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„Rush-hour“ am Zellkern

Im Inneren der Zelle herrscht reger Verkehr, weil die Bibliotheken, die die Baupläne für die Eiweißproduktion aufbewahren (der Zellkern) und die Produktionsstätten, die nach diesen Bauplänen arbeiten (das Zytoplasma), durch die Kernhülle räumlich voneinander getrennt sind. Hier kommen die Kernporen ins Spiel, die den gesamten Verkehr durch die Kernhülle kontrollieren. Seit Jahren arbeiten Wissenschaftler daran aufzuklären, wie die Poren im Detail aufgebaut sind und welche Aufgaben die einzelnen Porenbausteine übernehmen, zum Beispiel die Einlaßkontrolleure. Mit einem Trick ist man dabei in Heidelberg ein gutes Stück weitergekommen. Die "Rush-hour" an den Ein- und Ausfallstraßen des Zellkerns erforscht Ed Hurt am Biochemie-Zentrum Heidelberg.

 Was hat der Zellkern einer eukaryontischen Zelle mit einer mittelalterlichen Stadt gemeinsam? Beide sind von einem Schutzwall umgeben – der Kernmembran beziehungsweise der Stadtmauer – die sie sowohl gegenüber der Umgebung abgrenzt, als auch den Ein- und Austritt von allerlei Gütern ermöglicht. Diese Durchlässigkeit wird durch die Kernporen beziehungsweise durch die Stadttore gewährleistet, die aber nicht alles beliebige durchlassen. Ein allzugroßer Heuwagen oder im Vergleich dazu ein großes sperriges Eiweißmolekül paßt nicht durch diese Öffnungen, und es gibt Wächter, die nur den durchwinken, der sich ausweisen kann und eine Erlaubnis zum Passieren hat. Der Vergleich beschreibt treffend, wie man sich den Stoffaustausch zwischen dem Zellkern und Zytoplasma einer eukaryontischen Zelle vorstellen muß. Die Kernporen, die in die Kernmembran eingebettet sind und diesen Transport vermitteln, arbeiten vergleichsweise wie Tore oder Schleusen, durch die ein regelrechtes Einfallen verschiedenster Transportgüter in den Zellkern stattfindet. In jeder Minute werden mehr als eine Million Makromoleküle (zum Beispiel Eiweißstoffe) in den Zellkern einer wachsenden menschlichen Zelle transportiert. Dafür stehen etwa 3000 - 5000 Kernporen zur Verfügung. Dieser gewaltige makromolekulare Verkehr bedeutet "Rush-hour nonstop" an den Ein- und Austrittsstellen der Kernhülle.

Welche Frachtgüter passieren die Kernporen?

Warum muß es zum Stofftransport zwischen dem Zellkern und seiner Umgebung kommen? Typischerweise enthalten alle eukaryontischen Zellen (zu denen eine primitive Hefezelle genauso dazugehört wie eine hochentwickelte menschliche Zelle) in ihrem Zytoplasma zahlreiche Organellen, die sich auf die unterschiedlichsten Aufgaben spezialisiert haben. Besonders schön sieht man die Organelle im Elektronenmikroskop, wenn ultradünn geschnittene Zellen betrachtet werden. Unverkennbar sind die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle, in denen der zelluläre Energiespeicher, das ATP, hergestellt wird oder der Golgi-Apparat, über den Proteine wie das Insulin aus der Zelle ausgeschieden werden. Das zentrale Organell ist zweifelsohne der auffällige Zellkern, in dem das Erbgut oder salopp gesagt, die Baupläne des Lebens, gespeichert sind. Daneben wird im Zellkern die genetische Information (die man in ihrer Gesamtheit auch als Genom oder Chromatin bezeichnet) bei jeder Zellteilung identisch verdoppelt, bevor sie an die Tochterzellen weitergegeben wird. Die Erbsubstanz besteht aus einem langen, fadenförmigen Molekül, der Desoxyribonucleinsäure oder kurz DNA genannt, die im Zellkern ähnlich wie ein Wollfaden eines Wollknäuels extrem dicht aufgewickelt ist. Nur wenn die Gene, die Bestandteil der DNA sind, im Zellkern aktiv werden, ist Leben möglich und Zellen können wachsen und ihre vielfältigen biochemischen Reaktionen durchführen. Wenn bei diesen Vorgängen Fehler oder Störungen (Mutationen) in den Genen auftreten oder Chromosomen während der Zellteilung nicht präzise getrennt werden, sterben Zellen oder, wie es paradoxerweise manchmal auftritt, teilen sich Zellen ungebremst und es kann Krebs entstehen. Damit die Gene korrekt abgeschrieben werden und Zellen sich kontrolliert teilen, muß der Kern mit seiner Umgebung viele Stoffe austauschen.

