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Wenn Gene schaltbar werden

Schätzungsweise einhunderttausend Gene enthalten die Informationen, die notwendig sind, um einen menschlichen Körper aus einer befruchteten Eizelle entstehen und später funktionieren zu lassen. Der kontrollierte und koordinierte Fluß der Information an die Orte, an denen sie ihre Wirkung entfaltet, ist die Voraussetzung ebenso für eine geregelte Verdauung, wie für die Fähigkeit zu lernen oder für Gefühlswallungen beim Anblick einer geliebten Person. Was sind nun die rätselhaften Funktionsanweisungen, die in den Genen gespeichert sind? In immer schnellerer Folge erfahren wir von neuen Genen, doch ihre Funktion bleibt meist im Dunkeln. Eine Strategie, die Wirkung eines Gens zu untersuchen, läuft darauf hinaus, den entsprechenden Informationsfluß zu verhindern, das heißt, das Gen "abzuschalten" und die Folgen dieses Eingriffs zu beobachten. Wie man dies bewerkstelligen kann, berichtet Hermann Bujard vom Zentrum für Molekulare Biologie, in dessen Laboratorien "Genschalter" entwickelt wurden, die vom Experimentator nach Belieben betätigt werden können.

Die Frage nach der Funktion von Genen, die früher in erster Linie die Genetiker beschäftigte, steht heute im Mittelpunkt eines großen Teils der biologischen und medizinischen Forschung. Der Grund hierfür ist einfach: Die methodischen Entwicklungen in der Molekularbiologie, der Biochemie und der Informatik ermöglichen einen Zugriff auf die genetische Information von Lebewesen, wie man sich dies bis vor wenigen Jahren kaum vorstellen konnte. Lassen Sie mich Ihnen kurz ins Gedächtnis zurückrufen, was es mit den Genen auf sich hat. In jeder Zelle eines Lebewesens fließt zu jedem Zeitpunkt genetische Information von ihrem Speicherort – eben den Genen – zu ihrem Bestimmungsort inner- oder außerhalb der Zelle. Die in den Genen enthaltene Information liefert dabei Baupläne für "Genprodukte", in der Regel Proteine, also Eiweißmoleküle, die ihrerseits alle Information enthalten, um an dem für sie vorgesehenen Ort wirksam zu werden. So enthält beispielsweise das Insulin-Gen den Bauplan für das uns allen bekannte Hormon Insulin, das, in den Blutkreislauf abgegeben, eine essentielle Rolle beim Zuckerabbau in unserem Körper spielt. Während das Insulin-Gen Ende der 70er Jahre in einer Pionierarbeit isoliert und entziffert wurde, sind heute zwischen fünf und zehn Prozent der schätzungsweise 100 000 menschlichen Gene "sequenziert" (das heißt, die schriftartig niedergelegte Information ist entziffert), und im Jahre 2005 wird neben zahlreichen Genomen einfacher Lebewesen auch die Gesamtheit aller Erbinformationen des Menschen Buchstabe für Buchstabe entziffert vorliegen.

Wir kennen also heute sehr viele Gene und möchten ihre Funktion verstehen. Die Fragestellung der Genetiker früherer Zeiten hat sich umgekehrt: Während man früher auf der Jagd nach Genen war, die bestimmte Erscheinungsformen eines Organismus bewirken, kennen wir heute eine Vielzahl von Genen sehr detailliert, deren Funktion uns ein Rätsel ist. Darüber hinaus sind uns viele Gene bekannt, die für einen bestimmten Phänotyp (Erscheinungsform) eines Organismus verantwortlich sind, wir verstehen jedoch nicht warum. Insbesondere wurden in den letzten Jahren viele für die Medizin interessante Gene identifiziert, die unter anderem verantwortlich sind für Tumorentstehung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Mukoviszidose, Alzheimersche Krankheit, um nur einige zu nennen. In allen Fällen erfüllen diese Gene im Normalzustand wichtige Funktionen im Körper. Erst durch Mutationen (Veränderungen im Erbgut) wirken sie nicht mehr "physiologisch" und werden zum Problem. Um den Zusammenhang zwischen der genetischen Veränderung und der Krankheit zu verstehen, muß man daher die Funktionsweise sowohl des unveränderten – der Genetiker spricht vom "Wildtyp" – als auch des mutierten Gens erforschen. Es gibt jedoch auch eine Fülle bekannter Gene, die vor allem aus der Sicht der Grundlagenforschung interessant sind. Hier sei nur der spannende Bereich der neurobiologischen Forschung erwähnt, in dem es inzwischen "Gen-Kandidaten" gibt, die zum Beispiel für Prozesse des Lernens und der Gedächtnisausbildung verantwortlich scheinen, worauf ich später zurückkommen werde.

