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Sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen

Empirische Hypothesenprüfung ohne Felsengrund. Selbst wenn eine Hypothese nur durch Rückgriff auf Verfahren geprüft werden kann, die wesentlich von dieser Hypothese abhängen, ist eine aussagekräftige Geltungsprüfung möglich – allerdings nur dann, wenn die Prüfung auf hypothetisch-deduktive Weise durchgeführt wird. Es ist möglich, eine unsichere Hypothese unter Rückgriff auf eben diese Hypothese empirisch zu erhärten. Resultat ist, daß es tatsächlich gelegentlich gelingt, das erstaunliche Kunststück des Barons von Münchhausen zu wiederholen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Martin Carrier, am Philosophischen Seminar, beschäftigt sich mit der Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen ohne Zirkelschluß.

Die erhöhte Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Lehrsätze beruht auf ihrer Bestätigung durch die Erfahrung. Wissenschaftlich relevante Erfahrung erschließt sich jedoch in aller Regel erst durch Heranziehen wissenschaftlicher Theorien. Die empirische Prüfung von Hypothesen kann daher nicht auf unerschütterlichem Felsengrund bauen; sie muß sich mit sumpfigem Gelände begnügen. Gleichwohl ist die Statik des wissenschaftlichen Lehrgebäudes hinreichend verläßlich; eine aussagekräftige Bestätigung wissenschaftlicher Hypothesen ist auch ohne archimedischen Punkt erreichbar. Ich stelle zunächst zwei grundlegende Ansätze der Bestätigungstheorie vor: Im hypothetisch-deduktiven Ansatz wird eine Hypothese durch Untersuchung ihrer empirischen Konsequenzen geprüft, nach dem sogenannten Bootstrap-Modell hingegen durch Beobachtung oder Herstellung ihrer Einzelfälle. Die Ableitung der Konsequenzen ebenso wie die Beobachtung der Einzelfälle muß dabei in aller Regel auf zusätzliche theoretische Annahmen zurückgreifen; die Prüfung erfolgt auf „theoriebeladene“ Weise. Trotz der Theoriebeladenheit ist eine Prüfung jedenfalls dann ohne spezifische Schwierigkeiten möglich, wenn die zusätzlichen Annahmen von der zu prüfenden Hypothese verschieden sind und unabhängig von dieser auf ihre Gültigkeit untersucht werden können. Hier wird jedoch die weitergehende These vertreten, daß diese Unabhängigkeit zwar hinreichend, aber nicht notwendig für zirkelfreie Prüfbarkeit ist. Selbst wenn eine Hypothese nur durch Rückgriff auf Verfahren geprüft werden kann, die wesentlich von dieser Hypothese abhängen, ist eine aussagekräftige Geltungsprüfung möglich – allerdings nur dann, wenn die Prüfung auf hypothetisch-deduktive Weise durchgeführt wird. Es ist möglich, eine unsichere Hypothese unter Rückgriff auf eben diese Hypothese empirisch zu erhärten. Resultat ist, daß es tatsächlich gelegentlich gelingt, das erstaunliche Kunststück des Barons von Münchhausen zu wiederholen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Die hypothetisch-deduktive Prüfung einer nicht durch Augenschein umfassend prüfbaren Hypothese erfolgt durch Ableitung von empirisch zugänglichen Konsequenzen aus dieser Hypothese. Es wird untersucht, ob sich diese Konsequenzen tatsächlich bewahrheiten. Ein Beispiel ist die Hypothese: „Licht ist eine elektromagnetische Welle“, deren Geltung offenbar nicht durch den bloßen aufmerksamen Blick in die Welt untersucht werden kann. Der Begriff der „Lichtwelle“ ist wesentlich durch die zugehörige Theorie bestimmt und keiner noch so aufmerksamen Betrachtung der optischen Erscheinungen zu entnehmen. Wenn man angestrengt in die Sonne starrt, kann man keinen Aufschluß über das Wellenlängenspektrum des Sonnenlichts erhoffen, sondern trägt höchstens einen Augenschaden davon. Demnach kommt nur eine indirekte Prüfung in Frage. Dazu unterstellt man hypothetisch die Gültigkeit der theoretischen Annahme und untersucht deduktiv, welche Folgen sich für empirisch zugängliche Phänomene ergäben. So werden etwa aus der Wellenhypothese empirische Regularitäten für optische Phänomene wie Beugung, Brechung oder Polarisation deduziert. Finden sich diese Beobachtungskonsequenzen in der Erfahrung, so gilt die zugrundeliegende theoretische Annahme als bestätigt (P. Duhem, 1906).