Von den zahlreichen Biomolekülen einer Zelle sind es vor allem Eiweißstoffe (Proteine), die in den Zellkern gelangen müssen. Man schätzt, daß eine menschliche Zelle etwa 50 000 verschiedene Proteine synthetisieren kann. Sie werden fast ausnahmslos im Zytoplasma hergestellt, weil dort die Produktionsanlagen (Ribosomen) angesiedelt sind. Viele dieser Proteine verweilen zeitlebens im Zytoplasma, weil dort ihr Tätigkeitsbereich etwa als Enzym ist. Andere Proteine müssen jedoch auf die Kompartimente der Zelle verteilt werden, wo sie ihren organell-spezifischen Dienst leisten. Standesgemäß benötigt der Zellkern für seine vielfältigen Aufgaben einen großen Teil dieser Proteine. Wichtige Importfrachtgüter mit dem Bestimmungsort "Zellkern" sind die Histon-Eiweiße, die an der dichten Verpackung der DNA mitwirken, oder Enzyme, die an der identischen Verdopplung der DNA (DNA-Polymerasen), der Aktivierung und Regulation der Gene (Transkriptionsfaktoren) und Herstellung der Boten-RNA (RNA-Polymerasen) beteiligt sind.

Die Baupläne für die Proteine sind im Zellkern abgespeichert. Diese räumliche Auftrennung – Gene im Zellkern und Umsetzung der genetischen Baupläne in Proteine im Zytoplasma – bedingt einen ebenso gewaltigen Ausstrom von Molekülen aus dem Zellkern. Vor allem RNA-Moleküle verlassen in einem niemals endenden Strom den Zellkern. Einer dieser Massenexportartikel ist die Boten-RNA (mRNA), die mannigfaltig und in hoher Kopienzahl im Zellkern von den 50 000 verschiedenen Genen abgeschrieben wird. Sämtliche mRNA-Abschriften werden unmittelbar nach Synthese und Reifung ins Zytoplasma verlagert, wo Ribosomen sie als Baupläne für die Herstellung von Eiweißen verwenden.

Schließlich gibt es Stoffe, die nicht nur in den Zellkern transportiert werden, sondern nach getaner Arbeit diesen wieder verlassen. Diese Stoffe wandern permanent zwischen dem Zellkern und dem Zytoplasma hin und her. Zu diesen Pendlern gehören unter anderem die hnRNP-Proteine, die an der Strukturgebung, Weiterverarbeitung und am Transport der mRNA beteiligt sind. HnRNP-Eiweißstoffe treten zunächst in den Zellkern ein, um ihr Ziel-Exportgut, die mRNA, zu treffen, bevor sie beladen mit der mRNA wieder aus dem Kern exportiert werden. Eine weitere Gruppe von "Kernpendlern" sind die nukleozytoplasmatischen Transportfaktoren (Importine und Exportine), die ständig zwischen dem Zellkern und dem Zytoplasma hin- und her wandern und dabei die unterschiedlichsten Frachtgüter mit sich führen.

