistische Methoden, Bildverarbeitung, „fuzzy“-Logik, Suchmethoden, Codierung und Verschlüsselung. Einfachere Anwendungen von mathematischen Begriffen sind inzwischen so alltäglich, daß man sie gar nicht mehr bemerkt.

Die Probleme aus diesen Bereichen geben dann auch umgekehrt Impulse für neue mathematische Entwicklungen. Auch aus diesem Grund ist die Entwicklung der Mathematik heute schneller als je zuvor. Ein wichtiges Ziel der grundlagenorientierten Mathematik ist es, extrem komplexe Strukturen und Zusammenhänge noch beherrschen und verstehen zu können. Meistens werden schon nach kurzer Zeit die dabei entwickelten Methoden in ganz anderen Bereichen genutzt. Denn es kommt in der Mathematik fast nie auf das einzelne Problem an, sondern vielmehr auf die Methoden, die seine Lösung ermöglichen. Alle verschiedenen Teile der Mathematik hängen zusammen und befruchten sich gegenseitig. Selbst, wenn sich jemand auf den Standpunkt stellen wollte, daß nur die Mathematik betrieben werden sollte, die sich direkt zum Beispiel auf technische oder ingenieurwissenschaftliche Probleme anwenden läßt, so müßte er doch bald erkennen, daß auch für diese Zwecke schon erstaunlich schnell Begriffsbildungen und Ergebnisse aus anderen Bereichen der Mathematik (etwa der Geometrie oder der Topologie oder der Theorie der analytischen Funktionen) von entscheidender Relevanz sind.

Räume, deren Dimension keine ganze Zahl ist

Zum Schluß noch einige Worte zur Rolle des Computers in der modernen Mathematik. Er spielt zunächst einmal die Rolle, die er auch in anderen Einzelwissenschaften spielt. Er wird in der Mathematik eingesetzt zur Simulation von komplexen dynamischen Systemen, zur Umsetzung der mathematischen Erkenntnisse in praktische Berechnungen und zum Testen von Hypothesen. Darüber hinaus gibt aber die Untersuchung und Berücksichtigung seiner Funktionsweise auch Anlaß zu neuen mathematischen Untersuchungen und Strukturen, die genau wie die, die aus den anderen Wissenschaften kommen, im Gebäude der Mathematik ihren Platz finden und dem Rest der Mathematik neue Anstöße geben. Der Computer spielt aber in der Grundlagenforschung nicht die zentrale Rolle, die in der Öffentlichkeit oft vermutet wird (und kann sie auch aus prinzipiellen Gründen nicht spielen). Wie groß die Mißverständnisse hier sind, wird etwa illustriert durch die folgende Episode: Der frühere französische Staatspräsident Giscard d’Estaing führte in einem Interview die Lösung des Problems von Fermat als ein Beispiel für den Erfolg der immer größer werdenen Leistungsfähigkeit von Computern an. In Wirklichkeit beruht diese Lösung auf extrem verfeinerten und komplizierten theoretischen Methoden, die erst in letzter Zeit entwickelt wurden. Der einzige Beitrag des Computers bestand in der Textverarbeitung beim Tippen des Artikels.Die Mathematik wird immer das Werkzeug des Menschen bleiben, um seine Umwelt zu verstehen und zu strukturieren und auch, um immer komplizierter werdende Mechanismen, die sich in der Technik und der Gesellschaft herausbilden, wie etwa gerade die Computer, noch beherrschen und verarbeiten zu können.