Dagegen besteht nach dem von Clark Glymour (nach wesentlichen Vorarbeiten von Carl G. Hempel) formulierten Bootstrap-Modell der Kern empirischer Bestätigung darin, daß die Daten Einzelfälle theoretischer Behauptungen bereitstellen. Ein Einzelfall – eine „Instantiierung“ – liegt vor, wenn alle Größen in der Hypothese definite Werte annehmen. Bei quantitativen Hypothesen besagt dies, daß alle Variablen anhand von Beobachtungen numerisch bestimmt sind. So liegt ein Einzelfall des Ohmschen Gesetzes vor, wenn für einen konkreten Stromkreis gemessene Werte für Widerstand, Stromstärke und Spannung eingesetzt werden. Dieser Einzelfall ist positiv, wenn die Werte der im Gesetz ausgedrückten Annahme genügen; er ist negativ, wenn die Werte der Annahme zuwiderlaufen. Das Bootstrap-Modell sieht vor, daß Hypothesen durch ihre positiven Einzelfälle bestätigt und durch ihre negativen diskreditiert werden. Im einzelnen ist dabei notwendig für die Bestätigung einer Hypothese, daß (1) alle ihre Größen durch die Daten unter möglichem Rückgriff auf weitere Hypothesen eindeutig fixiert sind und sich die Werte im Einklang mit der Hypothese befinden (Bestimmtheit), und daß es (2) nicht logisch ausgeschlossen ist, daß sich für die Größen andere Werte derart ergeben hätten, daß ein negativer Einzelfall statt eines positiven vorliegt oder umgekehrt (Fehlschlagsrisiko) (C. Glymour 1980).

Beide Ansätze zur Rekonstruktion empirischer Prüfungen tragen dabei dem Umstand Rechnung, daß solche Prüfungen stets vor einem theoretischen Hintergrund erfolgen. Im angegebenen optischen Beispiel ist für den Aufweis von Beobachtungskonsequenzen der Wellenhypothese ebenso wie für die Realisierung von Einzelfällen der Rückgriff auf Gesetzmäßigkeiten der Wellenausbreitung (also auf Teile des Hintergrundwissens), auf Annahmen über die Wechselwirkung von Licht und Materie (also auf Hilfshypothesen) und schließlich auf die Funktionsweise der herangezogenen Meßinstrumente (also auf Beobachtungstheorien) erforderlich. Die Berücksichtigung der Beobachtungstheorien trägt dabei dem Umstand Rechnung, daß sich aussagekräftige Daten nur mit Meßgeräten gewinnen lassen, deren Bau und Betrieb ihrerseits die Verfügbarkeit von Theorien voraussetzen. Einzelfälle der Wellenhypothese ergeben sich etwa durch Angabe der Wellenlängenspektren besonderer Lichtquellen, deren Ermittlung wesentlich auf Meßgeräte zurückgreift, deren Angemessenheit und Zuverlässigkeit wiederum auf Theorien beruhen.

Sumpfiges Gelände für die empirische Prüfung

In beiden Ansätzen wird also die Prüfung von Hypothesen nicht als Vergleich theoretischer Ansprüche mit dem Felsengrund vortheoretischer Erfahrungen aufgefaßt. Eher handelt es sich um einen Vergleich zwischen verschiedenen Hypothesen. Die Korrespondenz zwischen theoretischem Anspruch und Wirklichkeit stellt sich demnach in gewissem Maße als Kohärenz zwischen verschiedenen theoretischen Hypothesen dar. Dadurch wird das Bedenken aufgeworfen, daß der empirischen Prüfung von Hypothesen eine Zirkularität innewohnt, die eine aussagekräftige Beurteilung ihrer Gültigkeit ausschließt. Dieses Bedenken wird üblicherweise durch die Forderung ausgeräumt, daß die im Prüfungsprozeß herangezogenen theoretischen Annahmen und die geprüfte Hypothese voneinander unabhängig sein müssen. Konkret wird verlangt, daß die Hilfsannahmen auch in solchen Zusammenhängen überprüfbar sind, in denen die betreffen-de erklärende Hypothese keine Rolle spielt. Diese Unabhängigkeit ermöglicht die aussagekräftige Prüfung von Hypothesen durch theoriebeladene Daten.

