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Der domestizierte Narr

Wir leben in der Sprache und daher in einer Welt der Übersetzungen. Wir sind aufgewachsen mit der Bibel, natürlich in Übersetzung. Unsere Kindheit wurde begleitet von Büchern wie „Tausend und eine Nacht“, „Robinson Crusoe“, „Die Schatzinsel“ oder „Gulliver’s Reisen“. Wer das Fernsehgerät anschaltet, wird mühelos eine amerikanische Soap Opera oder einen synchronisierten Krimi finden, und der mit großem Abstand meistgespielte Drama- tiker auf deutschen Bühnen heißt William Shakespeare. In welchem Ausmaß Übersetzungen kulturschaffend wirken, und die Differenz zwischen Original und Übersetzung Rückschlüsse auf die Normen der durch sie repräsentierten Kulturen erlaubt, untersucht Norbert Greiner am Institut für Übersetzen und Dolmetschen – Übersetzungsforschung als vergleichende Kulturgeschichte.

Viele uns bekannte Schöpfungsmythen gründen auf der Einsicht in die Sprachlichkeit der Welt und aller Welterfahrung. Nichts anderes besagt der Anfang des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort... Alles ist durch das Wort geworden...“ (Johannes I, 1-3). Die Welt wird geschaffen, indem sie benannt wird. Diese Vorstellung beinhaltet nicht nur, wie Thomas von Aquin in einem Kommentar zu dieser Stelle ausführt, die Gleichsetzung von Gedankenbildung und Sprachbildung, von Wort und Vernunft, göttlicher wie menschlicher. Sie setzt darüber hinaus eine zu denkende vollkommene Sprache voraus, welche die Totalität der Welt erfaßt. Daher ist dem biblischen Mythos des Sündenfalls der Mythos vom Sprachzerfall zugeordnet. Würde der Mensch, so die Anlage des Gedankens im 1. Buch Moses, über jene vollkommene Sprache verfügen, würde er den Raum göttlicher Erkenntnis und Schöpfungsmacht umfassen. Erst die babylonische Sprachverwirrung rückt ihn auf das rechte menschliche Maß zurück. Zwar bleibt er Teilhaber der Schöpfung und als solcher gottähnlich: Als Sprachbenutzer ist er ausgestattet mit der Schöpfungsmacht des Wortes. Aber er bleibt Ebenbild doch nur als Teil-Habender, geboren in eine einzige Sprache, die ihm den verstehenden Zugang zum Ganzen verstellt.

Mythen der Sprachverwirrung begegnen uns in vielen Kulturgemeinschaften. Sie sind Erklärungsversuche für den erstaunlichen Umstand, daß sich der Mensch in allen seinen wesentlichen physiognomischen und psychologischen Eigenarten überall auf der Welt gleich entwickelt hat, daß seine Sprache indes in vier- bis fünftausend zum Teil sehr unterschiedliche Einzelsprachen aufgefächert ist, die ebensoviele unterschiedliche Wirklichkeitsentwürfe bereit halten. Übersetzen ist also gewissermaßen der erfolglose und doch stets notwendige Versuch, die Sprachverwirrung in Teilbereichen wieder rückgängig zu machen und sich in der Begegnung zwischen Kulturen, soweit es irgend geht, aus der Fragmentarisierung der durch die eigene Sprache und Kultur vorgegebenen Weltzuwendung zu befreien.

Wir werden uns kaum darüber bewußt, in welchem Ausmaß wir in unserem täglichen Handeln auf Übersetzungen zurückgreifen und unsere Sprachwirklichkeit von Übersetzungen geprägt ist. Unsere literarische Bildung ist weitgehend eine fremdkulturelle Bildung. Und das abendliche Fernsehprogramm besteht nicht nur weitgehend aus synchronisierten Fernsehserien; den Zuschauer werden bei den Nachrichten in mehr als der Hälfte aller Fälle Meldungen erreichen, die von den internationalen Presseagenturen an die deutschen Nachrichtensender gesandt und dort übersetzt wurden. Gleiches gilt natürlich für die überregionalen Tageszeitungen. Wenn wir also in der Sprache leben, leben wir vor allem auch in einer Welt der Übersetzungen.