Wie kann man Funktionen von Genen erforschen? Da gibt es einmal die klassische Methode: Man verändert oder zerstört ein Gen und beobachtet, was mit beziehungsweise in dem Organismus passiert. Auch hier haben Entwicklungen der letzten 25 Jahre eine Revolution in der Methodik ausgelöst. So können heute Gene im Reagenzglas gezielt verändert und in einer Weise in den jeweiligen Organismus eingebaut werden, daß sie das ursprüngliche Gen ersetzen. Dies ist inzwischen nicht nur in den klassischen Modellorganismen der Genetiker, dem Bakterium Escherichia coli oder der Bäckerhefe, möglich, sondern auch in der Maus. Die Maus ist als Säugetier wegen ihrer evolutionären Nähe zum Menschen ein besonders interessantes Modellsystem. Allerdings ist das Arbeiten mit diesem Modell sehr viel komplizierter als mit den Colibakterien. Hierfür gibt es verschiedene Gründe, von denen zwei wichtige hier genannt seien. Zum einen ist das Genom der Maus fast so komplex wie das des Menschen, zum anderen entsteht eine Maus – ebenso wie der Mensch – in einem komplizierten Entwicklungsprozeß aus einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle. Bringt man nun ein mutiertes Gen in die befruchtete Eizelle oder in ein anderes sehr frühes Stadium des sich entwickelnden Tieres, so kann der Gendefekt zum frühen Tod des Embryos führen, wenn sich die Funktion des Gens, das man untersucht, während der Embryonalentwicklung als toxisch erweist. Ebenso können komplizierte Fehlentwicklungen in dem Tier auftreten, die nur noch bedingt Rückschlüsse auf die Funktion des entsprechenden Gens zulassen.

Ein Weg, der aus diesem Dilemma führen könnte, wäre eine Vorgehensweise, die das Abrufen der Information aus dem mutierten Gen so lange verhindert, bis das Tier in dem Stadium ist – zum Beispiel erwachsen – in dem man die Genfunktion analysieren möchte. Erst dann sollte das Gen gezielt von außen aktiviert werden. Dies hieße, das Gen mit einem Schalter auszustatten, der von außen betätigt, die Information zu einem gewünschten Zeitpunkt freigibt. Ein Schaltersystem, das in dieser Weise eingesetzt werden kann, wurde vor einigen Jahren in unserem Labor entwickelt.

Um zu erklären, wie ein solcher Genschalter funktionieren kann, muß ich etwas nachholen. Der Fluß der genetischen Information innerhalb einer Zelle, von dem wir eingangs sprachen, ist natürlich streng kontrolliert. Dies kann man sich leicht klarmachen, wenn man verschiedene Zelltypen eines Organismus betrachtet, beispielsweise Leber-, Muskel- oder Nervenzellen. Sie alle enthalten die identische genetische Information – nämlich den kompletten Satz von etwa 100 000 Genen (beim Menschen) – erfüllen jedoch unterschiedliche Funktionen. Dies deutet auf eine selektive Nutzung der genetischen Information hin. In der Tat wird in jeder dieser Zellen nur ein Bruchteil der vorhandenen Information abgerufen, wobei sich das "Aktivitätsmuster" der Gene von Zelltyp zu Zelltyp unterscheidet. Ein Beispiel für die Feinregulation einer Genfunktion ist wiederum das Insulin. Es wird ausschließlich in einer kleinen spezialisierten Zellpopulation des Körpers hergestellt und seine Produktion ist stringent an den Zucker-(Glukose-)spiegel im Blut gekoppelt. Da dieser je nach Ernährungslage schwankt, verändert sich auch die Insulinproduktion entsprechend. Bei Diabetikern, welche sich von außen Insulin zuführen müssen, fehlt diese Feinregulation. Deshalb kommt es bei diesen Patienten zu ernsten Spätschäden.