Die Kernmembran stellt primär eine Barriere für den Stoff-austausch zwischen Zellkern und Zytoplasma dar. Doch erkennt man beim genaueren Hinsehen im Elektronenmikroskop viele kleine Öffnungen in der Kernhülle. Diese winzig kleinen Kernporen mit nur einem zehntausendstel Millimeter Durchmesser sieht man besonders eindrucksvoll in sogenannten Gefrierbruchaufnahmen. Dabei werden tiefgefrorene Zellen mit einem Mikrotom (einer Art scharfem Messer) aufgebrochen und manchmal, wenn man Glück hat, erfolgt der Gefrierbruch entlang der Oberfläche des Zellkerns, so daß man die zahlreichen Kernporen in der Kernmembran sehen kann. Durch eine andere mikroskopische Technik, die hochauflösende Raster-Elektronenmikroskopie, lassen sich noch weitere faszinierende Details der Kernporen darstellen. Man erkennt wulstige Ringe an der Außen- und Innenseite der Kernhülle, und im Inneren dieser Ringe öffnet sich ein Kanal. Am inneren Kernporenring ist eine beeindruckende, korbähnliche Struktur angeheftet, die ihr den treffenden Namen "Fischkorb" eingebracht hat. Vom äußeren Kernporenring ragen kurze Filamente ins Zytoplasma, die ähnlich wie Tentakel Proteine, die für den Zellkern bestimmt sind, aus dem Zytoplasma herausfiltern und der Kernpore zuleiten. Wie der eigentliche zentrale Porenkanal ausgekleidet ist, wissen wir noch nicht, aber gelegentlich sieht man in ihm eine pfropfenähnliche Struktur, die die Kernpore verschließt.

Durch die Kernporen treten gleichermaßen kleine wie große Moleküle hindurch. Niedermolekulare Stoffe wie Ionen, Nukleotide (die Bausteine der DNA und RNA) oder Einweißmoleküle, die nicht größer als 10 kDa sind (kDa ist ein Gewichtsmaß, mit dem man die Größe von Molekülen angibt) können frei durch die Kernporen diffundieren. Das ist möglich, weil die Kernpore nicht hermetisch verschlossen ist, sondern im Randbereich acht kleine, offene Kanäle besitzt, durch die kleine Moleküle ungehindert hindurchtreten können. Schwieriger wird es für zelluläre Frachtgüter, die größer als 40-60 kDa sind. Die acht peripheren kleinen Porenkanäle sind zu eng für diese sperrigen Makromoleküle, wodurch ungebetene "Eindringlinge" (zum Beispiel zytoplasmatische Eiweiße, die größer als 40-60 kDa sind) aus dem Kerninneren ausgeschlossen werden.

Außerdem gibt es den sehr viel größeren, zentralen Porenkanal, der den Durchtritt der großen Makromoleküle kontrolliert. Dieser Kanal ist normalerweise geschlossen, kann aber auf Anweisung seinen Durchmesser immens erweitern, wodurch die großen Transportgüter (bis zu 1000 kDa und mehr) die Poren passieren können. Dadurch erlangt der Zellkern die Fähigkeit und das Recht zu kontrollieren, wer von den "Großen" in den Kern hinein oder aus ihm heraus darf. Nur wer sich ausweisen und ein entsprechendes Erkennungssignal vorweisen kann, das ihn als "Grenzgänger" kenntlich macht, darf die Kernporen passieren. Dabei gibt es zwei Typen von Passierscheinen: ein Erkennungssignal für den Import in den Zellkern, das man als NLS (Nukleäre Lokalisations-Sequenz) bezeichnet, und ein umgekehrtes Signal für den Export, das NES (Nukleäre Export-Sequenz).