Wir kommen nun zum mehr spezifischen Inhalt dieses Artikels, nämlich der Darstellung neuer mathematischer Ideen, die die Grundlage der Forschung unserer Arbeitsgruppe am Mathematischen Institut der Universität Heidelberg bilden. Wir wollen auch hier etwas weiter ausholen und die Ursprünge dieser Ideen zurückverfolgen. John von Neumann (geb. 1903 in Budapest, nach kurzer Tätigkeit in Hamburg und Berlin Professor in Princeton) war einer der bedeutenden Mathematiker dieses Jahrhunderts, der zu fast allen Gebieten der Mathematik, angefangen bei den Grundlagen der Mathematik und Logik bis hin zur Funktionalanalysis, wichtige Ideen und Ergebnisse beigetragen hat. Er ist der Begründer der Spieltheorie und hat das heute verwendete Konzept des Computers entwickelt; er hat das theoretische Fundament der Quantenmechanik und des Meßprozesses in der Quantenmechanik analysiert; er gehörte übrigens auch zu der Gruppe von Wissenschaftlern, die bei der Entwicklung der Atombombe mitgearbeitet haben. In einer langjährigen Zusammenarbeit mit Francis Murray, in die er außergewöhnlich viel Energie investierte (in seinen gesammelten Werken sind zwei von sechs Bänden diesem Bereich gewidmet), untersuchte er Räume, deren Dimension nicht notwendigerweise ein ganze Zahl (1, 2, 3, ... ) ist, sondern eine beliebige positive Zahl (wie etwa 5,761). Das heißt, in einem solchen Raum gibt es gewissermaßen 5,761 verschiedene „Richtungen“. Dies ist nicht zu verwechseln mit der nichtganzzahligen „metrischen“ Dimension von fraktalen Räumen, die ein viel weniger tiefliegendes Phänomen darstellt. Von Neumann war auf diese Räume gestoßen im Zusammenhang mit seiner Untersuchung des in der Quantenmechanik beobachteten Phänomens, daß das Ergebnis von mehreren aufeinanderfolgenden Messungen möglicherweise von der Reihenfolge der Messungen abhängt (so bekommt man unter Umständen verschiedene Resultate, wenn man zuerst die Position und dann den Impuls oder zuerst den Impuls und dann die Position eines Teilchens mißt). Die beiden Meßprozesse sind nicht vertauschbar oder nicht kommutativ, wie man in der Mathematik sagt. Wertebereiche von nichtkommutativen Größen sind typischerweise diskret oder fraktal. Wie sieht der Raum im mikroskopisch Kleinen aus? Wir wissen es nicht – aber vieles deutet darauf hin, daß die Struktur des Raums auf diesem Niveau nicht mit der uns bekannten kontinuierlichen Geometrie beschrieben werden kann. Zum Beispiel könnte es so etwas wie eine kleinste Länge geben, das heißt, der Abstand zwischen zwei „Punkten“ müßte mindestens diese Länge betragen. Trotzdem sollten Objekte in diesem Raum sich noch kontinuierlich bewegen können. Der Begriff eines Punktes selbst müßte dann seine Bedeutung verlieren. Für die Mathematiker ist all dies schon Wirklichkeit. Solche Räume existieren in der Mathematik und können untersucht und beschrieben werden. Sie basieren auf einer weitreichenden Weiterentwicklung der oben erwähnten Ideen von Neumanns und können nichtganzzahlige Dimension haben. Wenn man „Funktionen“ auf diesen Räumen miteinander multipliziert, so hängt das Resultat von der Reihenfolge der Faktoren ab; sie werden daher auch nichtkommutative Räume genannt. Solche Räume können etwa in Richtungen, die in unserem üblichen euklidischen Raum nicht existieren, verschoben oder gedreht werden und zeigen dann ganz neue Strukturen oder Beziehungen zwischen Teilbereichen (so könnte man sich vielleicht den „Subraum“ in Star Trek vorstellen). Dem Wesen der Mathematik entsprechend werden diese Objekte, die hier blumenreich und scheinbar spekulativ umschrieben werden, aber mit logischer Genauigkeit untersucht, und die Aussagen darüber sind natürlich vollständig beweisbar.

Die geometrische Gestalt solcher Gebilde zu beschreiben, ist ein Problem, dem man sich erst in jüngster Zeit zuwenden konnte, da die erforderlichen Methoden erst vor kurzem entwickelt worden sind (unter sehr aktiver Mitwirkung auch von Heidelberger Wissenschaftlern). Es ist eine Idee der modernen Differentialgeometrie und der algebraischen Topologie, daß geometrische Eigenschaften wie die Krümmung oder die globale Gestalt eines geometrischen Objekts durch Zahlen (oder ähnliche Größen), sogenannte „Invarianten“, beschrieben werden können. Solche Invarianten müssen die Eigenschaft haben, daß sie sich nicht ändern, wenn das geometrische Objekt verschoben oder deformiert wird, ohne seine Gestalt zu ändern. (Um eine Idee davon zu bekommen, was hier mit Gestalt im einfachsten Fall gemeint ist, stelle man sich die Oberfläche eines Autoreifens und die Oberfläche eines Balls vor. Obwohl beides zweidimensionale geschlossene Flächen sind, ist ihre Gestalt fundamental verschieden.) Falls zwei Objekten verschiedene Zahlen als Invarianten zugeordnet sind, so haben sie auch verschiedene Gestalt. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die Kleeblattschlinge von ihrem Spiegelbild unterscheiden. Es ist im allgemeinen nicht einfach, solche Invarianten zu finden.

