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Schmerzfreie Testpersonen

Dummies, die an Stelle des Menschen den Crash erproben, im Dienste der Sicherheit im Fahrzeugbau zum Beispiel, müssen auf den Aufprall auch "reagieren" wie ein Mensch. Sie zu konstruieren, ist eine Wissenschaft für sich, Medizin und Ingenieurwissenschaften gehen dabei Hand in Hand. Fuhr anfänglich noch ein Sandsack stellvertretend für den Fahrer, so ist es heute eine Puppe mit Menschenmaß, nicht nur was Körpergröße und Gewicht betrifft, sondern auch Bewegungsweisen und Winkel der Gelenke oder die physiologischen Eigenschaften verschiedener Gewebe. Am Institut für Rechtsmedizin erforschen Rainer Mattern, Florian Schüler und Dimitros Kallieris, wie man das dynamische Antwortverhalten von Dummies mit möglichst hoher Realitätsnähe sicherstellt, um daraus verläßliche Voraussagen über das Verletzungsrisiko beim Menschen machen zu können.

Das trockene Verformungsgeräusch von Blechstrukturen, vermischt mit dem Klirren von Glas und dem Entfaltungsknall von Airbags, zieht die Blicke von Augenzeugen auf sich: Ein Mittelklasse-Pkw ist soeben mit 55 km/h frontal gegen eine Betonmauer geprallt - Ergebnis: Totalschaden. Wie wird es den Insassen ergangen sein?

Kurz nach dem Ereignis sind es nicht Notärzte und Rettungssanitäter, die am Ort des Geschehens ihr Können einsetzen, sondern Ingenieure und Techniker. In diesem Fall gab es keine Verletzten, nur Meßwerte von Dummies. Diese anthropomorphen Puppen verharren nach dem Kollisionstest in scheinbar zwanghafter Haltung - wie eingefroren - auf ihren Plätzen. Gründe für solche über 100000 Mark teuren Kollisionsversuche unter Einsatz von Dummies und hochkarätiger Technik, landläufig lautmalerisch "Crash-Tests" genannt, können die Erarbeitung spezieller Entwicklungsziele sein, wie die Airbag-Anpassung oder der Nachweis, wieviel passiven Unfallschutz ein bestimmter Fahrzeugtyp gewährt. Besondere Bedeutung erlangt ein Crash-Test dann, wenn er vom Gesetzgeber vorgeschrieben ist, nach festgeschriebenen Regelwerken durchgeführt werden muß und als Nachweis, daß die gestellten Minimalanforderungen des Verletzungsschutzes erfüllt werden, über die Zulassung eines neuen Fahrzeugstyps entscheidet. In den USA wurden bereits 1970 Mindestanforderungen des Verletzungsschutzes für den Frontalaufprall gesetzlich vorgeschrieben und im Jahr 1990 durch Regeln für die Seitenkollision ergänzt. Für Europa sind im Zuge der Vereinigung entsprechende Regeln derzeit in der Diskussions- und Definitionsphase.

Airbag, Sicherheitsgurt, Kindersitze - wie werden sie optimiert?

Kollisionsversuche haben zum Ziel, die Verletzungsfolgen nach Straßenverkehrsunfällen zu minimieren und das Unfallgeschehen in sinnvollen Grenzen beherrschbar zu machen. Konkret kann das heißen, daß beispielsweise eine Pkw-Frontalkollision mit 60 km/h ohne schwere Verletzungen, das heißt ohne hohe Kosten für medizinische Behandlung, Produktivitätsausfall durch Minderung der Erwerbsfähigkeit und ohne erhebliche Beeinträchtigungen der Lebensqualität, überstanden werden kann. Ein wesentliches Hilfsmittel, um diese Zielsetzung zu erreichen, sind Dummies oder vielmehr die an ihnen gewonnenen Meßwerte und daraus errechneten Bewertungsgrößen. In Zukunft kann jeder, der als Pkw-Insasse einen schweren Unfall erleidet, vom Fortschritt bei der Optimierung von Dummies und den damit verbundenen Verbesserungen des Verletzungsschutzpotentials von Fahrzeugen profitieren. Dummies "testen" zum Beispiel stellvertretend das Energieaufnahmevermögen der Karosseriestrukturen, die Stabilität der Insassenkabine, ihre Auskleidung mit geeigneten Polstermaterialien. Die Versuche helfen, aggressive Strukturen zu eliminieren und verletzungsträchtige kollisionsbedingte Verformungen der Karosserie zu vermeiden sowie Sicherheitsgurte, Airbags und Kinderrückhaltesysteme optimal auszulegen.