In meiner Arbeitsgruppe untersuchen wir seit geraumer Zeit, wie die Kernporen aufgebaut und wie ihre Bausteine an den unterschiedlichen Import- und Exportvorgängen durch die Kernmembran beteiligt sind. Dafür mußten wir die Kernporen als erstes in ihre Bestandteile zerlegen, ähnlich wie man einen Motor zuerst auseinander nehmen muß, bevor man Einblicke in seine Funktionsweise erhält. Das Zerlegen der Kernporenkomplexe in seine Einzelteile sollte sich als schwieriges Unterfangen herausstellen, weil jede Pore, wie wir heute wissen, aus zirka 50 verschiedenen Kernporenproteinen oder Nukleoporinen besteht. Jeder dieser Bausteine übernimmt eine ganz spezifische Aufgabe. Einige sind am Aufbau der Poren beteiligt und bilden Porenkanal, Ringe, Speichen, Fischkorb und Filamente aus, während andere am Erkennen und Andocken der Frachtgüter mitwirken und wieder andere den Durchtritt durch den Porenkanal vermitteln. Ähnlich wie ein Auto durch Benzin angetrieben wird, benötigt die Verlagerung von Transportgütern durch die Kernporen zelluläre Energie, die in Form von ATP und GTP bereitgestellt wird. Die treibende Komponte, die diese zelluläre Energie "verbrennt" und dadurch den nukleozytoplasmatischen Transport am Laufen hält, ist die Ran-GT-Pase.

Als ich vor zehn Jahren am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) meine Forschung an der Kernpore begann, die ich seit drei Jahren an der Universität Heidelberg fortführe, waren die Bausteine der Kernpore noch weitgehend unbekannt. Es war wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Die Nadel ist eines der 50 Kernporenproteine und der Heuhaufen die Zelle mit ihren abertausend verschiedenen Eiweißstoffen. Als uns aber 1988 die Isolierung eines der ersten Kernporenbausteine gelang, war der Weg für eine umfassende Struktur- und Funktionsanalyse des Kernporenkomplexes geebnet. Wir nannten diesen Baustein NSP1 und schon bald konnten wir auch dessen Gen klonieren und die DNA- und Aminosäuresequenz bestimmen. Bei der Erforschung des Kernporenkomplexes arbeiten wir fast ausschließlich mit einem Organismus, der jedem bekannt ist, weil er auch für die Herstellung von Brot, Wein und Bier eingesetzt wird. Es ist die Bäcker- oder Bierhefe, "Saccharomyces cerevisiae". Dieser Hefepilz ist ein uralter einzelliger Mikrorganismus, der vor mehr als einer Milliarde Jahren auf der Erde entstanden ist. Trotzdem unterscheidet sich eine Hefezelle in ihrem Aufbau nicht allzusehr von einer menschlichen Zelle. Hefezellen besitzen gleichermaßen einen Zellkern mit zahlreichen Kernporen, die den Kernporen einer menschlichen Zelle verblüffend ähnlich sind. Obwohl Mensch und Hefe tausend Millionen Jahre trennen, hat sich die Struktur der Kernpore in dieser immensen Zeitspanne nicht wesentlich verändert. Welch eine evolutive Konservierung!

Der Hauptgrund, warum wir unsere Studien mit der Bäckerhefe durchführen, ist, daß dieser Organismus genetisch in geradezu phantastischer Weise manipuliert werden kann, so daß komplizierte zellbiologische Strukturen und Funktionen in der lebenden Zelle untersucht werden können. Eine derartig ausgeklügelte Genetik ist heute bei Säugerzellen noch nicht durchführbar. Daher hat sich die Hefe "Saccharomyces cerevisiae" in den letzten Jahren zu einem eukaryontischen Modell-Organismus für molekulare Zellbiologie entwickelt. Für unser Kernporenprojekt bedeutet das konkret, daß wir durch den Einsatz von genetischen Methoden gezielt Kernporen-Bausteine in der lebenden Zelle aufspüren können, um sie anschließend zu eliminieren oder zu mutieren. Natürlich gibt es strategisch wichtige Bausteine, die man nicht einfach entfernen darf, ohne daß dabei die gesamte Kernpore Schaden nimmt. Aber genau dafür interessieren wir uns am meisten. Wir wollen Zellen herstellen, bei denen hochspezifisch ein einziger Kernporenbaustein zerstört oder verändert wurde. An derart modifizierten Zellen untersuchen wir dann, wie sich das auf den Aufbau der Poren und den Transport von Stoffen in und aus dem Zellkern auswirkt.

