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Kurzberichte junger Forscher

Der protestantische Kirchenvater Johann Gerhard

Der Titel des Forschungsprojekts, das sich mit dem Kirchenvater der lutherischen Orthodoxie befaßt, lautet: "Johann Gerhard (1582-1637). Ein Beitrag zur editorischen, historischen und theologischen Aufarbeitung der vergessenen Epoche der altprotestantischen Orthodoxie". Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zunächst für zwei Jahre mit der Aussicht auf Verlängerung um weitere drei Jahre im Gerhard Hess-Programm gefördert. Diese Förderung ermöglichte den Aufbau einer Forschungsstelle an der Theologischen Fakultät, an der neben dem Projektleiter ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter und drei Hilfskräfte beschäftigt sind. Die Forschungsstelle hat ihre Arbeit im September 1995 aufgenommen. Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) und die Forschungs- und Landesbibliothek Gotha (FLB) unterstützen das Projekt dankenswerterweise tatkräftig. Wolfenbüttel und Gotha sind neben Heidelberg die Hauptarbeitsorte.

Die Erforschung der altprotestantischen Orthodoxie steht noch in den Anfängen, wenngleich gerade in den letzten Jahren sowohl in der theologischen als auch in der historischen Disziplin einige Anstrengungen unternommen worden sind, die diesbezüglichen Forschungsdefizite aufzuarbeiten. Was Johann Gerhard angeht, hat es in den letzten vier Jahrzehnten eine vergleichsweise rege und fruchtbare Forschungstätigkeit gegeben, die sich allerdings recht einseitig fast ausschließlich mit den großen dogmatischen Werken Gerhards, vor allem mit seinen "Loci" auseinandergesetzt hat.

Eine Gesamtausgabe der Werke Gerhards gibt es nicht, genauso wenig wie eine vollständige Werk-Bibliographie. Nicht eine einzige Schrift des protestantischen Kirchenvaters ist kritisch ediert. Die Schriften der Reformatoren sind mittlerweile recht gut durch Neueditionen zugänglich. Auch die Pietismusforschung hat für eine Reihe von kritischen oder zumindest Reprint-Ausgaben gesorgt. Völlig anders sieht die Situation in bezug auf die dazwischenliegende Epoche der Orthodoxie aus.

Als besonders fruchtbar hat sich während der Vorarbeiten zu dem hier vorgestellten Forschungsprojekt die Beschäftigung mit dem vergessenen Seelsorger Gerhard erwiesen. Es ist nötig, den Seelsorger Gerhard mit dem Gerhard der Dogmatik in ein Wechselgespräch zu bringen. Die These, die reformatorische Theologie sei durch die orthodoxe Mystikrezeption einer Rekatholisierung zum Opfer gefallen, ist unzutreffend und muß revoziert werden. Denn Gerhard hat es verstanden, die Mystik so zu transformieren, daß sie mit den reformatorisch-theologischen Grunddaten kompatibel wurde.

In der FLB Gotha habe ich das vom 21jährigen Gerhard in schwerster Krankheit abgefaßte geistliche Testament wiederaufgefunden. Diese Quelle ist eine bedeutende Personalschrift und gleichzeitig Gerhards erster dogmatischer Gesamtentwurf in nuce. Das Testament legt Zeugnis davon ab, wie er in schwerster Anfechtung Seelsorge an sich selbst und an seinen Angehörigen übt. Ich habe diese Quelle zur Edition vorbereitet und mit einem historisch-theologischen Kommentar versehen.

In Gotha konnte das Autograph von Gerhards später in dem in vielen Auflagen und Sprachen gedruckten Erstlingswerk "Meditationes sacrae" aufgefunden werden. Diese Schrift hat Gerhard in der selben Krankheitsphase im Winter 1603/4 als Selbsttrost abgefaßt, in der er auch sein Testament niederschrieb, und sie nach seiner Gesundung in Druck gegeben. Sie erschien erstmals 1606 in lateinischer Sprache. Bis ins 19. und 20. Jahrhundert wurde dieses Erbauungsbuch in unzähligen Auflagen immer wieder gedruckt und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins Finnische, Rätoromanische und Isländische. Diese Meditationen müssen neben Johann Arndts "Vier Bücher vom wahren Christentum" als diejenige Erbauungsschrift angesehen werden, die die Frömmigkeit des gesamten 17. Jahrhunderts und des Pietismus entscheidend geprägt haben.