Die Verkehrsunfallstatistik belegt einerseits bisherige Erfolge, andererseits auch die Notwendigkeit, weitere Verbesserungen zu erreichen: So konnte in Deutschland seit dem Jahr 1970 die damals alarmierend hohe Zahl von 19 193 im Straßenverkehr tödlich verletzten Menschen absolut auf knapp die Hälfte und, bezogen auf die erhebliche Zunahme der Fahrzeuge, auf etwa ein Sechstel vermindert werden. Weltweit sind die Verhältnisse in den industrialisierten Ländern in etwa vergleichbar. Die Gründe für diese positive Entwicklung liegen allerdings nicht nur in den Fortschritten bei der Fahrzeugsicherheit, sondern sind auf ein Bündel von Maßnahmen zurückzuführen, etwa die Verbesserung der Rettungskette und der ärztlichen Versorgung von Unfallverletzten, auf Fortschritte des Straßenbaus und der Verkehrsleitung sowie auf Erfolge der Verkehrserziehung und Verkehrsüberwachung.

Ursprünglich ist der Dummy als Entwicklungswerkzeug ein Kind der Ingenieure. Da es bei der Konstruktion von Fahrzeugen jedweder Art immer wieder darum geht, diese dem Menschen so anzupassen, daß sie ihm vor allem in kritischen Situationen optimalen Schutz gewähren, benötigten die Ingenieure einen tauglichen und möglichst haltbaren "Menschenersatz". Der erste, aus heutiger Sicht hilflos wirkende Einsatz von Dummies erfolgte in Deutschland in den 50er Jahren, vor allem, nachdem die Idee des Ingenieurs Béla Barényi, Fahrzeuge mit einer Knautschzone auszustatten, patentiert worden war und der Sicherheitsgurt aus dem Flugzeug in das Auto geholt wurde. Da es noch keinen speziellen Dummy gab, wurden zunächst - zu leichte - Schaufensterpuppen und dann - gestaltlose - Sandsäcke verwendet. Zu diesem Zeitpunkt begann eine systematische Entwicklung von anthropomorphen Versuchspuppen, die vor allem in Amerika vorangetrieben wurde. Bald erkannte man, daß nicht nur Kenntnisse der Anatomie erforderlich sind, um Dummies zu schaffen, sondern vor allem das Wissen, wie sich der menschliche Körper bei kurzzeitigen, also dynamischen mechanischen Einwirkungen unterschiedlichster Art verhält, die bei Fahrzeugkollisionen auftreten und zu Verletzungen führen können.

Dummy: robuste "Testperson"