Wie kann man derart gezielt zum Beispiel ein einzelnes Kernporenprotein aus der lebenden Zelle entfernen, ohne die vielen anderen Eiweiße zu beeinträchtigen? Erstaunlicherweise geht das bei der Bäckerhefe mit einer derartigen Leichtigkeit und Präzision, daß man im Prinzip jedes beliebige Gen zerstören kann. Es ist, als ob man gezielt einen Laserstrahl auf eines der vielen tausend Gene im Zellkern richtet und es dadurch auslöscht. In Wirklichkeit verwenden wir dazu nicht Laserlicht, sondern molekulare Scheren. Im Fachjargon nennt man diese Methode "Gen-Disruption mittels homologer Rekombination". Wir haben mittlerweilen viele Bausteine der Kernpore durch diesen genetischen K.-o.-Schlag zerstört oder verändert. Dadurch erhielten wir erste Einblicke in den strukturellen Aufbau der Poren und die Funktion ihrer Bausteine. Ein Beispiel sei hier kurz erwähnt. Zellen, in denen der Bauplan für das NSP1-Gen zerstört wurde, können nicht mehr leben, was zeigt, daß dieser Kernporenbaustein für das Wachstum der Zellen unbedingt notwendig ist. In der Sterbephase beobachten wir, daß solche Zellen keine Kernporen mehr ausbilden und mit dem Protein-Transport in den Zellkern aufhören. Um die weiteren zirka 50 Bausteine der Kernpore zu finden, haben wir einen neuartigen genetischen Plan entwickelt, den ich an Hand eines Beispiels aus dem makroskopischen Leben erläutern möchte. Die Stabilität und Integrität eines Gebäudes hängt ebenso wie die der Zelle von vielen Einzelbausteinen ab. Ein Baustein in einem der tragenden Pfeiler des dargestellten Gebäudes soll ein Kernporenprotein (NSP1) sein. Ein weiterer Baustein, der an NSP1 angrenzt, ist ein uns noch unbekanntes Kernporenprotein NSP-X. Wie steht es um die Stabilität des Gebäudes, wenn der NSP1-Baustein ein wenig aus dem Gefüge herausgelöst wird?

In Wirklichkeit erreichen wir eine solche kleine Störung durch das Einfügen einer Mutation, indem wir einige Aminosäuren im NSP1 verändern oder entfernen. Wie im Bild zu sehen ist, verursacht diese kleine Manipulation noch keinen Einsturz des Gebäudes, oder anders ausgedrückt, die Zellen bleiben am Leben. Die Situation ändert sich aber schlagartig, falls es gelingt, zusätzlich zur Schwächung des ersten Bausteins NSP1, den benachbarten Baustein NSP-X anzuschlagen. Plötzlich wird aus statischen Gründen der gesamte Pfeiler instabil und das Gebäude fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Für Zellen bedeutet dies den Zelltod. Wir nennen eine solche ungünstige Konstellation "synthetische oder synergistische Letalität", die immer dann auftritt, wenn gleichzeitig zwei voneinander abhängige Bausteine mutiert vorliegen. Wird dagegen ein nicht-relevanter Baustein, der außerhalb des "Kernporenpfeilers" sitzt, gelockert, bleibt das Gebäude stabil, oder anders gesagt, die Zellen sind lebensfähig. Mit diesem genetischen Konzept konnten wir auf einen einzigen Schlag ein Dutzend von Kernporen-Bausteinen, die NSP1 umgeben, aus dem eingestürzten Zellgebäude bergen. Die neuartigen Bausteine wurden wie oben beschrieben in ähnlichen genetischen Suchaktionen als Spürhunde eingesetzt, um weitere Bauklötze der Kernpore zu finden.