Das zu edierende Autograph stellt eine Urfassung der "Meditationes" dar, die Gerhard für den Druck überarbeitet hat. Da die Reihenfolge der einzelnen Meditationen eine völlig unterschiedliche ist, das Autograph Teiltexte enthält, die nie beziehungsweise erst in späteren Auflagen im Druck erschienen sind und daher als ein literarisches Werk eigenen Rechts angesehen werden muß, soll zunächst das komplette Autograph kritisch ediert werden. Das Autograph wird als Faksimile abgebildet sein. In einem zweiten Band soll eine Edition des lateinischen Erstdrucks 1606 mit deutscher Übersetzung geboten werden. Die Varianten der zu Lebzeiten Gerhards recht zahlreich erschienenen und von ihm autorisierten Auflagen werden im Apparat verzeichnet. Im Kommentarteil des ersten wie des zweiten Bands werden die mannigfaltigen biblischen Zitate und Anspielungen nachgewiesen, die meist vom Autor nicht angegeben sind. Besonderes Augenmerk muß zudem auf den Nachweis der meist versteckten oder nur durch Nennung des betreffenden Namens gekennzeichneten Kirchenväterzitate gelegt werden. In einem Nachwort soll auf die Entstehungsgeschichte der Schrift, ihr theologie- und frömmigkeitsgeschichtliches Umfeld und ihre Verortung im Gesamtwerk Gerhards eingegangen werden.

In Vorbereitung befindet sich zudem eine kritische zweisprachige Edition des "Enchiridions" (1611). Diese Edition erstellt ein Wissenschaftler, der nicht direkt am Heidelberger Projekt beteiligt ist, aber in engem Kontakt mit ihm steht. Gerhards "Enchiridion" ist ein Handbuch gegen die verschiedensten Anfechtungen in bezug auf das Sterben und den Tod. Gerhard hat die Arbeit an diesem Trostbuch zwischen dem Tod seines ersten Kindes und dem seiner ersten Frau beendet. Im fiktiven Dialog zwischen einem Angefochtenen und einem Tröster werden 46 Fragen, Zweifel und Anfechtungen im Blick auf den Tod behandelt, wobei die Thematik von den Vorboten des Todes bis hin zur Strenge des Jüngsten Gerichts gespannt ist. Dem kritisch edierten lateinischen Wortlaut wird eine noch 1611 erschienene deutsche Übertragung gegenübergestellt. Auch diese Ausgabe wird einen kommentierenden und einen textkritischen Apparat sowie ein Nachwort und Register aufweisen.

Geplant ist weiter, eine Reprint-Edition der Postillen Gerhards zu erstellen. Zunächst sollen die "Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens unsers Herrn Christi Jesu" (1611) und die "Postilla: Das ist, Erklärung der Sonntäglichen und fürnehmesten Fest-Evangelien ..." (1613) ediert werden, also Gerhards die Gestaltung der Predigt betreffendes Frühwerk. Damit wird ein Meilenstein der Geschichte der altprotestantischen Homiletik erneut zugänglich gemacht. Ein Nachwort verortet das Predigtschaffen des Kirchenvaters im Kontext der altprotestantischen Predigttheorie und -praxis, ein Register informiert über die von ihm zugrundegelegten Predigttexte und über sämtliche im Druck angeführten Bibelstellen. Auch die "Postilla Salomonaea" (1631) soll im Reprint erscheinen. Dieses Werk enthält Predigten über sämtliche Teiltexte des Hohenliedes Salomos auf alle Sonntage des Kirchenjahrs und ist von epochaler Relevanz, da es so stark wie kaum ein anderes Werk des 17. Jahrhunderts veranschaulicht, wie die lutherische Orthodoxie die mystische Tradition beerbt, ein breites Spektrum an allegorischer Auslegungskunst ausgebildet hat und dabei auch in einen lebendigen Austausch mit der rabbinischen Tradition getreten ist.