Dummies müssen in ihrem mechanischen Verhalten dem Menschen möglichst ähnlich sein, das heißt dynamisch und kinematisch ähnlich funktionieren. Dabei müssen sie die Bevölkerungsverteilung von der zierlich gewachsenen Frau bis zum groß und kräftig gewachsenen Mann verkörpern, also der Normverteilung von Körperlänge, Körpermasse und Körperproportionen in der Bevölkerung entsprechen und Veränderungen wie die ständige Zunahme der Körpergröße berücksichtigen. Mit dem Lebensalter korrelierende konstruktive Merkmale besitzen Dummies nur insofern, als es für definierte Altersklassen Kinderdummies gibt. Altersbedingte Veränderungen der mechanischen Belastbarkeit des Menschen sind in Dummies derzeit nicht realisiert. Damit die Bewegung der Puppe während des Unfallgeschehens der des Menschen möglichst nahekommt, müssen Bewegungsart und Exkursionswinkel von Kopf und Gliedmaßen in ihren physiologischen Gegebenheiten und in ihrem Verhalten unter mechanischen Belastungsbedingungen berücksichtigt und umgesetzt werden. Das beinhaltet die besondere Funktionsart unterschiedlicher Gelenke des menschlichen Körpers, wie Knie und Hüfte, der Wirbelsäule besonders im Hals- und Kopfbereich. Seit Beginn des Dummybaus wurden hierzu zahlreiche Untersuchungen durchgeführt.

Anatomie und Mechanik

Schwieriger als die Menschenmaße sind die Daten zu gewinnen, die das dynamische Antwortverhalten von Dummies mit möglichst hoher Realitätsnähe sicherstellen. Die Meßwerte des Dummies auf dem Fahrersitz in dem eingangs erwähnten Crash-Test lösen bei Fahrzeughersteller und Testteam gleichermaßen Anerkennung aus: Kopfbeschleunigung 38 g, HIC 229 g, Brustbeschleunigung 40 g, Beckenbeschleunigung 43 g, Oberschenkelkräfte 220 daN! Bei diesem Versuch prallte ein Fahrzeug der gehobenen Mittelklasse mit 55 km/h unter halber Frontüberdeckung gegen eine starre Barriere. Die Ergebnisse heben das getestete Fahrzeug in die Spitzenklasse, was sein Verletzungsschutzpotential angeht. Wäre es kein Versuch, sondern ein tatsächlicher Straßenverkehrsunfall gewesen - der Fahrer hätte, psychisch vielleicht "geschockt" und mit leichten Prellungen versehen, aus dem Fahrzeug aussteigen können.

Verläßliche Voraussagen über die Art und Schwere von Verletzungen

Auf welcher Grundlage läßt sich das Verletzungsrisiko eines Fahrzeuginsassen aus Dummy-Meßwerten ableiten? Und wie zuverlässig ist diese Vorhersage? Wesentliche Basis, um das Verletzungsrisiko zu schätzen, sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen mechanischen Belastungen des menschlichen Körpers und der durch sie ausgelösten Verletzungen. Das ist das Arbeitsfeld der "Traumatomechanik", ein interdisziplinärer Wissenschaftszweig, der Unfallchirurgie, Orthopädie, Rechtsmedizin, aber auch technische Mechanik und angewandte Mathematik umfaßt. Die Untersuchung traumatomechanischer Zusammenhänge ist über 100 Jahre alt. Einer der Pioniere auf dem Gebiet war der Anatom Otto Messerer. Am hiesigen Institut für Rechtsmedizin begann die Forschung vor über 25 Jahren unter dem damaligen Institutsleiter Georg Schmidt und ist seither ein wesentlicher Forschungsbereich der Heidelberger Rechtsmedizin. Arbeiten auf diesem Gebiet sind unter anderem auch verbunden mit den Namen Karl Heinrich Bauer und Eberhard Gögler. Traumatomechanik als Wissenschaft geht von der Hypothese aus, daß jedes Gewebe seine mechanische Belastbarkeitsgrenze hat, deren Überschreiten zu strukturellen Veränderungen führt. Die Integrität von Körper, Skelett, Organ, Gewebe oder Zelle wird gestört, durch Knochenbrüche, Bänder- und Sehnenrisse, Verrenkungen, Organ- oder Blutgefäßzerreißungen, durch Funktionsstörungen, etwa Bewußtseinsverlust bei Gehirnerschütterung, Lähmungen, Stoffwechselstörungen oder nur durch Schmerzen. Die Belastbarkeitsgrenzen oder Verletzungsgrenzen sind individuell verschieden und hängen ab von genetischen Faktoren, der Konstitution, altersabhängigen Veränderungen und durch Ernährung, Training oder Krankheit ausgelösten Anpassungsprozessen. Traumatomechanische Forschung entwickelt objektive Meßmethoden zur qualitativen und quantitativen Beschreibung der mechanischen Einwirkung, aber auch für die Schwere der Verletzungen und den Grad der individuellen traumatomechanischen Belastbarkeit. Ihre Erkenntnisse sind auch bei der Verbesserung chirurgischer und orthopädischer Operationsverfahren wichtig. Besondere Bedeutung kommt ihr bei der Formulierung von Schutzkriterien zu, deren Festlegung sich an der Wahrscheinlichkeit orientiert, mit der eine definierte Verletzungsschwere eintrifft, und die als Mindestanforderung in Regelwerken den gegebenenfalls gesetzlich geforderten Maßstab zur Konstruktion und Optimierung von Schutzeinrichtungen liefern. Auch die Rekonstruktion unklarer Unfallabläufe aus Art, Ort und Schwere von Verletzungen im Rahmen rechtlicher Auseinandersetzungen bedarf zur Wahrung der Rechtssicherheit wissenschaftlich begründeter Erkenntnisse der Traumatomechanik.

