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Zu Tisch bei Balzac

Im Leben wird gegessen und getrunken, in vielen literarischen Texten hingegen, ja in ganzen Gattungen wie Lyrik und klassischer Tragödie, so gut wie nicht. Und selbst wenn vom täglichen Brot oder vom abendlichen Diner erzählt wird, pflegten die Literaturwissenschaftler nicht anzubeißen. Zu sehr waren sie dem Geist und dem asketischen Gelehrtenideal verpflichtet. Dabei geht es in der Dichtung nicht nur um Nahrungsaufnahme und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um Zubereitung, Tischsitten und gesellschaftliche Anlässe, und nicht nur um deren kulturgeschichtliche Dokumentation, sondern auch um deren künstlerische Auswertung. Erst um 1970 endete die literaturwissenschaftliche Abstinenz, auch in Heidelberg. Am Romanischen Seminar blickte Arnold Rothe in die Kochtöpfe Balzacs.

Aus der Fremdheitserfahrung heraus, die Essen im Ausland bewirken kann, erhob Alois Wierlacher die literarische Mahlzeit zum Gegenstand eines interkulturellen Forschungsprojekts und widmete ihr 1987 dann auch seine Heidelberger Habilitationsschrift über die Zeit von Goethe bis Grass; 1997 erhielt er den Dr. Rainer Wild-Preis der Heidelberger Stiftung für gesunde Ernährung. Schon 1971 hatte Klaus Heitmann nachgewiesen, daß bei Ionesco die Nahrungsmittel die Verfallenheit an die Materie markieren und die Menschen sich durch Überfütterung oder Nahrungsentzug für diese Existenzbedingungen aneinander rächen. Peter Michelsen brachte die Dichtung von Ringelnatz auf die Formel Alkohol in Versen (1976). Der Verfasser dieser Zeilen unterschied bei Quevedo, einem spanischen Barockdichter, zwei Symbolschichten des Essens, eine theologische und eine tiefenpsychologische (1982). Richard Beilharz zeigte, wie Villiers de l'Isle-Adam, ein Autor des 19. Jahrhunderts, die konventionelle Glückserwartung an ein Festmahl nur weckte, um sie jedesmal nur desto gründlicher zu enttäuschen (1992). Dietrich Harth gab den Geist der Kochkunst von Rumohr neu heraus (1994). Mehrere Abschlußarbeiten sind aus einem komparatistischen Hauptseminar hervorgegangen, unter anderem die Dissertation von Jutta Klose über die französischen Realisten, Tafelfreud und Liebesleid in der Bourgeoisie (1987). Eine weitere Dissertation, speziell zu Zola, ist im Entstehen. Der folgende Beitrag knüpft an diese Arbeiten an und demonstriert an einem Einzelfall den wissenschaftlichen Nährwert eines literarischen Menüs.

"Es wurden Speisen aufgetragen, die einem den Geist verwirren konnten! ... Nudeln von unerhörter Zartheit, unvergleichlich gebratener Stint, ein Genfer Felchen mit richtiger Genfer Sauce, und zum Plumpudding eine Creme, die den berühmten Londoner Arzt entzückt hätte, der ihn erfunden haben soll. Was an Rheinwein und französischen Weinen getrunken worden war, hätte jeden Dandy in Erstaunen versetzt. Als Eis, Tee, Punsch und Kuchen dargeboten wurden, stieg die Heiterkeit unter den achtenswerten Geschäftsleuten auf den Höhepunkt, sie waren fast alle beschwipst."

Beschreibungen solcher Art zeugen von jener Realitäts- und Aktualitätsprallheit, durch die sich Balzac vor allen früheren Romanciers auszeichnet. Mit Plumpudding, Punsch und Tee läßt das Bankett von 1844 die damalige Englandmode erkennen, mit Stint und Felchen die Verbesserung von Verkehr und Konservierungsmethoden, mit der Opulenz einen besonderen Anlaß: Es galt, mit Partnern und Freunden die Unterzeichnung eines Heiratsvertrags und die Gründung einer jener Banken zu feiern, die vom Aufschwung unter König Louis-Philippe am meisten profitierten.