Ein Genschalter ähnlich wie der des Insulin-Gens, der jedoch weder auf Glukose noch auf ein anderes körpereigenes Signal ansprechen würde, sich aber dennoch von einer harmlosen Substanz steuern ließe, wäre also das ideale Instrument, um Genfunktionen von außen nach Belieben an- oder abzustellen. Diese Vorgabe klingt einfach, sie ist es jedoch nicht. Der Grund hierfür liegt in dem Bauprinzip der Schaltsysteme, welche die Aktivität eines Gens regulieren. Ein Gen ist, wie bereits angedeutet, eine lineare Struktur, in der eine bestimmte Information schriftartig niedergelegt ist. Diese Information wird von einem Proteinkomplex abgelesen und weitergegeben, ähnlich wie ein Tonkopf aus einem Tonband Signale entnimmt und zur Umwandlung zum Beispiel in Musik weiterleitet. Doch wo muß das Ablesen beginnen, wo enden? Am Anfang und am Ende jedes Gens gibt es Signale, die dies bewerkstelligen. Vor allem die Region, die am Anfang eines Gens liegt, ist in unserem Zusammenhang wichtig: die Promotorregion. Hier wird nicht nur die Startstelle für das Ablesen markiert, hier wird bestimmt, wann abgelesen wird und wie häufig pro Zeiteinheit ein Start erfolgen soll. Um auf das Insulin-Gen zurückzukommen, bei hohem Blutzuckerspiegel wird vom Promotor des Insulin-Gens häufig gestartet, bei niedrigem selten. Vom Promotor aus wird also die Genaktivität reguliert.

Damit ein Promotor aktiv werden kann, müssen in seiner Nähe Faktoren binden, die sozusagen den "Tonkopf" in die richtige Position bringen, um den Ableseprozeß zu beginnen. Viele dieser Faktoren binden jedoch nur, nachdem bestimmte Signale von innerhalb oder außerhalb der Zelle ihnen mitteilen, daß ein bestimmtes Gen abgelesen werden soll. Wenn man sich nun vor Augen hält, daß in jeder Zelle jederzeit viele tausend Gene individuell reguliert werden müssen, erkennt man sofort, daß es nicht für jedes Gen beziehungsweise seinen Promotor eigene Faktoren geben kann. Sie würden ja ebenfalls wieder von Genen stammen, die ihrerseits reguliert werden müßten – eine nicht zu bewältigende Bürokratie! Die Natur hat dieses Problem elegant gelöst, durch Kombinatorik: Es gibt einerseits eine begrenzte Zahl von Faktoren, andererseits hat jeder Promotor einen unterschiedlichen Satz von Bindungsstellen für mehrere Faktoren. Die Spezifität eines Promotors wird also durch die Kombination dieser Bindungsstellen gewährleistet. Der Versuch, künstliche Genschalter, die hoch spezifisch einsetzbar sind, diesem Prinzip folgend zu entwickeln, hat trotz intensiver Anstrengungen bisher zu keinen sehr überzeugenden Ergebnissen geführt, da letztlich das Netzwerk der vielen Faktoren und ihrer Wechselwirkung untereinander sowie mit ihren Bindungsstellen die Beherrschung zu vieler Parameter voraussetzt.

Unser Labor hatte daher vor einiger Zeit einen anderen Weg beschritten. Vergleicht man die Schaltsysteme von weniger komplexen Lebewesen, wie beispielsweise Bakterien, mit denen von "höheren Systemen", so findet man zwar einige prinzipielle Gemeinsamkeiten, insgesamt sind sie jedoch sehr viel einfacher aufgebaut und die einzelnen Elemente unterscheiden sich deutlich von denen zum Beispiel einer Säugerzelle. Sollte es möglich sein, einen "Schaltkreis" aus einem Bakterium in eine menschliche Zelle zu verpflanzen, um dort die Aktivität von Genen zu regulieren? Die Hoffnung dabei wäre, daß die Elemente eines solchen Schaltkreises für die höhere Zelle so fremd sein würden – schließlich sind Bakterien und Säugetiere durch die Evolution seit Hunderten von Millionen Jahren getrennt – daß sie unerkannt und daher ohne Störungen zu verursachen in der menschlichen Zelle existieren könnten. Wir haben daher einige gut untersuchte Regelkreise aus Bakterien in menschliche Zellen überführt und überprüft, ob sich damit einzelne Gene spezifisch kontrollieren lassen. Den besten Erfolg hatten wir mit einem Regelkreis, der in Bakterien die Resistenz gegen das Antibiotikum Tetrazyklin reguliert. Bakterien, die sich gegen Tetrazyklin wehren wollen, benötigen das Produkt des Gens A. Die Synthese dieses Produkts ist streng kontrolliert durch einen "Repressor" (R), der zwischen dem Gen und dem Promotor (P) an einem spezifischen Ort, dem "Operator" (O), bindet. Dadurch wird das Ablesen von A verhindert. Kommt Tetrazyklin in die Zelle, wird es von dem Repressor erkannt, der es bindet und dabei gleichzeitig seine Affinität zu dem Operator verliert. Das Gen wird dadurch freigegeben. Sein Produkt vermittelt die Resistenz gegen Tetrazykline (siehe Bild Seite 26).