Zusätzlich haben wir ein ergänzendes biochemisches Reinigungssystem entwickelt. In einem einzigen Schritt können wir hochspezifisch jeden beliebigen Kernporenbaustein, sofern wir seinen genetischen Bauplan in Händen haben, aus der Masse der abertausend zellulären Proteine isolieren. Gelegentlich haften an einem solchen isolierten Kernporenprotein noch weitere interagierende Partnerproteine, die vor allem durch massenspektroskopische Methoden identifiziert wuren. Diese biochemische Analyse hat ganz wesentlich unser Bild über den Aufbau der Kernpore erweitert, und das Schöne daran war, daß Genetik und Biochemie uns unabhängig oft zu den gleichen Ergebnissen führten. Dadurch bekamen wir nicht nur Einblicke in die Nachbarschaftsbeziehung verschiedener Kernporenproteine, sondern wir sahen auch, wie Kernporenbausteine sich in Subkomplexen zusammenrotten. Auch andere internationale Arbeitsgruppen beteiligten sich erfolgreich an dem Rennen, die riesige Kernpore in ihre Bestandteile zu zerlegen. Durch diese gemeinsame Anstrengung kennen wir heute 30 der insgesamt 50 geschätzten Kernporen-Bausteine. So beginnen wir allmählich, uns mit dem Gedanken anzufreunden, die Kernpore im Reagenzglas aus den gesammelten Bausteinen wieder zusammenzubauen, was vor einigen Jahren noch als ferner Traum erschien.

Natürlich mußten wir für jeden neuen Baustein, den wir genetisch oder biochemisch im Zusammenhang mit der Kernpore gefunden haben, den Beweis erbringen, daß er tatsächlich an der Kernpore und nicht anderswo in der Zelle vorkommt. In letzter Zeit bedienen wir uns eines bemerkenswerten Tricks, um Kernporenproteine in der Zelle sichtbar zu machen, wobei eine nordatlantische Qualle uns zu Hilfe kam. "Aequorea victoria" ist eine biolumineszente Meeresqualle, die ein grünliches Fluoreszenzlicht aussendet und dadurch im Dunkeln leuchten kann. Die Qualle schafft dies, indem sie Calcium an das Protein Aequorin bindet, zunächst blaues Licht zu emittieren, das aber sofort ein zweites Protein, das GFP (Grün-Fluoreszierendes Protein) anregt, wodurch GFP eine grünes Fluoreszenzlicht aussendet. Forscher haben sich diese leuchtenden Eigenschaften des GFP zunutze gemacht, indem sie das Gen für GFP an für sie interessante Zielgene hängen und dadurch leuchtende Fusionsproteine in allen möglichen Organismen erzeugen. Ähnlich haben auch wir das grün-fluoreszierende Quallen-Protein an unsere Kernporenproteine gehängt. Wenn wir anschließend lebende Hefezellen, die solche chimaeren Proteine in ihrem Zytoplasma synthetisieren, mit blauem Licht anregen, senden sie ein wunderschönes grünes Emmissionslicht aus. Im Fluoreszenzmikroskop kann man genau sehen, wo sich das Kernporenprotein mit seiner angehängten Laterne innerhalb der Zelle befindet. Erstaunlicherweise ziehen solche Kernporenproteine ihr angehängtes fluoreszierendes Quallenprotein wie im Huckepack-Verfahren zu den Kernporen, was sich in einem ring- oder punktförmigen Leuchten der Kernhülle widerspiegelt. Das war für uns ein sicherer Beweis, daß wir es mit einem Kernporenprotein zu tun hatten.