Wir leben in einer Welt der Übersetzungen

Ungeachtet dieser Tatsache hat sich noch bis vor kurzer Zeit keine etablierte wissenschaftliche Disziplin diesem Phänomen der Übersetzung und des Übersetzens methodisch und systematisch genähert. Gewiß blieben Übersetzungen nicht unbeachtet. Doch als Forschungsgegenstand stellten sie Randgebiete von Disziplinen dar, die vornehmlich an anderen Fragen interessiert waren. Stets stand dort eine Perspektive im Vordergrund, nämlich, wie ein Originaltext in eine Sprache übersetzt werden kann, manchmal auch wie er übersetzt werden sollte. Das Ergebnis derartiger Fragen war die Auflistung von „Verlusten“, die die Übersetzungen im Vergleich zum Original aufwiesen. Das Original stellte den Maßstab dar, an dem die Übersetzung gemessen wurde. Im Mittelpunkt steht also nicht etwa die Gleichrangigkeit zweier Kulturen, die zueinander in Beziehung treten, sondern der Verlust, der entsteht, wenn ein Text, sein formsymbolischer Zuschnitt und dessen Sinn von einer Kultur in die andere Kultur getragen werden. Wenn aber das Verhältnis zwischen einem übersetzten Text und seiner Übersetzung durch ein solches Gefälle gekennzeichnet wäre, dann würden wir in einer Sprachwelt leben, die sich aus Ersatzprodukten, mißlungenen Abbildern, problematischen Substitutionen zusammensetzt. Eine wenig beruhigende Vorstellung, die aber möglicherweise nicht den Zustand unserer Wirklichkeit, sondern die Qualität unserer bisherigen Fragestellung spiegelt.

Seit dem Ende der siebziger Jahre rückte die Übersetzungsforschung als Teil der vergleichenden Literaturwissenschaft die Übersetzung als Text sui generis in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei haben sich einige allgemein anerkannte Prinzipien herauskristallisiert, die im Folgenden skizziert seien. In Anerkennung der Leistungen von Übersetzungen in nahezu allen, besonders aber den westlichen Kulturen bei der Herausbildung ihrer sprachlichen, wissenschaftlichen und literarischen Systeme wird bei der Untersuchung der Literatur- und Kulturgeschichte diejenige der Übersetzungskultur eines Landes miteinbezogen. Dabei können Fragen nach Übersetzungsprogrammen interessant werden: Welche Texte werden zu welchem Zeitpunkt zu welchem erkennbaren Zweck in eine andere Sprache übersetzt, und wie wirken die übersetzten Texte in der Zielkultur? Aber auch: Welche erkennbar wichtigen Werke einer Ausgangskultur werden übersetzt und bleiben dennoch ohne nachhaltige Wirkung in der Zielkultur? Daraus wiederum ergibt sich die Frage in umgekehrter Richtung: Welche Texte einer übersetzungsintensiven Zielkultur werden zur selben Zeit in die andere Richtung oder für Drittkulturen wirksam? In anderen Worten: Ist derartige interkulturelle Kommunikation ein gleichgewichtiger Austausch zweier aneinander interessierter Kulturen oder gibt es vielmehr Dominanzverhältnisse, deren Gründe ihrerseits der Interpretation bedürfen? Weitere Fragen können daraus abgeleitet werden: nach den vorherrschenden Übersetzungsverfahren und ihrem Verhältnis zu zeitgenössischen Sprach- und Stiltheorien; nach dem qualitativen und quantitativen Verhältnis von literarischer und übersetzerischer Produktion und dem beiden Bereichen je zuzuordnenden innovativen Potential.

Einige Beispiele mögen diese Fragen erläutern. Der in der Forschung durchaus gut aufgearbeitete „Fall“ der frühen Shakespeare-Übersetzungen in Europa mag hier erläuternd wirken, nicht, weil es völliges Neuland zu betreten gibt, sondern weil er anschaulich und repräsentativ ist und zugleich zeigt, wie ein bloß am rezeptionsgeschichtlichen Vorgang ausgerichtetes Interesse den Blick für eine Fülle von Einzelheiten trüben kann.