Für die Vorhersage der Verletzungsschwere aus den Meßwerten der mechanischen Belastung ist es zunächst erforderlich, unter definierten Bedingungen genau diejenigen Belastungen in Größen der Technischen Mechanik wie Deformation, Geschwindigkeitsänderung, Beschleunigung, Kraft, Impuls zu messen, unter deren Wirkung Verletzungen entstehen. Methodisch gelingt das - ob im quasi statischen oder dynamischen Belastungsbereich - am besten unter ähnlichen Voraussetzungen wie bei der technischen Materialprüfung: Eine Materialprobe wird in einer Zug-Druck-Prüfmaschine, die zur Kraft- und Wegmessung eingerichtet ist, in einer definierten Richtung bis zum Versagen belastet. Für solche Prüfungen eignen sich kleine Gewebsproben, etwa ein mal ein Zentimeter große Knochenstücke. Auch ganze Knochen oder Organe können auf diese Weise untersucht werden.

Weit komplizierter stellt sich die Messung verletzungsrelevanter mechanischer Größen bei dynamischen, stoßartigen Belastungen dar, die an der Oberfläche des menschlichen Körpers ansetzen und auf benachbarte oder weiter entfernt liegende Körperpartien übertragen werden - Belastungssituationen, die bei Verkehrsunfällen typisch sind. Systematisch unterscheiden wir im wesentlichen Kontaktverletzungen im Sinne von Krafteinleitungs- und Kraftfortleitungsverletzungen und Trägheits- oder Inertialverletzungen, die - mißverständlich - gelegentlich als "Schleuderverletzungen" bezeichnet werden.

Leichenuntersuchungen sind unverzichtbar, um Dummies zu "eichen"

Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Mikroelektronik und Computertechnik gelingt es bisher nur in recht grober Annäherung, das komplexe Zusammenwirken aller wesentlichen Körperstrukturen meßtechnisch zu kontrollieren, die durch unterschiedliche Belastungen beansprucht werden, und die Verletzungsmechanismen aufzuklären. Man muß sich deshalb darauf beschränken, unter vereinfachenden Modellansätzen wesentliche Meßgrößen an wichtigen Körperstellen zu bestimmen. Die eigentliche Kunst besteht darin, Meßorte und Meßmethoden für diejenigen mechanischen Größen zu finden, die für das Auftreten oder Nichtauftreten von Verletzungen entscheidend sind. Das sind sogenannte Verletzungskriterien. Ihre Eignung ist an der Stärke der Korrelation zwischen dem Wert des Kriteriums und der Verletzungsschwere zu erkennen. Sie bestimmt die hieraus ableitbare verletzungsprädiktive Potenz. Die wichtigsten Meßgrößen und -orte sind nach dem derzeitigen Stand der Kenntnis am Kopf Beschleunigungen, an der Halswirbelsäule Kräfte und Biegemomente, am Brustkorb Beschleunigungen und Deformationen, am Becken Beschleunigungen und Kräfte, an den Oberschenkeln Längskräfte.