Diese Unabhängigkeitsbedingung bringt zum Ausdruck, daß Hypothesen nicht in die für ihre Geltungsprüfung herangezogenen Verfahren Eingang finden dürfen. Diese Bedingung ist zunächst durchaus plausibel; ihre Verletzung scheint eine aussagekräftige Prüfung auszuschließen. Zur Verdeutlichung sei der Extremfall ins Auge gefaßt, in dem ein bestimmtes Gesetz benutzt wird, um die Messung einer Größe aus eben diesem Gesetz zu bewerkstelligen. Es sei unterstellt, daß das Gesetz auch die einzige verfügbare Grundlage der Messung dieser Größe bereitstellt. Das Gesetz ist damit notwendig und hinreichend für die Ermittlung der Ausprägung einer der in ihm enthaltenen Größen. Es ist notwendig und hinreichend für die Realisierung von Einzelfällen dieses Gesetzes.

In schematischer Ausdrucksweise geht es dabei etwa um ein Gesetz G der Art Z = X·Y, wobei allein Z einer unabhängigen Messung zugänglich ist. Werte für die Größen X und Y können demgegenüber allein durch Rückgriff auf G selbst ermittelt werden. Man hätte also Y als Z:X und X als Z:Y zu bestimmen. Man zieht demnach G heran, um eine empirische Bestimmung von Größen in G durchzuführen, wobei G auch die einzige Möglichkeit einer solchen Wertebestimmung darstellt. Unter diesen Umständen werden zwei theoretische Größen durch ein einziges Gesetz bestimmt, woraus sich eine wechselseitige Abhängigkeit der jeweiligen Wertezuordnungen ergibt. Die Folge ist, daß jede Größe nur ermittelt werden kann, wenn die jeweils andere bekannt ist. Wenn man X unter Rückgriff auf G bestimmen will, muß Y bereits ein Wert zugeordnet sein. Umgekehrt erfordert jede Wertebestimmung für Y, daß bereits ein Wert für X vorliegt. Die wechselseitige Abhängigkeit der Wertezuschreibungen äußert sich also als Zirkularität, die jedes Fehlschlagsrisiko bei der Bestimmung der beteiligten Größen ausschließt. Jede dieser Größen kann nach Belieben festgesetzt werden. Wenn die andere entsprechend angepaßt wird, kann niemals ein Konflikt mit der Erfahrung auftreten (Carrier 1994, 39-40).

Das Beispiel von Daltons Atomtheorie

Die Verletzung der Unabhängigkeitsbedingung scheint daher in der Tat eine aussagekräftige Prüfung auszuschließen, so daß diese Bedingung notwendig für Prüfbarkeit zu sein scheint. Dieser Befund wird durch das Bootstrap-Modell reproduziert. Unter den angegebenen Umständen erlauben nämlich die Daten keine eindeutige, einem Fehlschlagsrisiko unterworfene Wertebestimmung der beteiligten Größen. Gesetze, die eine wechselseitige Abhängigkeit zweier Größen beinhalten, sind demnach nicht Bootstrap-prüfbar.

Diese Konsequenz des Bootstrap-Modells ist inadäquat. Meine Behauptung ist, daß es wissenschaftlich signifikante Hypothesen mit wechselseitigen Abhängigkeiten gibt, deren empirische Prüfung (bei geringfügig verstärkten Zusatzbedingungen) tatsächlich ohne Zirkel möglich ist und unter Verletzung der Unabhängigkeitsbedingung erfolgt. Diese Bedingung ist daher nur hinreichend, nicht auch notwendig für die Vermeidung von Prüfzirkeln. Eine zirkelfreie Prüfung derartiger Hypothesen gelingt allerdings nicht durch Realisierung von Einzelfällen, sondern nur hypothetisch-deduktiv, also durch die Ableitung charakteristischer Beobachtungskonsequenzen. Kennzeichnend dabei ist, daß auch eine erfolgreiche Prüfung dieser Art immer noch keine eindeutige Realisierung von Einzelfällen erlaubt. Eine solche Prüfung ist daher unabhängig von Einzelfallrealisierungen der Hypothese; sie besitzt eine „nicht-instantiative“ Beschaffenheit. Ich stelle die Charakteristika dieser Vorgehensweise an einem Beispiel vor, nämlich an dem Problem der empirischen Bestimmung von Atomgewichten im Rahmen von Daltons Atomtheorie.