Das späte 17. und weite Teile des 18. Jahrhunderts hindurch bestimmte die Regelpoetik des französischen Klassizismus den theatralischen Geschmack der gebildeten Kreise Europas. Bereits zu Beginn dieses 18. Jahrhunderts hatte indes Voltaire während seines Exilaufenthaltes in England Bekanntschaft gemacht mit einer vollkommen anderen, gegen fast alle Prinzipien der klassizistischen Poetik verstoßenden Dramatik – mit William Shakespeare. Voltaire staunte nicht wenig über eine Dramatik, die einem gebildeten Publikum und auch ihm selbst zeigte, daß es eine wesentliche Aufgabe des Theaters viel besser erfüllte als alles, was er bis dahin kennengelernt hatte: nämlich die Zuschauer zu rühren und zu bewegen. Er berichtete ebenso erstaunt wie beeindruckt über dieses merkwürdige Bildungserlebnis. Der 18. Brief aus den Lettres Philosophiques öffnete Shakespeare den Weg auf den Kontinent und initiierte eine Reihe von Übersetzungen in Frankreich, in Deutschland und in Spanien. Voltaire wollte seinen Lesern einen Eindruck vom Genie Shakespeares vermitteln und lieferte eine kleine Übersetzungsprobe des berühmten „To be or not to be“-Monologs aus Hamlet, welche die das restliche Jahrhundert vorherrschenden Übersetzungsprinzipien im Umgang mit Shakespeare – wenn auch extrem – repräsentiert. Der shakespearesche Blankvers wird ersetzt durch den Alexandriner, das damals für die klassizistische Tragödie verbindliche Versmaß. Ganz im Geist dieser Grundentscheidung hebt Voltaire die Diktion des Textes an, indem er die drastischen Bilder ausläßt oder durch gemäßigtere ersetzt. Und dort, wo es seinen eigenen polemischen Angriffen gegen Klerus und Obrigkeit entgegenkommt, richtet er den Text auch inhaltlich entsprechend zu. Wenn auch seine französischen Übersetzernachfolger andere Zwecke verfolgten als er, im freien Umgang mit dem Shakespeare-Text hatte Voltaire den Maßstab gesetzt, dem man folgte, immer in der Überzeugung, einem Werk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihm zu einem Siegeszug in einer neuen Kultur zu verhelfen.

Übersetzungen als neue literarische Modelle

Wie erfolgreich dieser Siegeszug war, belegt eine weitere Reaktion Voltaires gegen Ende des Jahrhunderts. In einem heftigen Appel à toutes les nations de l’Europe versucht er, mit einer die Fehler Shakespeares betonenden, boshaften Inhaltsangabe des Hamlet die Tragödie in ihrer angeblichen Geschmacklosigkeit bloßzustellen; er spricht von Shakespeare als einem Ungeheuer und von dessen Werk als einem Misthaufen. Was war geschehen? Eine Übersetzung, die nach unseren landläufigen Vorstellungen von guten und schlechten, treuen und freien Übersetzungen das Wort Übersetzung kaum verdient hätte, hatte so wirkungsvoll innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts Geschichte gemacht, daß sie nach zahlreichen Folgeübersetzungen auf dem Kontinent die alte literarische Geschmacksordnung gründlich auf den Kopf gestellt und sich selbst als neues Modell durchgesetzt hatte; und zwar so sehr, daß selbst die französische Königsfamilie dem französischen Übersetzer LeTourneur gestattete, seine Übersetzung dem französischen Königshaus zu widmen. Voltaire sah – völlig zu Recht – seine Felle davon schwimmen.