Kernporen im Reagenzglas zusammenbauen

Die bisher gefundenen Bausteine erfüllen sehr unterschiedliche Aufgaben an der Kernpore. Mit dem MEX67-Protein (mRNA Export Faktor mit einem Gewicht von 67 kDa) glauben wir eine ganz zentrale Komponente der mRNA-Export-Maschinerie gefunden zu haben. MEX67, das ebenfalls an der Kernpore sitzt (was wiederum mit Hilfe des GFP-Markierens gezeigt wurde), ist absolut lebensnotwendig, damit die Boten-RNA aus dem Zellkern herausgeschleust wird. Schon kleinste Veränderungen im MEX67-Protein (wie das Einführen eines einzigen Aminosäure-Austausches) führen dazu, daß keinerlei Boten-RNA mehr den Zellkern verläßt. Die Folge ist, daß sämtliche Baupläne für Proteine nicht mehr ins Zytoplasma gelangen können und die Ribosomen ihre Proteinsynthese einstellen müssen. Eine zelluläre Kastastrophe tritt schon bald darauf ein, die schließlich zum Zelltod führt. Wie stark die MEX67-Mutante die Boten-RNA im Zellkern anhäuft, sieht man in fluo-reszenz-mikroskopischen Aufnahmen, bei denen wir die Boten-RNA in der Zelle mit Hilfe eines fluoreszierenden Chromophoren sichtbar machen. Während die gesunden Zellen mit intaktem MEX67-Protein die Boten-RNA sehr effizient ins Zytoplasma exportieren, zeigen die kranken MEX67-Mutantenzellen schon nach 15-minütiger Aktivierung der Mutation eine massive Anhäufung der Boten-RNA im Zellkern. Die Blockade war so groß, daß keine neusynthe-tisierte Boten-RNA mehr ins Zytoplasma gelangen konnte.

Auf Grund unserer und Forschungsergebnisse aus anderen internationalen Labors, zeigt sich immer deutlicher, daß nicht nur die Struktur der Kernporen, sondern auch deren Bausteine in der stammesgeschichtlichen Entwicklung konserviert blieben. So ist es auch mit dem MEX67-Protein. Kürzlich wurde in einem völlig anderen Zusammenhang in menschlichen Zellen ein Protein gefunden, das dem MEX67-Protein in seiner Aminosäure-Zusammensetzung und seinem Aufbau ähnlich ist. Die Funktion dieses menschlichen MEX67-Gegenstücks (es wird als Tap-Protein bezeichnet, weil es mit einem bestimmten Herpesvirus-Protein assoziieren kann) ist nicht bekannt. Wir vermuten aber, daß es ebenfalls am mRNA-Export in menschlichen Zellen beteiligt ist. Außerdem gehen wir davon aus, daß die Erkenntnisse, die wir am Hefe-MEX67 gewinnen, sich teilweise auch auf das menschliche Protein-Tap übertragen lassen. Daneben haben wir kürzlich auch mit der funktionellen Analyse des menschlichen Verwandten von MEX67 begonnen. Auf Grund all dieser Untersuchungen erhoffen wir uns allgemeingültige Einblicke in den Mechanismus des RNA-Exports aus dem Zellkern.

Ich möchte meine Ausführungen nicht beenden, ohne zu erwähnen, daß das Verständnis des Transports durch die Kernporen, neben seiner Bedeutung für die Grundlagenforschung, auch wichtige medizinische Aspekte berühren könnte. Wir wissen heute, daß die Signale, die von außen auf Zellen auftreffen und deren Wachstum und Teilung beeinflussen (wie Wachstumsfaktoren oder der Zell-Zellkontakt untereinander) zunächst ins Innere der Zelle (Zytoplasma) übertragen werden und von dort über die Kernporen in den Zellkern gelangen, wo zelluläre Programme wie Wachstumsstopp, Zellteilung oder Zelldifferenzierung angeschaltet werden. Die korrekte Vermittlung dieser Signale durch die Kernporen ist damit Voraussetzung, daß derartige Signaltransduktionsprozesse kontrolliert und reguliert in der Zelle ablaufen können. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, daß kürzlich bei einigen Krebsarten (bei bestimmten Leukämien) entdeckt wurde, daß das menschliche Kernporenprotein NUP98, das mit unserem Hefe-Kernporenprotein NUP116 verwandt ist, an der Entstehung dieser spezifischen Krebsform auf Grund von Chromosomentranslokationen beteiligt ist. Wir glauben daher, daß das Studium der Kernporen und des Kerntransports nicht nur unser Grundlagenwissen bezüglich zellbiologischer Prozesse erweitert, sondern auch zu einem besseren molekular-medizinischen Verständnis für die Entstehung von manchen Krankheiten, wie bestimmten myeloischen Leukämien, führt.

Autor:
Prof. Dr. Ed Hurt
Biochemie-Zentrum Heidelberg (BZH), Im Neuenheimer Feld 328, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 41 73

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