Mit den Elementen des Tetrazyklin-Resistenz-Regelkreises haben wir ein Schaltsystem aufgebaut und zunächst nachgewiesen, daß es in einer menschlichen Tumorzellinie funktioniert. Aus Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, wurde jedoch der bakterielle Repressor, der das Ablesen eines Gens verhindert, in einen Aktivator umgewandelt, also einen Faktor, der einen Promotor aktivieren kann. Dazu wurde der Repressor fusioniert mit der "Aktivierungsdomäne" eines der oben beschriebenen Faktoren, die Promotoren zu aktivieren vermögen. Solche Fusionen lassen sich relativ leicht herstellen, indem man entsprechende Genstücke im Reagenzglas miteinander verbindet. Das neue Hybrid-Gen enthält die Information für den "Tetrazyklin-abhängigen Transaktivator", tTA. Für diesen Aktivierungsfaktor haben wir einen speziellen Promotor konstruiert, der von keinem Faktor der Zelle erkannt werden kann und deshalb inaktiv ist. Dieser inaktive Promotor wurde mit Operatoren aus dem Tetrazyklin-Resistenz-Regelkreis fusioniert. Dadurch entstand ein hoch spezialisierter Promotor, der nur durch die Bindung von tTA an die Operatoren aktiviert wird. Allerdings bindet tTA nur in Abwesenheit, nicht aber in Anwesenheit von Tetrazyklin. Damit ist ein Schaltsystem entstanden, das auf Tetrazyklin reagiert. Mit der ersten menschlichen Tumorzellinie, die mit diesem Schaltsystem ausgestattet wurde, konnten wir zeigen, daß wir die Aktivität eines einzelnen Gens über einen 250 000fachen Bereich stufenlos regulieren können – einfach durch Veränderung der Tetrazyklinmenge in der Kulturschale. Wie empfindlich das System auf seine Signalsubstanz reagiert, zeigt sich in der Tatsache, daß bereits eine Konzentration von drei Milliardstel Gramm pro Kubikzentimeter Doxyzyklin, ein Tetrazyklinderivat, genügen, um den Promotor vollständig abzustellen. Es war also gelungen, einen Schalter zu entwickeln, der in einer Zelle spezifisch die Aktivität eines einzelnen Gens inmitten von etwa hunderttausend anderen Genen beliebig zu regulieren vermag, ohne dabei eines der anderen Gene zu beeinflussen. Wir konnten auch zeigen, daß dieses Schaltsystem nicht nur in Zellkultur, sondern auch in ganzen Organismen wie Pflanzen und Mäusen anwendbar ist, und inzwischen ist es durch Arbeiten anderer Arbeitskreise belegt, daß die "Tet-Schalter" (wir haben in der Zwischenzeit einige Varianten entwickelt) sehr breit einsetzbar sind, so auch in den wichtigen Modellorganismen Hefe und Fruchtfliege sowie in der Ratte.

Die Möglichkeit, mit Hilfe der Tet-Schalter "konditionale Mutanten" herzustellen, also Zellen oder ganze Organismen, in denen der Mutantenstatus erst durch Zugabe oder Entzug von Tetrazyklin beziehungsweise eines seiner Derivate eintritt, hat einen neuen Weg zur Analyse von Genfunktionen eröffnet. Obwohl uns dies nicht entgangen war, haben wir es auch auf andere Weise zu spüren bekommen. Über 2000 Anforderungen für unsere Schaltelemente trafen in den Monaten nach der ersten Publikation bei uns ein. Die Zahl der seither erschienenen Veröffentlichungen, in denen von den Tet-Schaltern Gebrauch gemacht wurde, läßt sich für uns nicht mehr überblicken. Einige besonders interessante Resultate möchte ich dennoch hier kurz skizzieren.