Ähnlich verhielt es sich in Deutschland. Hier hatte der Leipziger Literaturprofessor Johann Christoph Gottsched zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem monumentalen Unternehmen begonnen, durch Übersetzungen aus dem Französischen Modelle für die Produktion von deutschsprachigen Dramen zu gewinnen und auf diese Weise ein deutschsprachiges Theater auf den Weg zu bringen. Gottsched richtete sich rigoros an der klassizistischen Regelpoetik aus, die er zu Recht als Garant für eine Literatur erkannte, die den höchsten Geschmacksansprüchen genügen konnte. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in Deutschland ein Wandel der kritischen Meinung, der dann allerdings so heftig ausfiel, daß er die „deutsche Verspätung“ in Sachen Shakespeare-Rezeption gegenüber Frankreich einholte und mit zunehmender Schärfe Thesen erlaubte, die über die Würdigung Shakespeares in Frankreich und selbst England deutlich hinausgingen. Was sich in Frankreich in aller Stille gegen Voltaire vollzogen hatte, wurde in Deutschland zum deutlich artikulierten neuen ästhetischen Programm.

Es ist in der Literaturgeschichte allgemein bekannt, wie von der durch Lessing geführten Polemik gegen Gottsched im Zeichen Shakespeares über die Shakespeare-Übersetzungen Christoph Martin Wielands ein direkter Weg geht zu der Shakespeare-Begeisterung des Sturm und Drang, zu den zentralen Bildungserlebnissen, die das Werk Shakespeares für Herder, Goethe und Schiller und später für die gesamte Generation der deutschen Romantik darstellte. Innerhalb eines kürzeren Zeitraums als in Frankreich hatte sich ein durch Übersetzung bekannt gewordenes fremdkulturelles Modell so nachhaltig durchgesetzt, daß es die herrschenden Geschmacksnormen kurzerhand über den Haufen warf und mit den neu etablierten poetischen Maßstäben den Weg ebnete für einen Höhepunkt der deutschen Literaturgeschichte.

Der 29jährige Christoph Martin Wieland erkannte die Herausforderung als erster in Europa. Zwischen 1762 und 1767 übersetzte er 22 Dramen Shakespeares, die 1762–1767 in acht Bänden erschienen. Manches ähnelte den französischen Übersetzungen, die er bereits vorfand, in vielem ging er weit darüber hinaus. Hier soll nur ein Aspekt der Übersetzung genauer betrachtet werden, nämlich die Art und Weise, wie Wieland mit den komischen Passagen in Shakespeares Dramen umgeht.

Shakespeare – Übersetzungen als Spiegel differenter Lachkulturen

Bei vielen Erscheinungsformen des Komischen im Werk Shakespeares handelt es sich um Elemente aus dem Volkstheater, Elemente, die dem klassizistischen Geschmack diametral entgegenstanden. Natürlich kannte das höfische Theater komische Elemente; aber sie richteten sich oft genug gegen den Bürger: Dieser wurde in aller Regel durch die Figur des Narren repräsentiert und zugleich verspottet. Da sich zunehmend auch der Bürger als Kulturträger verstand, hatten derartige Elemente einer gegen das Bürgerliche zielenden höfischen Lachkultur keinen rechten Platz. Soweit man sich im 18. Jahrhundert in Deutschland offen zeigte für eine Rezeption des Komischen und der fremdsprachigen Komödie, handelte es sich um die in Europa weit verbreitete comédie larmoyante, deren allgemeine ideologische Ausrichtung darin bestand, das Selbstbewußtsein eines aufstrebenden Bürgertums und die damit verbundenen bürgerlichen und häuslichen Tugenden zu legitimieren. Während sich aber in England, wo ein politisch selbstbewußtes und wirtschaftlich ohnehin bestimmendes Bürgertum den Ton angab, vielfältige Formen der Komik halten konnten, beschied sich in Deutschland das politisch weitgehend machtlos bleibende Bürgertum anstelle einer Rolle in einer politischen Öffentlichkeit mit Tugenden der Innerlichkeit und Häuslichkeit. Zu sehr beinhalteten Formen der Komik immer auch Möglichkeiten der Kritik, der Verspottung, ja geradezu anarchischer Unordnung, der Provokation der allgemeinen Vernunft. Die deutschen Lustspielmaßstäbe zur Mitte des Jahrhunderts setzten die heute vergessenen Dramen Christian Fürchtegott Gellerts. Sehr verkürzt hieße das: Einerseits grenzte sich das Bürgertum und „seine“ Literatur ab von allen höfischen Formen der Lachkultur, die es selbst zum Gegenstand des Lächerlichen machte. Andererseits aber grenzte es jene komischen Formen des Volkstheaters aus, die den Ansprüchen an einen guten bürgerlichen Geschmack nicht genügten und der Frivolität, Indezenz, Wort- und mancherlei anderen Spielereien freien Lauf ließen. Insgesamt also spiegelten sich in jenen literarischen Formen, in denen sich das Bürgertum repräsentiert sah, die kleinen Verhältnisse der Familie und die ebenso kleinen Verhältnisse der deutschen Duodezfürstentümer wieder. In dieser Form der Komödie beherrschte nicht mehr der Narr, sondern der gütige Hausvater als ideologische Fiktion die Szene.