Die von John Dalton 1808 veröffentlichte Atomtheorie gründete auf der Annahme, daß chemische Verbindungen aus einer jeweils kleinen Zahl elementarer Korpuskel gebildet werden und daß diese Atome ein jeweils charakteristisches Gewicht besitzen. Damit stellte sich das Forschungsproblem, diese Atomgewichte empirisch zu bestimmen, und der von Dalton hierfür ins Auge gefaßte Weg führte über die Messung der Reaktionsgewichte.

Zwei Elemente A und B mögen miteinander reagieren und dabei ein Molekül der Form AB bilden. Angenommen, 1g A reagiert mit 6g B, so daß die unterstellte Reaktionsgleichung die Form annimmt: 1g A + 6g B -> 7g AB. Daraus läßt sich schließen, daß in einem Gramm der Substanz A genauso viele Atome enthalten sind wie in sechs Gramm der Substanz B. Dies wiederum erlaubt den Schluß, daß das Atomgewicht von B 6mal so groß ist wie das Atomgewicht von A. Wird letzteres als Einheit genommen, so ergibt sich das Atomgewicht B = 6.

Allerdings greift der Schluß von den Reaktionsgewichten auf die Atomgewichte auf die Molekularformel zurück. Angenommen, die Molekularformel des Reaktionsprodukts sei nicht AB, sondern AB2. In diesem Fall ergäbe sich das gemessene Reaktionsgewicht von B durch eine doppelt so große Zahl von B-Atomen wie zuvor unterstellt, so daß das Gewicht jedes einzelnen B-Atoms nur halb so groß wäre. Die gleichen Reaktionsgewichte führten also auf das Atomgewicht B = 3. Ohne die Kenntnis der Molekularformeln sind die Atomgewichte demnach nicht eindeutig aus den Reaktionsgewichten erschließbar. Aber der seinerzeit einzige Weg zu den Molekularformeln führte über die Atomgewichte. Wenn man weiß, daß das Atomgewicht von B = 3 ist, und wenn dann 6g B mit 1g A reagieren (das als Einheit dient), dann ist auch bekannt, daß die Molekularformel AB2 ist.

Theoriebeladene Prüfung

Das Problem besteht darin, daß zwei Arten von theoretischen Größen auftreten, nämlich das Atomgewicht und die Molekularformel, daß aber nur eine Art von Daten verfügbar ist, nämlich das Reaktionsgewicht. Dalton nahm an, daß das Reaktionsgewicht um so größer ist, je schwerer das betreffende Atom ist, und je mehr solcher Atome in ein Molekül eingehen. Diese Annahme wird durch Daltons Fundamentalhypothese wiedergegeben: Das Reaktionsgewicht einer Substanz A ist proportional zum Produkt des Atomgewichts von A mit der Zahl von A-Atomen in dem in der entsprechenden Reaktion gebildeten Molekül. Diese Anzahl wird durch die Molekularformel ausgedrückt. Der springende Punkt ist, daß auf diese Weise eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Wertebestimmungen für Atomgewichte und Molekularformeln eingeführt wird. Die Sachlage entspricht damit genau der für das fiktive Gesetz G beschriebenen Situation: Es sind jeweils mehrere, unterschiedliche Werte für die beiden theoretischen Größen gleichermaßen imstande, den Daten Rechnung zu tragen. Diese Eigenart schließt die eindeutige empirische Ermittlung einer der beiden beteiligten Größen aus, macht damit insbesondere die Messung von Atomgewichten unmöglich und verhindert folglich dem Anschein nach auch die empirische Prüfung der Atomtheorie.

Erfolgreiche Prüfung ohne Zirkelschluß

Tatsächlich ist jedoch eine Prüfung der Fundamentalhypothese ohne Realisierung von Einzelfällen möglich. Eine solche Prüfung stützt sich auf das Gesetz der multiplen Proportionen. Dieses Gesetz besagt, daß bei mehreren Verbindungen der gleichen Elemente A und B, also bei Verbindungen der Art: AB, AB2, AB3 etc., die Reaktionsgewichte in einem Verhältnis kleiner ganzer Zahlen stehen. Dieses Gesetz ist in der Tat eine direkte Konsequenz von Daltons Atomtheorie; es folgt aus der Annahme, daß das Gewicht eine Größe ist, die für die Atome eines bestimmten Elements kennzeichnend ist. Danach besitzen Atome des gleichen Elements gleiches Gewicht, Atome unterschiedlicher Elemente hingegen unterschiedliches Gewicht. Dalton selbst wies bereits darauf hin, daß das Reaktionsgewicht von Sauerstoff im Kohlendioxid (CO2) genau das Doppelte dieses Gewichts im Kohlenmonoxid (CO) beträgt, und daß das gleiche für das Reaktionsgewicht des Wasserstoffs im Methan (CH4 ) und im Äthylen (CH2) gilt.

Bei der Ableitung der multiplen Proportionen legte Dalton neben der Fundamentalhypothese insbesondere die Annahme zugrunde, daß das Atomgewicht des gleichen Elements in unterschiedlichen Verbindungen gleich ist. Das Atomgewicht von A ist unabhängig davon, ob A eine Verbindung der Art AB oder AB2 eingeht. Aus der Fundamentalhypothese zusammen mit dieser Invarianzbedingung folgt das Gesetz der multiplen Proportionen. Es bezieht sich allein auf Reaktionsgewichte und enthält nicht mehr die Atomgewichte. Diese Vorgehensweise läuft darauf hinaus, aus der Fundamentalhypothese mit ihrer problematischen wechselseitigen Abhängigkeit unter Rückgriff auf eine Invarianzbedingung eine Konsequenz abzuleiten, die wesentlich auf der Fundamentalhypothese beruht und insofern für diese charakteristisch ist, die aber keine Prüfzirkularität mehr enthält und daher selbst ohne Schwierigkeiten empirisch prüfbar ist.

Hervorzuheben ist, daß auch auf der Grundlage dieser erfolgreichen Prüfung immer noch keine eindeutigen Werte für einzelne Atomgewichte angebbar sind. Ohne Kenntnis der Molekularformel läßt sich nämlich nicht ausschließen, daß die Verhältnisse der Reaktionsgewichte jeweils ein Vielfaches des zugehörigen Atomgewichts anzeigen statt dieses Atomgewicht selbst. Diese Möglichkeit ist gerade im angegebenen Methan-Äthylen-Beispiel realisiert. Die Meßzirkularität der grundlegenden Hypothese ist also keineswegs beseitigt; allein ihre Bedrohlichkeit wird durch das skizzierte Verfahren eingegrenzt.

Das angegebene Verfahren stellt eine Option für die Prüfung einer Hypothese ohne Realisierung von Einzelfällen dieser Hypothese dar; es handelt sich um eine nicht-instantiative Prüfmethode. Der Kern der Strategie zur empirischen Prüfung von Hypothesen, die eine wechselseitige Abhängigkeit zweier Größen beinhalten, besteht darin, aus der fraglichen Hypothese zusammen mit einer Zwangsbedingung (im atomtheoretischen Beispiel die unterstellte Invarianz des Atomgewichts) eine Beziehung herzuleiten, die die problematischen Größen nicht mehr enthält. In dieser abgeleiteten Beziehung (dem Gesetz der multiplen Proportionen) treten nur noch Reaktionsgewichte auf; sie kann daher ohne Schwierigkeiten empirisch geprüft werden. Da ihre Herleitbarkeit zudem entscheidend von den Prinzipien der Atomtheorie abhängt, stellt ihr empirischer Aufweis eine aussagekräftige Bestätigung dieser Prinzipien dar.

Die skizzierte Zugangsweise ist wesentlich hypothetisch-deduktiv orientiert. Sie beruht auf der Ableitung von Beobachtungskonsequenzen, nicht auf der Realisierung von Einzelfällen. Der Erfolg dieser nicht-instantiativen Strategie verweist auf die Möglichkeit der empirischen Bestätigung von Gesetzen ohne Ermittlung von Werten für sämtliche beteiligten Größen. Da es aber die Wertebestimmungen sind, die bei Hypothesen mit wechselseitigen Abhängigkeiten Schwierigkeiten aufwerfen, werden diese Prüfprobleme durch eine nicht-instantiative Zugangsweise vermieden. Man kann empirische Gründe für oder gegen ein Gesetz erhalten, ohne dazu explizite Werte für alle Größen in diesem Gesetz angeben zu müssen.