Im Pariser Großbürgertum pflegte aber auch das alltägliche Diner für Gäste offenzustehen und mit Gaumenfreuden zu locken, mit Likör und gutem Kaffee, vor allem aber mit dem plat couvert, dem unangekündigten, um so erleseneren Extragericht. Nicht so das Abendessen eines Armenarztes, also eines deklassierten Bourgeois, schamhaft im Familienkreise eingenommen und durch die Einhaltung der Menüfolge die Kärglichkeit um so mehr betonend: Als Beilage "Feldsalat, der billigste Salat überhaupt" und als Dessert nur "ein Eckchen Brie-Käse, zu einem mit sogenanntem Studentenfutter belegten Teller, auf dem sich viele Traubenstengel befanden, und einem Teller mit minderen Holzäpfeln". Der Altwarenhändler aus der Provinz schließlich, er ernährt sich nur noch von Brot und Heringen, von Gemüseresten aus einem Abfallhaufen. Nicht nur Qualität und Erlesenheit, auch Ordnung, Stil und Geselligkeit verflüchtigen sich also nach unten hin. Was sich seit Beginn der industriellen Revolution im sogenannten Volk zusammenbraut, ist dem Autor im höchsten Grade unheimlich.

Neben der sozialen auch eine regionale Differenzierung: Die eingangs erwähnten Nudeln entstammen der deutschen Küche, ebenso der Karpfen vom Rhein und der Weißwein aus derselben Gegend, sonst auch als Essig verunglimpft. Daß es ein Deutscher ist, der wahllos Kalb, Fisch, Reiskroketten und Räucherspeck bestellt und dieses Durcheinander auch noch für ein Festmahl ansieht, dürfte kein Zufall sein: Man hielt nicht viel von der Eßkultur der Nachbarn. Immerhin: Den unmäßigen Konsum der Deutschen an Bier und Tabak – 25 Pfeifen pro Tag – entlarvt Balzac als Vorurteil.

Abusus von Genußmitteln am einen, Diät am anderen Ende: Selbst Schinken, Omelett oder Schokolade mit Vanillesauce, schon eine solche Aufbaukost konnte bei einer Lebererkrankung tödlich sein. Manche Patienten wurden daher auf reine Flüssignahrung gesetzt. Um zu verhindern, daß Angehörige ihnen aus falsch verstandener Fürsorge etwas Substantielleres zusteckten, mußten in den Hospitälern – so weiß Balzac zu berichten – Leibesvisitationen durchgeführt werden. Regelrechte Medikamente mit heilender oder beruhigender Wirkung, eingenommen oder inhaliert, waren Tees, Melissengeist und sonstige Kräuterextrakte. Mineralische und metallische Verbindungen hingegen dienen dem Autor – für seinen Konservativismus bezeichnend – nur als Gifte: Arsen, Vitriol, Grünspan, gerne in Getränken verabreicht.

Wie überall, so war auch in Paris der Tagesablauf durch Essenszeiten verbindlich strukturiert: Nach Tagesanbruch das Frühstück; um halb sechs Uhr nachmittags die einzige Hauptmahlzeit, das Diner; gegebenenfalls spät abends noch, nach Ballvergnügen oder Theaterbesuch, ein Souper. Großbürgerliche Gastlichkeit verlangte eine Salle à manger sowie eigenes Personal, weibliches für die Küche, männliches für die Bedienung, Arbeitsteilung der Geschlechter. Dem Armenarzt mußte hingegen das Wartezimmer, dem Orchesterdiener die Küche selbst als Eßzimmer genügen. Die Funktionstrennung der Wohnräume nimmt also zur Unterschicht hin ab. Auch das registriert Balzac als Soziologe seiner Zeit.

Draußen erwartete den Pariser die ganze Palette des großstädtischen Angebots: Hotels, Restaurants, Cafés, jeweils in den unterschiedlichsten Kategorien, bis hin zur Markthalle, der halle (noch im Singular), nicht zu vergessen die Apotheke und den Tabakladen. Darunter illustre Adressen der Epoche, wie der Cadran Bleu, Ecke Boulevard du Temple/Rue Charlot, oder das Café Turc gleich nebenan. Das Ansehen der noch jungen Zunft der Gastronomen war indes nicht unumstritten, vielleicht wurden sie nur als bessere Lakaien betrachtet, bei denen man sich einmieten konnte; vielleicht wurde auch ihr Geschäftsgebahren beargwöhnt: so verkaufen Restaurants ihre Speisereste an einen Garkoch, und dieser verkauft sie weiter an eine geschäftstüchtige Hausmeisterin. Unter ihren Händen wird aus den Resten gekochten Rindfleischs ein Fricassée, das, reichlich mit kleingehackten Zwiebeln versehen und mit Butter vollgesogen, schließlich das Aussehen eines Bratens annimmt. Was ihre beiden Kostgänger übriglassen, verhökert besagte Concierge dann noch an einen dritten Mieter. Auch Speisen können einen gesellschaftlichen Abstieg erfahren. Man läßt nichts umkommen und macht aus allem Geld.