Wie konnten sich vor einem solchen Hintergrund die vielfältigen Formen der Komik im Werk Shakespeares bewahren? Die Antwort ist denkbar einfach. Wie alle französischen und auch deutschen Apologeten Shakespeares ihren Enthusiasmus für das Genie und dessen Wildheit und Roheit dadurch moderierten, daß sie stets auch auf dessen Fehler und Rohheiten verwiesen und diese aus dem ungebildeten Geschmack seiner Zeit heraus entschuldigten, so sieht auch Wieland sich genötigt, in zahlreichen seine Übersetzung begleitenden Fußnoten den Shakespeare-Text und seine Übersetzungsstrategie zu kommentieren. Sehr häufig verfährt der Übersetzer, wenn er auf ein Wortspiel mit eindeutig sexuellen Untertönen, auf Passagen oder ganze Dialoge von „abstoßender Immoralität“ stößt, radikal. Er läßt sie aus. Manchmal entschuldigt er sich für diese Auslassung und führt sie auf mangelndes übersetzerisches Vermögen zurück. So heißt es an einer Stelle: „Die Antwort der Beatrix hierauf dreht sich um Wortspiele, die sich nicht übersetzen lassen.“ Ein andermal kommentiert er ein Bettgeplänkel zwischen Liebenden: „Der Scherz liegt hier in einem Wortspiel, das in der Übersetzung verlorengeht.“ An anderer Stelle wird er deutlicher. Gröbere, obszönere Wortspiele rufen seine Entrüstung hervor: „Margarete füllt indessen diese kleine Szene mit großen Lobeserhebungen des Brautkleides, und mit etlichen etwas freien Scherzen und Wortspielen aus, die vollkommen in dem Charakter einer impertinenten alten Kammerjungfer sind.“ Und später: „Man muß hier sowohl einige zweydeutige Scherze,..., als einen kleinen Monolog … , weil es unmöglich ist, sie in irgend eine Sprache zu übersetzen.“ So geht es durchgängig weiter. Hier beklagt er ein „jämmerliches Wortspiel“, dessen Auslassung er begründet. Dort entschuldigt er sich für einen Übersetzungsversuch: „Der Übersetzer nimmt, wie man ihm auch ohne die- se Protestation verhoffentlich zutrauen würde, an diesen und ähnlichen profanen Einfällen... keinen Anteil; ... Das Schlimmste daran ist, daß diese Späße profan und frostig zugleich sind.“ Nichts wäre falscher, als in diesem Übersetzungswerk und in dieser Übersetzungsstrategie eine Exzentrizität zu sehen, die eine Ausnahme bleibt. Kein geringerer als Lessing, dessen Zeitgenossen an Wielands Übersetzung herummäkelten, urteilt im fünfzehnten Teil der Hamburger Dramaturgie über Wielands Übersetzung weitgehend positiv. Der allgemeine „Rezeptionsfall“ ist damit hinreichend skizziert. Wielands Übersetzungswerk – auch in den hier angesprochenen kritischen Bereichen – fällt allerdings differenzierter aus. Eine systematische Untersuchung aller seiner Komödien ergibt ein etwas genaueres Bild. So zeigt sich, daß die angedeutete Übersetzungsstrategie keineswegs bedingungslos verfolgt wird. Zahlreiche komische Szenen und Einzelheiten sind kongenial übersetzt, nicht selten präziser und drastischer als in den späteren Übersetzungen Schlegels und Tiecks. Es gilt mithin zu erklären, warum Wieland sich einmal von den Geschmacksurteilen seiner Zeit leiten läßt, ein andermal jedoch eine deutliche Unabhängigkeit verrät. Die vorliegenden Ergebnisse lassen sich wie folgt verallgemeinern: Seine Vorbehalte sind nicht grundsätzliche, sondern situations- und kontextbedingte. Abfällige Kommentare zum Text und Veränderungen finden sich weithin dort, wo der Kontext nicht eindeutig „komisch“ ist – in romantischen, ernsten und natürlich tragischen Zusammenhängen. In eindeutig komischen Szenen oder bei Narrenfiguren, die die deutsche Bühne zwar nicht goutierte, aber als Tradition doch gut kannte – wie Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen (1788) belegt – , zeigt sich Wieland sprachlich hinreichend gerüstet und übersetzungswillig, in manchem unvoreingenommener als sein berühmterer Nachfolger August Wilhelm Schlegel.