Diese Erkenntnisse lassen sich an Dummies nicht gewinnen, sind jedoch Voraussetzung für deren Konstruktion. Sie sind das Ergebnis von Untersuchungen an menschlichen Leichen, bei denen unter definierter mechanischer Belastung mechanische Größen gemessen und Verletzungen beobachtet wurden. Solche Untersuchungen haben für die Traumatomechanik den gleichen Stellenwert wie die Autopsie für die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin. Sie sind unter den gleichen Prämissen ethisch (,Hic gaudet mors succurere vitae") und rechtlich (Leichenvermächtnis; Zustimmung der Angehörigen) begründet und für die Verbesserung des Schutzes vor Verletzungen geboten. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß die mechanische Belastbarkeit von Leichen nicht in jeder Hinsicht der von Lebenden entspricht. Störfaktoren sind der Grad der Totenstarre, der Einfluß des Blutdrucks auf den Organturgor, der Effekt der Temperatur auf die mechanischen Eigenschaften der Gewebe und die bald nach dem Tod beginnenden Zersetzungsprozesse. Eine weitere Einschränkung von Untersuchungen an Leichen betrifft die Nachweisbarkeit von Verletzungen, die nur an Funktionsstörungen zu erkennen sind, zum Beispiel Bewußtseinsverlust oder Lähmungen.

Nur an Leichen ist es indes möglich, mit geeigneten Meßmethoden den Betrag der verletzungsrelevanten mechanischen Größen zu messen. Durch Analyse von realen Verkehrsunfällen gelingt es trotz Einsatz komplexer Rechenverfahren bis heute nicht zuverlässig, aus Unfallspuren und Fahrzeugbeschädigungen unter Berücksichtigung von Körpermasse und Proportionen der beteiligten Insassen die Beträge mechanischer Belastungen an den genannten Körperstellen zu berechnen. Die Unfallanalyse kann deshalb zur Definition von Verletzungsgrenzen und zur Validierung von Dummies nur begrenzt beitragen. Untersuchungen an freiwilligen lebenden Versuchspersonen können Belastungswerte nur im verletzungsfreien Bereich liefern. Diese alternativen Untersuchungsmethoden sind jedoch Komplementärmethoden, mit denen die Plausibilität der Erkenntnisse aus Untersuchungen menschlicher Leichen überprüft werden kann. Es ist evident, daß Untersuchungen an Leichen durch den Einsatz von Dummies erst ersetzt werden können, wenn die Dummies auf der Basis traumatomechanischer Erkenntnisse an Leichenversuchen validiert sind.

Wie geht diese Validierung vor sich? Dummies und Leichen werden, ausgestattet mit identischen Meßaufnehmern, gleichen Belastungen ausgesetzt, die Meßergebnisse des dynamischen und kinematischen Verhaltens werden registriert und verglichen. Bei hinreichender Übereinstimmung in Kinematik und Dynamik zwischen Dummy und Leiche und guter Korrelation zwischen Belastungswerten und Verletzungsergebnissen in einer Versuchsserie mit Leichen ist es gerechtfertigt, aus Dummy-Meßwerten auf das Verletzungsrisiko zu schließen, das bei der Leichenuntersuchung beobachtet wurde.

Zur Messung der mechanischen Größen werden miniaturisierte elektronische Meßaufnehmer - vor allem Sensoren für Beschleunigungen, Kräfte, Deformationen und Drucke - an geeigneten Körperstellen fixiert und die Beträge mechanischer Größen während der Belastung in einer oder drei Raumachsen registriert. Als Meßergebnisse erhält man an jeder der unter Umständen über 100 Meßstellen Belastungs-/Zeit-Kurven, die sich als Kraft-, Beschleunigungs- oder Deformations-Zeit-Verläufe mit einem oder mehreren Maxima darstellen lassen. Verletzungsrelevant sind Dauer, Anstiegsrate und Maximalwerte der Meßgrößen.