So hat die Arbeitsgruppe von Shimon Efrat am Albert Einstein College of Medicine in New York ein wohlbekanntes, tumorauslösendes Gen in transgenen Mäusen unter Tet-Kontrolle gestellt, und zwar so, daß tTA ausschließlich in den Insulin-produzierenden b-Zellen des Pankreas hergestellt wird. Gibt man diesen Tieren während der Aufzucht Tetrazyklin ins Trinkwasser, so entstehen keine Tumoren. Entfernt man jedoch das Tetrazyklin, so beginnen die b-Zellen sich tumorartig zu entwickeln: Sie teilen und vermehren sich. Man kann nun der Maus diese Zellen entnehmen und in Kultur nehmen: Sie vermehren sich weiter. Gibt man zu einer solchen Kultur Tetrazyklin, wird die Aktivität des Tumorgens abgestellt und damit die Zellteilung. Die Schale enthält jetzt ruhende b-Zellen, die alle natürlichen Eigenschaften bewahrt haben, insbesondere produzieren sie Insulin in Abhängigkeit vom Glukosegehalt im Medium. Um die Bedeutung dieses Ergebnisses einschätzen zu können, muß man wissen, daß die überwiegende Zahl der Zelltypen aus unserem Körper nicht einfach in Kultur genommen werden kann. Es sind ruhende Zellen, die keinen Anlaß haben, sich zu teilen. Daher sind die meisten Zellinien, mit denen heute gearbeitet wird, von Tumoren abgeleitet. Sie haben zwar den Vorteil, daß sie sich in vitro unbegrenzt teilen, der Nachteil jedoch ist, daß sie viele "Primäreigenschaften", die typisch für das Ursprungsgewebe sind, zum Beispiel Leber oder Niere, verloren haben und deshalb nur eingeschränkte Modelle für den jeweiligen Zelltyp sind. Mit den Tet-Schaltern und einem die Zellteilung beeinflussenden Gen gelingt es jedoch, ruhende "Primärzellen" vorübergehend zur Teilung anzuregen, ohne daß dabei die ursprünglichen Eigenschaften der Zelle verlorengehen. Dies eröffnet vielfältige neue Ansätze für die Zellbiologie.

Efrat und Mitarbeiter gingen noch einen Schritt weiter. Sie verpflanzten die in Kultur gehaltenen b-Zellen in diabetische Mäuse und konnten so die Zuckerkrankheit dieser Tiere kurieren. An einer Übertragung dieses Prinzips für die Diabetestherapie am Menschen wird in einer Schweizer Firma gearbeitet. Der Vorteil eines solchen Verfahrens wäre offensichtlich: Die b-Zellen besitzen nach wie vor die Fähigkeit, die Insulinproduktion dem Zuckerspiegel im Blut anzupassen. Bei einer Diabetes-Therapie auf dieser Basis würden daher die Langzeitschäden des heute üblichen Insulineinsatzes vermieden. Das Efrat'sche Experiment hat gezeigt, daß man sozusagen "reversible" Tumoren erzeugen kann, indem man ein Tumorgen unter die Kontrolle des Tet-Schalters setzt: Schaltet man das Gen an, teilen sich die Zellen tumorartig, schaltet man es wieder aus, hört die Teilung auf und die Zellen kehren in den ursprünglichen Zustand zurück. Für Tumoren ist jedoch irreversibles und unkontrolliertes Wachstum charakteristisch und wir wissen, daß für ihre Entstehung mehrere Genfunktionen verändert (mutiert) werden müssen. Die Gruppen von S. Efrat und L. Hennighausen haben sich deshalb die Frage gestellt, wie lange es dauert, bis das Wachstum eines über einen Tet-Schalter induzierten Tumors durch Tetrazyklin, das heißt durch Abschalten des Tumorgens, nicht mehr aufzuhalten ist. Auch dieses Experiment wurde in der transgenen Maus durchgeführt, und es zeigte sich, daß nach etwa vier Monaten der Tumor unabhängig von dem ursprünglich induzierenden Tumorgen weiterwuchs. Experimente dieser Art eröffnen nun die Möglichkeit, zu untersuchen, welche Ereignisse das irreversible Wachstum der Zelle hervorrufen.