Wie Balzac uns weiter zeigt, hat eine Mahlzeit, vor allem zu mehreren eingenommen, stets auch Funktionen, die über die bloße Nahrungsaufnahme hinausweisen. Eine Mahlzeit dient auch dem leiblichen Genuß, dem ästhetischen Wohlgefallen, der Kommunikation und, in höheren Kreisen, der Repräsentation. Einzig den kultischen Aspekt kann Balzac in der säkularisierten Gesellschaft seiner Zeit nicht mehr entdecken. Und doch: Das eingangs erwähnte Bankett zu Vertragsabschluß erinnert noch an ein Dankopfer und das allabendliche Essen zweier alter Freunde an eine Agape, ein Liebesmahl. Dessen Initiator wird, in Anspielung auf Christus, als agneau divin, als Osterlamm bezeichnet.

Balzac schaut dem Volk aber nicht nur ins, er schaut ihm auch aufs Maul: Einer Redewendung zufolge kocht man über wie Milchsuppe, man verzehrt sein Vermögen oder erntet die Früchte seiner Sorgen. Kein Deckel ist so häßlich, daß er nicht seinen Topf fände, und unser starker Tobak ist bei den Franzosen starker Kaffee. Hier kriegt man noch nicht einmal etwas für ein Butterbrot, dort schon für ein Stück Brot allein. Glückliches Frankreich!

Balzac kannte aber auch seinen Brillat-Savarin, die damalige Autorität in Fragen des Geschmacks. Nicht weniger als 250 Kochrezepte hat er in seiner Comédie Humaine verarbeitet. Indes, schon ein einzelnes Werk dieses Zyklus legt nahe, daß sein beleibter Autor kein Kostverächter war. So stammen alle meine bisherigen Bausteine für eine Kulturgeschichte des Essens aus dem einen Cousin Pons. Das hat seine Gründe; denn Balzac war kein Bocuse, sondern eben Balzac, und er beschrieb die Essensgewohnheiten nicht um ihrer selbst willen, sondern in Funktion zu einer Romanhandlung. Der Leser muß also die gastronomische Norm kennen, um fiktionsbedingte Abweichungen von dieser Norm wahrnehmen und interpretieren zu können. Abstoßend häßlich, hatte Sylvain Pons, der Titelheld, alle Hoffnung aufgeben müssen, je von einer Frau geliebt zu werden. Und so suchte er Besitz und Genuß des Schönen anderswo, in Kunst und Gaumenfreuden. Die Unkenntnis der Antiquare nutzend oder mindere Kunstgegenstände gegen immer bessere eintauschend, erwarb er schließlich, obwohl als Orchestermusiker nur spärlich besoldet, sogar Werke von van Eyck, Giorgione, Dürer und Géricault. Sein bestgehütetes Geheimnis waren sie, Quelle täglichen Wohlgefallens, nicht Kapitalanlage oder Handelsware, er kannte nicht einmal den Marktwert seiner Kollektion, obwohl er in die Millionen ging.

Folglich fehlten ihm die Mittel, auch seiner zweiten Leidenschaft zu frönen, dem Hang zum guten Essen. Einst hatten dem gefeierten Künstler alle Türen offengestanden. Als aber sein Ruhm verblaßte, wurden auch die Einladungen seltener. Pons mochte von seinen liebgewonnenen Gewohnheiten indes nicht ablassen. Im Hause eines wohlhabenden Vetters wurde er allenfalls noch als Parasit, als Pique-assiette geduldet. Es war ihm entgangen, daß aus der Großfamilie eine Kleinfamilie geworden war, diese – entgegen der bürgerlichen Ideologie – einen wirtschaftlichen Zweckverband darstellte und Essen nicht mehr ohne Gegenwert zu haben war.