Es hat sich gezeigt, daß nicht immer die Maxima der Belastungsverläufe eines Meßorts am besten mit der Verletzungsschwere korrelieren. Man hat deshalb abgeleitete Größen definiert, zum Beispiel das gewichtete Zeitintegral des Beschleunigungssignals am Kopf (Head Injury Criterion (HIC)) oder das Maximalprodukt aus dem zeitlichen Verlauf der Brustkorbdeformation und der Deformationsgeschwindigkeit (Viscous Criterion (VC)).

Aus dem Verletzungskriterium HIC läßt sich bei experimentellen Ansätzen mit menschlichen Leichen das Risiko von Kopfverletzungen in den Kategorien: lebensgefährlich - schwer - leicht - unverletzt - mit einer Wahrscheinlichkeit von etwas mehr als 50 Prozent richtig vorhersagen. Das Viscous Criterion erlaubt eine Prognose der Verletzungsschwere mit einer Zuverlässigkeit von 70 Prozent.

Für zahlreiche nach Häufigkeit und Verletzungsfolgekosten relevante Verletzungen gibt es noch keine vergleichbar validen, allgemein akzeptierten Prädiktionsmodelle. Sie fehlen zum Beispiel noch weitgehend für das Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule, der unteren Gliedmaßen oder für die Organe des Brust- und Bauchraums, auch für die Schulter-/Arm-Region, die mit Einführung des Seitenairbags besondere Bedeutung gewinnt.

Die Eignung der bisher akzeptierten Verletzungskriterien und Verletzungsgrenzwerte bedarf mit der Einführung neuer Sicherheitssysteme jeweils der kritischen Überprüfung und erneuten Validierung: So wird zur genaueren Abschätzung der Schutzwirkung des Airbags ein verbessertes Kopfverletzungskriterium gefordert, das - unter anderem - neben der linearen Beschleunigung des Kopfes auch die rotatorische Beschleunigung und die entsprechende Superposition berücksichtigt. Um die Wirksamkeit von Sicherheitsgurt und Airbag bei gleichzeitigem Einsatz zu beurteilen und das Zusammenspiel der Systeme zu optimieren, ist neben der Beschleunigungsmessung im Brustschwerpunkt und der Berechnung des Viscous Criterion eine differenzierte Analyse der Deformationscharakteristik und der Deformationsverteilung am Brustkorb besonders aussagekräftig.

Für die unteren Gliedmaßen sind traumatomechanische Untersuchungen zur Aufklärung der Verletzungsmechanismen und der Belastungsweiterleitung über Fuß, Sprunggelenk, Knie- und Hüftgelenk im Stadium internationaler Fachdiskussion, ebenso wie die Erarbeitung von Verletzungskriterien und Grenzwerten. Auch die Belastungsbedingungen der Halswirbelsäule sind wegen ihrer komplexen anatomischen Struktur erst in groben Ansätzen verstanden. Schließlich liegen für die Belastungsgrenzwerte der inneren Organe wenige verläßliche und hinreichend differenzierte Daten vor. Auf diesen Gebieten liegen aktuelle Forschungsaufgaben, denen sich das Heidelberger Institut für Rechtsmedizin in Kooperation mit weiteren Forschungsinstituten und mit Unterstützung nationaler und internationaler Institutionen widmet.

Autoren:
Prof. Dr. Rainer Mattern, Dipl.-Ing. Florian Schüler, Prof. Dr. Dimitrios D. Kallieris, Institut für Rechtsmedizin, Voßstr. 2, 69115 Heidelberg,
Telefon (06221) 56 89 10

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