Die Domestizierung des Narren

Bevor wir aus solchen Befunden allgemeine Schlüsse ziehen, sei ein weiteres Beispiel angeführt. Insgesamt war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Neugier für englische Literatur geweckt. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts setzt in Deutschland, nicht zuletzt auch in dem Versuch, ein deutsches Nationaltheater zu schaffen, eine rege Übersetzungstätigkeit ein. So übersetzt der Jurist und Philosophieprofessor Christian Heinrich Schmid bis zum Ende der 70er Jahre 21 englische Dramen, die er zwischen 1769 und 1777 in sieben Bänden unter dem Titel „Englisches Theater“ herausgibt. Darunter befindet sich eine Übersetzung von Colman und Garricks The Clandestine Marriage, das er unter dem Titel „Die heimliche Heirat“ wiedergibt. Das Vorwort zum ersten Band verrät seine Übersetzungsstrategie: „Muß auch zuweilen ein größerer Aushau, wie Lessing es nennt, gemacht werden, so ist doch Ausstreichen leichter, als Hinzu Setzen; denn das letztere werde ich nie wagen.“ Es ist leicht zu erraten, worauf sich dieser Aushau bezieht: Sprachkomik, Karikatur, Streichung ganzer komischer Figuren und Frivolitäten aller Art. Ansonsten genügt der Text heutigen übersetzerischen Maßstäben, ist über weite Strecken gelungen und theaterwirksam. Die Übersetzung wurde noch im Jahr ihres Erscheinens 1769 in Hamburg inszeniert. Vier Jahre später greift der Intendant des Hamburger Theaters, Friedrich Ludwig Schröder, die Schmidsche Übersetzung erneut auf und bearbeitet sie unter Beibehaltung der genannten Tendenzen. Wie sehr ein Hamburger Intendant zur damaligen Zeit darauf bedacht gewesen sein mußte, den Vorstellungen von bürgerlicher Schicklichkeit zu entsprechen, verrät eine öffentliche Ankündigung, zu der sich Schröder auch noch später, zum Antritt einer zweiten Direktionszeit veranlaßt sieht: „Ich verspreche ihnen Ordnung, die strengste Sittlichkeit... ein Schauspiel, das ihrer würdig ist; das der Fremde ohne Verdruß und Erröthen verlassen kann, dessen Sittlichkeit unsere Obrigkeit nicht beschäftigen soll.“ Hier bestätigt sich: Während sich in den englischen bürgerlichen Komödien der Geist des Komischen durchaus bewahrt hat, wird er in seinem deutschen Gewande den deutschen Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral angepaßt. Hier ist allerdings zu differenzieren. Derselbe Schröder nämlich, der diesen an die Kategorien des Rührstücks angepaßten Komödientext in Hamburg inszenierte, wechselt im Jahre 1781 an das kaiserliche Nationaltheater in Wien. Dort richtet er 1781 „Die heimliche Heirat“ für das Wiener Theater neu ein, und zwar auf der Grundlage einer von ihm in Auftrag gegebenen Neuübersetzung. Diese zweite Übersetzung nun in der Hand des selben Intendanten an anderem Ort ist höchst aufschlußreich. Denn alles, was durch Schmid/Schröder für die Hamburger Inszenierung in Sachen Komik getilgt worden war, taucht in der Wiener Übersetzung wieder auf. Schröder restauriert in Wien jene im Bereich der sexuellen Komik und sprachlichen Possenreißerei liegenden Elemente, die in seiner Hamburger Inszenierung gefehlt hatten. Stattdessen fallen in Wien gesellschafts- und standeskritische Elemente moderater aus. Wie ist das zu erklären? In Wien herrschten andere Verhältnisse. Hier nahmen ähnlich wie in London Kaiser und Hofgesellschaft einen regen Anteil am Theatergeschehen, hier herrschte eine höfische Theater- und damit eine höfische Lachkultur. Daneben hatte sich außerdem die komische Volkstheatertradition mit ihren Hanswurstpossen und Stegreifburlesken in den Vorstadttheatern gehalten. In Wien gab es sowohl die Hanswurstkomik des Volkstheaters als auch die frivolere Form höfischer Lachkultur. Derselbe Übersetzer/Intendant hat sich mit Blick auf unterschiedliche Theatersituationen und Publikumsstrukturen radikal gewandelt.

Die Illusion einer Nationalliteratur

Viele weitere Beispiele – auch aus anderen Gattungszusammenhängen – wären zu ergänzen. Wie eines der einflußreichsten bürgerlichen Trauerspiele, George Lillos The London Merchant in den Händen seines deutschen Übersetzers sorgfältig von den kritischen Spitzen gegen Adel und Obrigkeit befreit wurde, hat bereits Peter Szondi angedeutet. Auch in diesem Fall ergibt aber erst eine systematische Beschreibung des übersetzten Textes, wie nuancenreich die gesamte Textur der deutschen Fassung auf deutsche Vorstellungen bürgerlicher Lebensformen eingerichtet wurde – etwa wenn der englische Begriff happiness durchgängig durch die Begriffsdoublette „Ruhe und Glückseligkeit“ ersetzt wird.

Offenbar sind derartige Tendenzen der Angleichung an deutsche Kulturnormen in einem allgemeineren Zusammenhang zu sehen. So erfuhr bereits im 17. Jahrhundert der pikareske Roman durch seine deutschen Übersetzer eine Umdeutung im Geiste der Gegenreformation, ein Schicksal, das sich in den durch viele Übersetzungen des Robinson Crusoe angeregten deutschen Robinsonaden fortsetzt, die, wenn nicht zum Abenteuerroman für jugendliche Leser, zum Entwurf eines pietistischen Harmonieideals gerieten. Systematische Einblicke in die Wege der übersetzerischen Rezeption des englischen Romans stehen allerdings noch aus.

Die aus unseren Beispielen zu ziehenden Schlußfolgerungen lassen sich in drei Thesen zusammenfassen. Erstens: Wie das Beispiel der Dramen-Übersetzungen im 18. Jahrhundert zeigt, ist es historisch nicht immer ergiebig, normativ nach dem Original eng folgenden Übersetzungen zu forschen. Viele kulturhistorisch folgenreiche Übersetzungen würden aus dem Blick geraten. Vielmehr legen gerade scheinbar ausgefallene Formen der Übersetzung nahe, daß es sich hierbei im Empfinden der Zeitgenossen um besonders ausgeprägte Form der Alterität handelte. Wann aus welchen Gründen derartige fremdkulturelle Paradigmen für eine empfangende Kultur entdeckt wurden und wie sie in der Zielkultur wirkten – von der Erweiterung eines Formenrepertoires bis hin zur radikalen Veränderung herrschender Geschmacksnormen – ist eines der wesentlichen Kapitel einer vergleichenden Literaturgeschichte. Hier steht die kulturschaffende Leistung der Übersetzung im Vordergrund. Die daran anknüpfende Frage, wann sich Kulturen aufnahmefähig für einschneidend neue Paradigmen zeigen, erweitert die literaturhistorische Fragestellung zu einem Interesse der vergleichenden Kulturwissenschaft.

Zweitens: Eine Übersetzung ist oft gerade erst wegen der Veränderungen interessant. Nach einer möglichst umfangreichen und systematischen Bestandsaufnahme der Quellen wäre durch Vergleich der Übersetzungen nach jenem steuernden Normenfilter zu fragen, der die Veränderungen im übersetzten Text veranlaßt hat. Die kulturgeschaffene Form einer Übersetzungsleistung wird hieraus ablesbar. Sie ist nicht als ein Verlust des originalen Sinnangebots zu deuten, sondern als Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses zweier Kulturen zueinander zu lesen, zwischen denen ein Text vermittelt. Ein Vergleich der erkennbaren Normen des Originals und der erkennbaren Normen der Übersetzungen führt zu Rückschlüssen auf jeweilige, oft unterschiedliche Geschmackskulturen, die in den verschiedenen Gewändern, die ein Text auf dem Weg zwischen zwei Kulturen erhalten hat, zutage treten. Unterschiedliche Geschmackskulturen wiederum bieten Einsicht in allgemeine kultursoziologische Verhältnisse. In unseren Beispielen wäre das Verhältnis zu den Narren und deren Komik, die Domestizierung derartiger Figuren und ihre Ersetzung durch andere dramatische Formen ein Hinweis auf verschiedene Sprach- und Lachkulturen, welche ihrerseits unterschiedliche Formen und Selbstverständnisse bürgerlichen Lebens darlegen. Für den übersetzerischen Umgang mit englischen Romanen vermuten wir ähnliche Ergebnisse, sofern sie nicht schon vorliegen.

Drittens: Eine möglichst umfassende Beantwortung der in den beiden ersten Thesen formulierten Fragen erlaubt Einblicke in die Übersetzungskultur eines Kulturraumes.

Bereits ein Blick auf nur wenige Fälle zeigt, in welchem Ausmaß besonders die deutsche Kultur und Literatur von fremdkulturellen Paradigmen geformt wurden, eine Tatsache, die in den von uns für diesen Zweck untersuchten Literaturgeschichten zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts weitgehend unbeachtet bleibt. In Wahrheit ging den Entwicklungen zumindest des Dramas und des Romans eine umfangreiche Übersetzungstätigkeit voraus, die fremdkulturelle Paradigmen programmatisch vorstellte und der Nachahmung anempfahl; entzündeten sich alle großen poetologischen Debatten jenes Jahrhunderts an diesen fremden Paradigmen und beriefen sich die verschiedenen Positionen auf jeweils unterschiedliche, stets aber fremde Modelle. Worauf Goethe (im Gespräch mit Eckermann am dritten Dezember 1824) noch deutlich hinwies, wurde in der Folge von einer an einer Nationalkultur sich ausrichtenden Literaturgeschichtsschreibung geflissentlich übersehen: „Suchen Sie in der Literatur einer so tüchtigen Nation wie die Engländer einen Halt. Zudem ist ja unsere eigene Literatur größtenteils aus der ihrigen hergekommen. Unsere Romane, unsere Trauerspiele, woher haben wir sie denn, als von Goldsmith, Fielding und Shakespeare?“ Das alles ist durchaus bekannt, wird aber dennoch allgemein nicht zur Kenntnis genommen. Schon unsere wenigen Beispiele legen indes Zeugnis ab von der dynamischen Beziehung zwischen Kulturen und den Möglichkeiten interkultureller Kommunikation.

Autor:
Prof. Dr. Norbert Greiner
Institut für Übersetzen und Dolmetschen, Plöck 57a, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 72 52

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