Zum Schluß soll ein spannendes Experiment aus der Neurobiologie skizziert werden. Da einige Tetrazykline wie Doxyzyklin die Blut-Hirn-Schranke gut durchdringen – ein weiterer Vorteil dieses Schaltsystems – lassen sich auch Hirnfunktionen unter Tet-Kontrolle stellen. Mehrere Heidelberger Arbeitsgruppen, so die der Kollegen Bert Sakmann und Peter Seeburg sowie unsere eigene machen hiervon Gebrauch, um Fragen nach den molekularen Grundlagen des Lernens und der Gedächtnisausbildung nachzugehen, verständlicherweise ein hoch kompetitives Forschungsgebiet. Als ersten gelang es Eric Kandel und seinem Mitarbeiter Mark Mayford an der Columbia University in New York unter Verwendung eines geeigneten Promotors, eine Mauslinie herzustellen, die tTA sehr spezifisch im Hippocampus synthetisierte (siehe Bild Seite 27 unten). Der Hippocampus ist eine markante Hirnregion, in der wesentliche Prozesse für das Erkennen und Erinnern von räumlichen Strukturen ablaufen. Es gibt nun eine Reihe von Genfunktionen, von denen man annimmt, daß sie in diesem Prozeß eine essentielle Rolle spielen. Im Arbeitskreis von Kandel wurden nun mehrere Mauslinien hergestellt, in denen Gene unter die Kontrolle unseres tTA-abhängigen Promotors gestellt wurden (auf den dabei verwendeten Trick der negativen Dominanz dieser Gene möchte ich hier nicht eingehen). Kreuzung dieser Tiere mit Hippocampus-spezifischen tTA-Mäusen führte zu Individuen, bei denen im Hippocampus eine bestimmte Genfunktion mit Doxyzyklin reguliert werden kann. Die Frage war nun, ob räumliches Lernen und Gedächtnisausbildung bei diesen Tieren durch Doxyzyklin im Trinkwasser beeinflußt werden kann. Um dies herauszufinden, zieht man eine Gruppe von Tieren mit und eine andere Gruppe ohne Doxyzyklin im Trinkwasser auf und unterwirft sie dem sogenannten Tunneltest. Dabei setzt man jede Maus einzeln auf eine hell beleuchtete, weiße Platte, die am Rand mehrere Vertiefungen aufweist, jedoch nur einen Tunnel, in den die Maus natürlicherweise flüchten möchte. Außerdem sind neben der Platte Markierungen angebracht, die der Maus erlauben, sich räumlich zu orientieren. Nach 20 Übungen (eine pro Tag) laufen diejenigen Tiere, die Doxyzyklin im Trinkwasser bekamen, direkt auf den Tunnel zu, während die anderen trotz allen Trainings nur durch Zufall das Loch entdeckten. Gibt man den letzteren jedoch für eine Woche das Antibiotikum im Trinkwasser, so lernen sie genauso schnell wie Wildtypmäuse. Entzieht man diesen Tieren erneut das Antibiotikum, so scheinen sie das Erlernte wieder vergessen zu haben. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn wenn sie einmal mehr unter Doxyzyklin gesetzt werden, so finden sie den Tunnel ohne jede zusätzliche Trainingsstunde. Auf die Schlüsse, die hieraus gezogen werden können, und auf die Fragen, die sich neu auftun, möchte ich hier nicht eingehen, glaube jedoch, jeder kann nachempfinden, daß sich auch hier neue und interessante Perspektiven eröffnen.

Die Experimente, die ich hier beispielhaft angeführt habe, waren alle an der transgenen Maus durchgeführt, zur Zeit sicherlich das anspruchsvollste Experimentiersystem. Die Arbeiten aus verschiedenen Forschungsgruppen einschließlich unserer eigenen zeigen jedoch, daß die Tet-Schalter auch in einem solch komplexen System wie einem Säugetier hoch spezifisch eingesetzt werden können und präzise Aussagen erlauben. Es gibt jedoch eine Vielzahl anderer Verwendungsmöglichkeiten in der Grundlagen- und in der angewandten Forschung bis hin zu echten Anwendungen zum Beispiel in Fermentationsprozessen oder in der Gentherapie.

Eine Bemerkung zum Schluß. Die Schaltsysteme entstanden vor dem Hintergrund unseres rein grundlagenorientierten Interesses für molekulare Mechanismen der Genregulation in dem Bakterium E. coli. Sie waren ein fast spielerisch betriebenes Seitenprojekt, auch von Gutachtern eher belächelt und daher mit "abgezweigten" Mitteln finanziert. Selbst als die ersten überzeugenden Resultate vorlagen, gab es keinerlei Interesse von industrieller Seite in der Bundesrepublik. Heute werden die Schaltsysteme in über 80 Pharma- und Biotechunternehmen eingesetzt. Soviel zur Planbarkeit der Forschung und zur Unfähigkeit von Hochschullehrern im Technologietransfer.

Autor:
Prof. Dr. Hermann Bujard,
Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg,
Im Neuenheimer Feld 282, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 82 14

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