Wir bekommen Pons denn auch weniger zu sehen, wenn er ißt, als wenn er vom Essen träumt. Obsessionen, regelrechte Entzugserscheinungen, die seine Leidenschaft als Sucht entlarven: "An gewissen Tagen rief Pons ,Oh Sophie' und dachte dabei an die Köchin des Grafen Popinot. Ein Passant, der ihn so seufzen hörte, hätte glauben müssen, der Alte dächte an eine Geliebte, und es handelte sich doch um etwas viel Selteneres, einen fetten Karpfen!, begleitet von einer Sauce, klar in der Saucière, samtig auf der Zunge, eine Sauce, die den Prix Montyon für tugendhafte Werke verdient hätte." Pons' Vorliebe für Fisch ist auch anderweitig belegt, zum Beispiel durch das anfangs zitierte Bankett: aus dessen Darstellung werden die Fleischgänge, obwohl Statussymbol und obligatorisch, glattweg ausgeblendet.

Fischesser wirken eben weniger aggressiv als Fleischesser. Mit dem Lieblingsgericht wird also zugleich Pons' Sanftheit veranschaulicht, sein Charakter. "Der Mensch ist, was er ißt", so das bekannte Diktum von Ludwig Feuerbach.

Aber auch jener mutmaßliche Passant hatte so unrecht nicht: Pons' Leidenschaften sind eine einzige Kompensation. Was er für seine Kunstsammlung empfindet, ist "l'amour de l'amant pour une belle maîtresse, la faculté sublime des vrais amants". Noch ungeschminkter schreibt Balzac, dieser Hobby-Physiologe, die Verdauung bestehe bei den Kulinariern in einem inneren Kampf, der den höchsten Liebesgenüssen gleichkomme. Man empfinde eine derartige Entfaltung der Vitalität, daß sich das Gehirn zugunsten eines zweiten, im Zwerchfell befindlichen Gehirns ausschalte, und gerade durch die Lähmung aller anderen Funktionen komme es zum Rauschzustand. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Pons war weder Hungerleider noch Vielfraß. Sein Mund war sinnlich, sein Körper aber schlank. Balzac nennt ihn gourmand, nicht gourmet, und gewiß war er mehr Genießer als Kenner. Aber was er genoß, wußte er doch auch zu bezeichnen, zu bewerten und zu beschreiben: "Pons regrettait certaines crèmes, de vrais poèmes! Certaines sauces blanches, des chefs d'œuvre! Certaines volailles truffées, des amours!" Nicht nur die Mahlzeit ist ein Gedicht, auch der Text, in dem das ausgedrückt wird: Poèmes reimt sich mit crèmes, die drei Satzobjekte sind parallel angeordnet, ihre Anfangswörter – jeweils certaines – fügen sich zu einer Anapher und ihre Endwörter – poèmes, chefs d'œuvre, amours – zu einer Klimax. Erneut können wir auf Pons' Persönlichkeit schließen: auch was hier kompensiert wird, die Liebe, hätte sich nicht in bloßer Triebbefriedigung erschöpft.

Mit Nahrungs- und Besitztrieb scheint Pons von den drei frühkindlichen Phasen im Sinne Freuds – der oralen, der analen und der sexuellen Phase – nur die ersten beiden durchlaufen zu haben. Das Verharren oder, besser, die Regression in das Kindheitsstadium wird von Balzac denn auch unentwegt unterstrichen: garçon, enfant, mignon, naïveté. Allerdings, Pons hat Oralität und Analität durchaus sublimiert sowie deren kindliche Egozentrik überwunden. Zu den Tafelfreuden zählt er nämlich auch das ganze Drum und Dran, die anderen Gäste, die Plaudereien, den Austausch unaufrichtiger Höflichkeiten und die médisance, jenes probate Mittel, auf Kosten von Abwesenden die Solidarität der Anwesenden zu fördern. Zur kulinarischen tritt also die soziale Funktion einer Mahlzeit. Die ästhetische wird vor allem durch die Kollektion bezeugt. In der Kleinkunst hat Pons sich nämlich auf Porzellan spezialisiert, auf Service, und ausgerechnet auf Frankenthal: "Das ist der Name der Porzellanfabrik des Pfälzer Kurfürsten. Sie ist älter als unsere Manufaktur von Sèvres, wie die berühmten Gärten Heidelbergs, von Turenne verwüstet, das Pech hatten, schon vor denen von Versailles zu bestehen."