Wie man die Kleeblattschlinge von ihrem Spiegelbild unterscheiden kann

Es ist nun in letzter Zeit gelungen, Invarianten zu finden, die sich in ganz überraschender Weise für die oben beschriebene ganz allgemeine Art von nichtkommutativen Räumen konstruieren lassen. Zu dieser Entwicklung hat unsere Heidelberger Arbeitsgruppe wesentlich beigetragen. Die neuen Methoden basieren auf sogenannten Homologie- und Kohomologietheorien. Bei diesen Theorien zerlegt man, grob gesprochen, ein kompliziertes Gebilde in einfache Einzelstücke und benutzt eine Systematisierung der Beschreibung der Beziehungen zwischen den Einzelstücken. Diese Systematisierung erfolgt algebraisch, so daß also geometrische Sachverhalte in algebraische Formeln übersetzt werden. Ein in Heidelberg erzieltes Resultat erlaubt es, die Invarianten mit Hilfe spezieller Zerlegungen wirklich zu berechnen und außerdem die verschiedenen bekannten Kohomologietheorien miteinander zu vergleichen. Das Faszinierende an den Theorien für den nichtkommutativen Fall ist, daß sie Methoden aus fast allen Gebieten der Mathematik benutzen und sich andererseits auch auf Problemstellungen in vielen verschiedenen Bereichen anwenden lassen. Wie nicht anders zu erwarten, haben die neuen Ideen auch gleichzeitig zu einem neuen und besseren Verständnis der vorher für „normale“ geometrische Objekte benutzten Begriffe geführt. Die Idee dabei ist, daß klassische geometrische Gebilde in nichtkommutative Räume eingebettet werden können. Die Homologie- und Kohomologieinvarianten können erhalten werden, indem man untersucht, wie die gegebenen Objekte sich in dieser nichtkommutativen Umgebung bewegen und deformieren lassen.

Ist das alles nur eine mathematische Spielerei? Die nichtkommutativen Gebilde werden untersucht, weil sie, wie oben beschrieben, in der platonischen Wirklichkeit auf unserem Weg lagen. Aber: Ihre Untersuchung hat natürlich, wieder wie oben beschrieben, ganz neue Anwendungen in den verschiedensten Gebieten der Mathematik ergeben. Es gibt auch Anwendungen auf ganz „alltägliche“ Probleme. So wurde die Invariante, die die Kleeblattschlinge von ihrem Spiegelbild, oder allgemeiner, verschiedene Knoten voneinander unterscheidet, gerade auf diesem Weg gefunden. Dies wiederum war von Nutzen in der Molekularbiologie, um die Verknotungen von DNS-Molekülen zu klassifizieren. Es wird außerdem gehofft, daß die nichtkommutativen Räume in der Tat einen geeigneten Rahmen zur Beschreibung der Geometrie unserer Welt auf mikroskopisch kleinem Niveau bieten könnten. Eine Reihe von herausragenden Mathematikern und Physikern arbeiten an diesem Programm.

Zwei Fieldsmedaillen wurden in den letzten Jahren für Arbeiten auf dem neuen Gebiet der Nichtkommutativen Geometrie vergeben – eine an den französischen Mathematiker Alain Connes, der das Gebiet mitbegründet und durch seine Beiträge geprägt hat, die andere an den neuseeländischen Mathematiker Vaughan Jones, der die Beziehungen zur Klassifikation von Knoten, Quantensymmetrien und zur statistischen Mechanik entdeckt hat.

In Heidelberg wurden die Techniken entwickelt, die es erlauben, die oben erwähnten Invarianten für nichtkommutative Räume zu definieren und zu berechnen. Die Forschung auf diesem Gebiet wurde in den letzten 6 Jahren von der DFG im Rahmen der Forschergruppe „Topologie und Nichtkommutative Geometrie“ gefördert.

Autor:
Prof. Dr. Joachim Cuntz, Mathematisches Institut, Im Neuenheimer Feld 288, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 56 92

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang