Siegel der Universität Heidelberg
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"Zeig' mir mal die Zunge"

An wohl keinem Hygiene-Institut in Deutschland ist das Fach Tropenhygiene und öffentliches Gesundheitswesen so präsent wie in Heidelberg. Seit 33 Jahren widmet sich Hans Jochen Diesfeld der Gesundheitsproblematik in Entwicklungsländern. Seit 1976 leitet er die Abteilung Tropenhygiene. Er war federführend bei der Etablierung eines neuen Postgraduierten-Studiengangs. Claudia Wassmann sprach mit ihm.

"Community Health in Developing Countries", ein "Master of Science"-Abschluß, den es in Deutschland vorher nicht gab, wie ist er entstanden?

An der Abteilung für Tropenhygiene haben wir von Anfang an den Schwerpunkt auf Ausbildung und Lehre gelegt. Seit 1974 läuft hier zweimal jährlich ein Programm, daß deutsche Entwicklungshelfer mit den Problemen der Gesundheitsversorgung und den Prioritäten in Entwicklungsländern vertraut macht, bevor sie an ihren Einsatzort reisen. Anfang der achtziger Jahre haben wir mit Unterstützung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung zusätzlich ein Programm entwickelt, speziell für Absolventen des deutschen Medizinstudiums aus Entwicklungsländern, denn sie haben ebenfalls Lücken bezüglich der Gesundheitsproblematik in der dritten Welt. Diese langjährige Erfahrung ist in einen Master's Kurs eingeflossen, wie er in Europa an mehreren Stellen existiert. Vorher mußten Deutsche nach England, Belgien, Holland oder in die USA reisen, um einen solchen Kurs zu absolvieren. Da haben wir uns gedacht, das können wir auch hier in Heidelberg anbieten. Wir haben dann unseren Schwerpunkt, nämlich die gemeindeorientierte Gesundheitsversorgung, in den Mittelpunkt gestellt und einen einjährigen Master's-Kurs in englischer Sprache entwickelt, der international konkurrenzfähig ist - wiederum mit Unterstützung der Bund-Länder-Kommission, die das Vorhaben von 1988 bis 1993 im Rahmen eines Modellversuchs förderte. Als die Förderung auslief, übernahm die Universität dankenswerterweise das Programm, was insofern nicht selbstverständlich war, als es sich um einen Hochschulabschluß handelt, der in Deutschland bis dato nicht existierte, ein "Master of Science", und für das Prüfungsverfahren in englischer Sprache mit externen Prüfern eine Sondergenehmigung des Ministeriums erforderlich war.

Was können Fachleute bei Ihnen lernen?

Unser Kurs ist für Fachleute aus dem Gesundheitswesen konzipiert. Die Teilnehmer kommen etwa zu zwei Fünfteln aus Afrika und je zu einem Fünftel aus Asien, Europa und Lateinamerika. Es handelt sich um einen Postgraduierten-Studiengang, der auf der spezifischen Berufserfahrung der Teilnehmer aufbaut.


Teilnehmer des Master´s-Kurses 1996 in Heidelberg

Er richtet sich zum Beispiel an deutsche Entwicklungshelfer, die mindestens zwei Jahre im öffentlichen Gesundheitswesen eines Drittweltlandes im Einsatz waren, oder an Fachleute aus den Entwicklungsländern selbst, die zumindest in den letzten drei bis fünf Jahren eine Position im öffentlichen Gesundheitswesen bekleidet haben müssen, um ein DAAD-Stipendium zu erhalten. Voraussetzungen sind außerdem ein Hochschulabschluß und gute Englischkenntnisse. Partizipatorisches, teilnehmer- und problemorientiertes Lernen bildet den Kern der Veranstaltungen. Stellen Sie sich vor, 20 Fachleute aus 15 Ländern diskutieren gemeinsam ein Problem der Gesundheitsversorgung. Asiaten vermitteln ihre Kenntnisse den Afrikanern und umgekehrt. Die Diskussion stellt eine ganz wichtige Quelle der Erkenntnis für alle Beteiligten dar. Man stellt plötzlich fest, daß man ein große Zahl von Problemen gemeinsam hat, aber auch Unterschiede in der Sichtweise werden deutlich. Wir strukturieren die Diskussion, geben den spezifischen Input, aber wir erwarten auch, daß die Teilnehmer ihr Wissen einbringen. Deshalb legen wir Wert darauf, daß die Kurse interdisziplinär zusammengesetzt sind, also nicht nur Mediziner, sondern auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Pädagogen, Volkswirte und Pflegeberufe vertreten sind, sofern sie über einen Hochschulabschluß verfügen.

 

Der Kurs ist in vier Module gegliedert, die systematisch aufeinander aufbauen, gefolgt von einer zweimonatigen Feldforschungsphase in einem Entwicklungsland. Wir beginnen mit der Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitstechniken, die zur Bearbeitung epidemiologischer, quantitativer, anthropologischer und soziologischer Fragestellungen nötig sind. Anschließend lernen die Teilnehmer, systematisch das Gesundheitssystem eines Landes zu analysieren und Gesundheitsprobleme zu definieren. Wir vermitteln Kommunikationstechniken, "communication skills", denn Kommunikationsbarrieren sind ein häufiger Grund für Fehlfunktionen im Gesundheitswesen. Danach beschäftigen wir uns mit dem "health management" - Organisationsstruktur von Gesundheitsdiensten, Verwaltung, Finanzierungsfragen. Daran schließt die zweimonatige Praxisphase an, während der die Teilnehmer eine Fragestellung bearbeiten, die wir in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsministerien und Universitäten vor Ort oder mit der GTZ entwickeln. Themen sind zum Beispiel: Wie ist die Nutzung von Gesundheitsdiensten? Wie ist die Sexualkundeaufklärung in Schulen zu Fragen von AIDS oder wie ist die Perzeption der angebotenen Gesundheitsprogramme durch die Bevölkerung? Das ist der Inhalt der Abschlußarbeit.

Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrem Kurs?

Wir versuchen, das Gesundheitssystem durch das Auge der Bevölkerung zu sehen, es im Spiegel der Bevölkerung zu analysieren, während andere Kurse das System als solches analysieren. Gesundheitsberufe neigen dazu zu sagen, "Ich weiß schon, was dir fehlt, zeig' mir mal die Zunge", und das ist genau das, was dann oft in die falsche Richtung führt. Wir fragen hingegen die Leute selbst, wo sie das Problem sehen, das ist unser Markenzeichen. Wir untersuchen die Qualität von Kommunikationsbarrieren. Das verstehen wir unter Gesundheitssystemforschung. Wir wollen sehen, an welchen Stellen es Verständigungsprobleme gibt, wo wir unsere Patienten verlieren. Wenn man normalerweise von Krankheitskosten spricht, sind immer die Kosten gemeint, die die Anbieter von Diensten haben. Wir fragen auch, was kosten Gesundheit und Krankheit die Bevölkerung, den Einzelnen? Welche Vorleistungen muß der Nutzer privat erbringen, um überhaupt den Dienst zu erreichen, angefangen vom Busticket bis hin zu Schmiergeldern. Was kostet die Abwesenheit der Mutter oder des Vaters von zu Hause? Wer versorgt die Kinder? Wer bestellt die Felder? Wenn man das alles zusammennimmt, stellt man fest, daß die wichtigste Kommunikationsbarriere die Qualität der angebotenen Dienste ist. Die Patienten entscheiden ganz klar, für diese Qualität nehme ich auch Opfer auf mich und für jene bleibe ich lieber zu Hause. Ob ein Dienst genutzt wird oder nicht, da spielen viele Variablen hinein. Enfernungen, Kulturbarrieren, aber auch Barrieren menschlicher Beziehungen, wo Patienten sagen, "also da gehe ich nicht mehr hin. Da werde ich so schamlos behandelt, bloß weil ich aus dem Busch komme." Die Arroganz des medizinischen Personals, gerade auch der Krankenpfleger, ist manchmal ein abstoßender Faktor. Ein anderer Punkt ist das Management. Man bestellt Leute zur Impfsprechstunde und dann ist kein Impfstoff da. Das nächste Mal kommen sie nicht mehr. Es hat auch keinen Sinn, eine Riesenpropaganda und Gesundheitserziehung zu machen, nur weil ich glaube, die Leute verstehen nicht, was ich Ihnen zu sagen habe, wenn ich mich andererseits nicht vorher überzeugt habe, ob meine Kühlkette, mit der ich die Impfstoffe transportiere, auch funktioniert. Diese Erkenntnisse bekommt man aber nur, wenn man fragt, wie die Bevölkerung die Dienste sieht. Den Blick für diese Art von Problemen wollen wir in unserem Kurs schärfen. Die Evaluierung des späteren Berufswegs von über 100 Absolventen hat gezeigt, daß sie ihr eigenes Gesundheitssystem anschließend kritischer bewerten und mehr Verantwortung übernehmen können.

Anfangs hat man sich von der Entwicklungshilfe doch schnellere Erfolge erhofft. Sind Sie enttäuscht?

Ja, nach dreißig Berufsjahren muß ich sagen, ich bin enttäuscht. Als ich 1963 als Internist in Äthiopien anfing, da hatten wir natürlich Hoffnungen auf eine Entwicklungspolitik. In den 70er, 80er Jahren sind viele gute Ideen entwickelt worden, das Konzept von "primary health care" zum Beispiel, die übergreifende Betrachtungsweise von Gesundheitsproblemen: Bildung, Ernährung, Wasser, Abwasser tragen zur Gesundheit bei. Gesundheit ist ein politisches Gut, die Medizin ist nur ein Aspekt. Dann sind die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Entwicklungsländer immer schlechter geworden. Und es hat natürlich auch massiven Widerstand gegeben, denn Veränderungen gehen ja auch an den Speck von althergebrachten Privilegien, denken Sie nur an die Pharmaindustrie. 1989/90 hatte man dann an eine Friedensdividende geglaubt, doch die politische Situation in Afrika ist instabiler denn je. Mit den ökonomischen Rahmenbedingungen zieht man den Leuten den Stuhl unter dem Hintern weg, und dann heißt es, "Ihr mit Eurem komischen Konzept." Wenn die Weltbank hustet, zittern alle Gesundheitsminister und fragen sich, was kommt jetzt wieder? Das ist auch eine Erkenntnis, die man bekommt, daß der Gesundheitsbereich, den wir so wichtig nehmen, politisch ein überhaupt nicht wichtig genommener Bereich ist.

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