Nicht von einer Leidenschaft allein wird Pons demnach absorbiert. Er ist zu differenziert, um sich unter die großen Monomanen einzureihen, denen man in der Comédie Humaine sonst auf Schritt und Tritt begegnet. Seine Unmäßigkeit, die harmloseste der sieben Todsünden, das Laster tugendhafter Mönche, wie es heißt, ist bloß eine Schwäche und findet folglich des Autors Mitgefühl. Eher sind ihm schon die Asketen suspekt, denn die sind erfolgreich.

Eine Mahlzeit, bei der sich Gastronomie, Geselligkeit und Repräsentation verbinden, hält Balzac durchaus für einen Wert, ja ein Kulturgut. Vom Altwarenhändler aus der Provinz, der nur dies und jenes in sich hineinschlingt, heißt es hingegen kurz und bündig: "il se nourrit"; es steht ihm nicht einmal das Wort manger zu. Auf der anderen Seite verabscheut Balzac die Vereinnahmung der Mahlzeit für gesellschaftliche Ambitionen, die Vorordnung des Nachgeordneten, der Repräsentation. Die Diners im Hause des gut gestellten Vetters sind solchermaßen pervertiert und werden daher vom Verfasser mit Nichtachtung gestraft. Ein Opfer ihrer sozialen Instrumentierung ist Pons.

Balzac hält sich einiges darauf zugute, die Leiden gastronomischer Frustration und die Schäden ihrer Überwindung literarisch entdeckt zu haben. Letztere sind nicht physischer, sondern moralischer Natur: So redet Pons den Leuten nach dem Munde, gibt sich für Gefälligkeiten her und läßt sich demütigen. Sozusagen Beschaffungskriminalität auf hohem Niveau. Verleugnung der eigenen Meinung, Verlust der Selbstachtung, Erpreßbarkeit, all dies nimmt Pons in Kauf, um sich hin und wieder das Gastrecht zu erschleichen. Aber selbst wenn ihm das gelingt, bekommt er noch seine Abhängigkeit zu spüren, sogar noch von den Domestiken: "Wenn Madeleine beim Servieren aushalf, gab sie ihrem Opfer wenig Wein und viel Wasser und stellte ihm die schwierige Aufgabe, ein bis zum Rand gefülltes Glas zum Mund zu führen, ohne etwas zu verschütten. Oder sie vergaß, den Alten zu bedienen, und ließ sich dafür von der Präsidentin zurechtweisen (in welchem Ton?... Der Vetter errötete darob), oder sie verschüttete Sauce auf seine Kleidung."

Indes, Pons' Feinschmeckerei ist nicht nur ein Tupfer auf einem psychologischen Portrait, er ist auch ein Promotor des Romangeschehens: Von der Familie des Vetters einmal denn doch allzu sehr gedemütigt, nimmt Pons zeitweise mit der Hausmannskost vorlieb, die ihm für gutes Geld seine Concierge zubereitet. Derweil tut sich jener Vetter schwer, seine Tochter unter die Haube zu bringen; er hat zwar ansehnlichen Landbesitz, kann aber keine standesgemäße Mitgift aussetzen. Das verbietet ihm sein Gehalt als Gerichtspräsident. Als Pons, wieder ausgesöhnt, zufällig auf einen reichen Junggesellen stößt, der vor allem an Grund und Boden interessiert ist, sieht er daher seine Stunde gekommen: Er würde dem Vetter aus der Verlegenheit helfen und sich dafür ein lebenslanges Gastrecht an dessen Tafel einhandeln. Schon steht das Verlöbnis bevor. Da erfährt der Anwärter, daß seine Zukünftige ein Einzelkind ist. Aus Angst vor Verwöhntheit und Launenhaftigkeit lehnt er ab. Dieser Schlag trifft die Familie um so härter, als sie die gute Partie bereits überall herumerzählt hat. Die Affäre wird daher jetzt als eine Intrige von Pons ausgegeben, als Rache für frühere Erniedrigungen wie die gerade zitierte. Nicht nur der Zugang zur Familie, der Zugang zu sämtlichen befreundeten Häusern wird ihm nun verwehrt, ein für allemal. Auf diesen definitiven Entzug der Gastereien reagiert er mit Appetitlosigkeit und stirbt, ebenfalls passend, an einem Leberleiden. Sein Siechtum hatte sich über die Fastenzeit hingezogen.

Indirekte Folge des Entzugs war das Intrigenspiel um die Erbschaft gewesen. Es wurde zwischen der großbürgerlichen Familie und der kleinbürgerlichen Hausmeistersfrau ausgetragen. Die eine schob das Verwandtschaftsverhältnis vor, die andere die jahrelange Sorge um das leibliche Wohl von Pons. Aber auch immer mehr Helfer und Helfershelfer erhofften sich ihren Anteil. Der Löwenanteil ging schließlich just an die, die den gastronomischen Entzug einst verhängt hatten. Just bei der Totenwache wurde Geflügel serviert, das bislang noch niemals in Pons' Wohnung geflattert war, Fasan und Mastgans.

Zurück zu Pons. Er wird mit einer Welt konfrontiert, die nicht die Seine ist, mit der Welt des Bürgerkönigtums, in der – so Balzac – allein das Haben und nicht das Sein eines Menschen zählt. Hätte Pons seine Kollektion als Kapitalanlage geführt und publik gemacht, wäre er ein umworbener Mann gewesen. Vom Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert weiß er aber nichts – die romantische Unangepaßtheit des Künstlers. So weit, so gut. Seine Tragik ist es, daß ihn seine menschliche Schwäche daran hindert, sich restlos aus dieser Welt herauszuhalten, von der er nichts versteht. Als angeblicher Habenichts wird er das Opfer von Manipulationen und geht schließlich an ihnen zugrunde.

Auch auf die Darstellungsweise anderer Figuren wirkt sich seine Schwäche aus. Wie er ist sein Freund Schmucke Musiker, kulinarisch aber ahnungs- und bedürfnislos und geht einzig in der späten Freundschaft auf. Wie Pons ist ein alter Jude Sammler, aber ein mit Knoblauch eingeriebenes Stück Brot reicht ihm für den ganzen Tag, und er ist geschäftstüchtig. Indes, nicht nur um Pons gegen andere Figuren abzugrenzen, bleibt das Essensmotiv im Spiel. Einmal eingeführt, verselbständigt es sich vielmehr. Gastronomischer Systemzwang. Bei einem widerwärtigen Winkeladvokaten stinkt es nach angebrannter Milch, bei seinem Komplizen verbergen sich im Schrank Reste von verschimmelten Fleischpasteten, angeschlagene Teller und schmutzige Servietten. Die Hausmeistersfrau, sexuell noch immer attraktiv, hatte einst Austern verkauft und ihren Kunden geöffnet. Derartige Charakterisierungen können zu Eigennamen gerinnen, allen voran Pons selbst, der "Pansen". Besagte Concierge, scheinbar um das leibliche Wohl des Junggesellen bedacht, heißt Cibot, eine Kreuzung aus chipoter und lat. cibus, "knausern" und "Speise". Der ebenfalls bereits erwähnte Rechtsverdreher heißt Fraisier, "Erdbeerstrauch", und Balzac treibt sein euphemistisches Spiel noch weiter, wenn er den Strauch einmal erblühen, ein andermal seine Früchte tragen läßt. Das ist eine jener vielen Speisemetaphern, denen Angelika Böhnisch in ihrer Zulassungsarbeit von 1982 über den Roman ein ganzes Kapitel widmen konnte.

Nahrhaft, wie das Essensmotiv ist, können selbst Seitenstränge und Episoden in seinem Zeichen stehen: Eine x-beliebige Nebenfigur wird zum Sohn eines Hoteliers gemacht. Das einzige Medikament, das der Armenarzt herstellt, ist ein Abführmittel, übrigens die einzige Stelle, an der auch dieses dicke Ende der Nahrungskette zur Sprache kommt. Die Morde, die in dem Roman verübt werden, geschehen alle beide durch die Verabreichung von Gift. Der Mörder, jener Altwarenhändler, hatte sich in den Räumen eines ehemaligen Cafés eingerichtet.

Daß der Nahrungstrieb noch in ganz anderer Weise ausgenutzt und mißbraucht werden kann, als der sanfte Pons es mit sich geschehen läßt, wird an zwei Wachhunden demonstriert: durch Nahrungsentzug scharf gemacht, bringen sie einen Einbrecher um seinen Fuß. Auch von Pferden wird berichtet, die sich, durch die Verfütterung von Salz durstig gemacht, auf eine Wasserstelle stürzten und dabei einen als Kutschenunfall kaschierten Mord ausführten. Aus der Art und Weise, wie Kleopatra, eine schwarze Henne, ihre Hirsekörner aufpickt, wird die Zukunft vorhergesagt, übrigens durchaus zutreffend.

Wie diese Beispiele aus der Tierwelt nochmals gezeigt haben, ist Nahrungsaufnahme eine Grundnotwendigkeit. Im Prozeß der Zivilisation hat sie sich allerdings ausdifferenziert, nach Möglichkeiten, Bedürfnissen, Anlässen, Beteiligung, nach Brauch und Mißbrauch. Dies erkannt, vor allem aber literarisch nutzbar gemacht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst Balzacs. Essensgewohnheiten dienen ihm aber auch zur Darstellung von Personen, Situationen und Milieus. In Klassifikationen und Analogien denkend, stellt er dabei eine hochgradige Kongruenz zwischen dem einen und dem anderen her, geradezu ein deterministisches Wechselverhältnis.

Das Neuartige am vorliegenden Roman ist, daß Essen und Trinken darüber hinaus auch noch handlungsbestimmend sind. Es geht hier, genauer gesagt, um ein Bedürfnis nach Luxus; denn der blanke Hunger war Handlungsmotiv schon im traditionellen Antiroman, im Schelmenroman gewesen. Die Zeiten haben sich eben geändert. Aber das Luxusbedürfnis kann zur Sucht werden, und dann führt es in dieselbe gesellschaftliche Abhängigkeit wie einst der Hunger. Auch an der Spitze des Fortschritts bleibt der Mensch noch ein psychosomatisches Wesen. Daß der Hunger nicht endgültig aus der Welt geschafft ist, sollte Balzac wenige Monate nach der Ersterscheinung seines Romans erfahren, bei der Februarrevolution 1848. Ein letztes Mal zurück zu diesem Roman. Vom Titelhelden ausgehend, wird ein ganzes Netz gastronomischer Entsprechungen, Spiegelungen und Kontraste über den Text ausgeworfen. Man kann das Motiv von Speise und Trank dabei, wie eben geschehen, in Untermotive oder Isotopien aufgliedern. Aber auch die Gegenrechnung muß man aufmachen: Rohstoff und Herstellung sind weniger wichtig als das Resultat, desgleichen Tischordnung, Gerätschaften und räumliche Ausstattung weniger wichtig als das Menü. Das erklärt sich aus der Perspektive des Titelhelden, eines Junggesellen.

Einmal auf den Geschmack gekommen, verfeinert und komplettiert Balzac die Semantik des Essens von Textfassung zu Textfassung und von Auflage zu Auflage. Zunächst hatte der alte Jude noch nicht Knoblauch, sondern Rahm zu seinem Brot gegessen, war Pons noch nicht im Eßzimmer, sondern im Vorzimmer zusammengebrochen, hatte sich Madame Cibot noch nicht vom Huhn, sondern von der Hellseherin den Blick in die Zukunft erhofft. Neu ist in späteren Fassungen die Ausgestaltung von Kehle und Tafel zu wahren Allegorien von Verführung und Ruin. Erst spät glimmt auch die Zigarette auf, die halluzinatorische Wirkung des blauen Dunstes. Ebenfalls erst in einer späteren Version wird Madame Cibot zum Fraß ihres Rechtsanwalts. Sie selbst braut eine Sauce zusammen, in der eine Mutter ahnungslos ihr eigenes Kind verspeist hätte. Kannibalismus, diese perverseste Form des Essens, kommt aber auch schon in der Erstfassung des Romans vor: Eine gewisse Stiefmutter geriert sich wie eine Hyäne und hofft, daß Exzesse ihren Stiefsohn verschlingen. In der Art und Weise, wie die Cibot die gastronomische Abhängigkeit ihrer Kostgänger ausnutzt, wird sie – so die Dissertation von Jutta Klose – zu einer mère ogresse, zu einem weiblichen Oger. Bloße Metaphern und Allegorien, so kann man einwenden. Gewiß, aber mit diesen Metaphern und Allegorien legt Balzac einmal mehr die Atavismen frei, die nach seiner Meinung auch unter dem Firniß der Zivilisation noch lauern.

Autor:
Prof. Dr. Arnold Rothe,
Romanisches Seminar, Seminarstr. 3, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 27 31

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