Allerdings ist die Prüfzirkularität isolierter Gesetze mit wechselseitigen Abhängigkeiten in der Tat fatal. Wenn allein eine derartige Hypothese vorliegt (wie das Gesetz G im angegebenen schematischen Beispiel), entsteht eine unaufhebbare Prüfzirkularität. In den wissenschaftlich signifikanten Fällen dieser Art ist die Hypothese jedoch in einen theoretischen Zusammenhang eingebunden, der eine Verknüpfung zwischen verschiedenen Anwendungsfällen der fraglichen Hypothese herstellt. Ein solcher Zusammenhang drückt sich typischerweise in einer Invarianzbedingung für eine der beteiligten Größen aus. Auf dieser Grundlage ist dann eine nicht-instantiative Prüfung der Hypothese möglich.

Charakteristisch für diese Vorgehensweise ist dabei, daß eine derart geprüfte Hypothese immer noch keine Wertebestimmungen der beteiligten Größen zuläßt. Die nicht-instantiativ geprüfte Atomtheorie erlaubt immer noch keine Einzelfallrealisierung, also keine eindeutige Ermittlung der Atomgewichte aus den Reaktionsgewichten. Nicht-instantiative Prüfungen laufen demnach nicht auf die triviale Auflösung von wechselseitigen Abhängigkeiten durch Heranziehen eines weiteren Gesetzes zur Bestimmung einer der beiden Größen hinaus. Eine solche triviale Auflösung bestünde darin, daß man im Daltonschen Beispiel entweder das Atomgewicht oder die Molekularformel ohne Rückgriff auf die Fundamentalhypothese, also durch zusätzliche, unabhängige Verfahren bestimmt. Der Vorzug der nicht-instantiativen Strategie besteht darin, daß die Neutralisierung der Zirkularität eine logisch schwächere Hilfsannahme erfordert. Eine Invarianzbedingung drückt eine weniger starke Behauptung aus als ein zweites, unabhängiges Gesetz. Die Zirkelneutralisierung verläßt sich stärker auf die Möglichkeiten, die die ursprüngliche Hypothese selbst eröffnet.

Zwei Arten von theoretischen Hypothesen

Der Schluß ist, daß auch bei Verletzung der Unabhängigkeitsbedingung eine empirische Prüfung möglich ist. Selbst wenn die zu prüfende Hypothese in die Gewinnung der einschlägigen Daten eingeht, treten nicht zwangsläufig Prüfzirkularitäten auf. Zwar ergeben sich charakteristische Prüfprobleme, aber diese sind durch geeignete Prüfverfahren lösbar. Diese Verfahren operieren auf hypothetisch-deduktiver Grundlage und beinhalten keine Einzelfallrealisierung. Ergebnis ist, daß es in der Tat gelingen kann, eine unsichere Hypothese unter Rückgriff auf eben diese Hypothese empirisch zu erhärten, was die eingangs erwähnte Annäherung an die Kunstfertigkeit des Barons von Münchhausen darstellt.

Wenn aber Prüfzirkel vermieden werden können, dann stellt es sogar einen methodologischen Vorzug dar, wenn die fragliche Hypothese in die für ihre eigene Überprüfung einschlägigen Verfahren eingeht. Unter diesen Umständen sinkt nämlich ceteris paribus die Zahl zusätzlich benötigter, unabhängiger Hilfshypothesen zur Ableitung von Beobachtungsbefunden ab. Wenn eine Hypothese als Hilfshypothese bei ihrer eigenen Prüfung zu operieren vermag, dann ist der Tendenz nach ein weniger ausgreifender Rückgriff auf unabhängige Annahmen erforderlich. Diese Zugangsweise stellt daher eine Option für eine begrifflich sparsamere Umsetzung einer empirischen Prüfung dar. Und ein Ansatz zur Einsparung ohne schädliche Nebenwirkungen ist in den gegenwärtigen Zeiten sicher nicht ohne Relevanz.

Autor:
Prof. Dr. Martin Carrier
Philosophisches Seminar, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 22 84

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