Ein weiteres Teilprojekt ist die Edition des Katalogs der Bibliotheca Gerhardina, der in der FLB Gotha aufbewahrt wird. Diese Bibliothek gehört neben den Büchersammlungen des Theologen Johann Michael Dilherr (1604-1669) und des Historikers Johann Andreas Bose (1626-1674) zu den bedeutendsten Gelehrtenbibliotheken des 17. Jahrhunderts, deren kultur- und bildungshistorische Relevanz bisher noch kaum behandelt worden ist. Die Gerhardina ist die Bibliothek, die Johann Gerhard und sein Sohn Johann Ernst aufgebaut haben, und die ursprünglich zirka 3500 Bände mit etwa 6000 bibliographischen Einheiten umfaßte. Die Sammlung war in Jena freihand aufgestellt, diente als Leihbibliothek für Studenten und wurde 1678 nach Gotha verkauft. J. E. Gerhard hat einen handschriftlichen Gesamtkatalog der Gerhardina von rund 600 Folio-Seiten erstellt, der bislang unediert geblieben ist. Er ist gegliedert nach theologischen (über 370 Seiten!), juristischen, medizinischen, sprachwissenschaftlichen, philosophischen, ethischen und naturwissenschaftlichen Werken.

In Angriff genommen ist eine Edition folgender Gestalt: In einer ersten Spalte wird der Textbestand des Kataloges ediert, in einer zweiten der jeweils autoptisch überprüfte Titel des betreffenden Werks dargeboten und in einer dritten das betreffende Exemplar mit seiner ursprünglichen Signatur der Gerhardina und der neuen Signatur der FLB Gotha nachgewiesen. Die Edition des Gerhardina-Katalogs könnte erstens ein Beitrag zu der noch in den Anfängen steckenden bibliographischen Erfassung des 17. Jahrhunderts werden und als flankierende Arbeit zu der ebenfalls von der DFG getragenen Erstellung des Verzeichnisses der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17) begriffen werden. Kontakte, die zu einer Kooperation mit VD 17 führen, sind geknüpft. Zweitens könnte diese Arbeit dazu beitragen, Gerhards Schaffen im Kontext der von ihm benutzten Quellen besser kennenzulernen. Besonders Gerhards erstaunliche Vertrautheit mit der Theologie der Alten Kirche und des Mittelalters und seine profunde Kenntnis nicht nur der klassischen, sondern vor allem auch der semitischen Sprachen spiegelt sich in den Beständen seiner Bibliothek. Drittens wird - da die Bestände der Gerhardina den Studierenden in Jena zugänglich waren - die bildungs- und bibliotheksgeschichtliche Forschung wichtige Impulse erfahren können und einen Anreiz zur Erforschung der Charakteristik des theologischen, philosophischen und philologischen Studiums im 17. Jahrhundert bekommen können.

Ein weiteres Ziel ist die Erstellung einer kritischen Gesamtbibliographie der Werke Gerhards. Bislang existiert noch keine zuverlässige und vollständige Gerhard-Bibliographie. Die Werkverzeichnisse von Erdmann Rudolf Fischer und Albrecht Friedrich Model können allerdings als Ausgangspunkt genutzt werden. Auch dieses Teilprojekt ist eng mit VD 17 verzahnt. Die erfreuliche Kooperationsbereitschaft der HAB Wolfenbüttel, die neben Heidelberg der Hauptstützpunkt der Forschungsarbeiten ist, ermöglicht es dem mit diesem Teilprojekt beschäftigten Mitarbeiter, in Wolfenbüttel in Magazinnähe zu arbeiten, die dortigen Bestände zu erfassen und die nötigen Computer-Recherchen in anderen Bibliotheken von dort aus on-line vorzunehmen.

Nachdem Gerhard bislang fast ausschließlich nur als Dogmatik-Lehrer gewürdigt worden ist, soll in Kürze ein Band mit einer Reihe von Studien erscheinen, der Gerhards praktische und facettenreiche Umsetzung seiner Theologie auf den Feldern der Erbauungsliteratur, der Briefseelsorge und der Predigt nachzeichnet, theologisch analysiert und historisch kontextualisiert.

Verstärktes Interesse schenkt das Projekt der Rezeption der rabbinischen Tradition durch die lutherische Orthodoxie - einem Thema, das bislang völlig vernachlässigt worden ist. Die gängige These, erst nach dem Holocaust sei ein Bewußtsein dafür entstanden, daß es einen doppelten Ausgang des Alten Testaments, also auch eine jüdische Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der Hebräischen Bibel, gebe, ist in dieser Form nicht haltbar. Vielmehr erstaunt man darüber, wie gründlich Gerhard, aber auch Salomo Glassius sich unter anderem mit dem Aramäischen, dem talmudischen Hebräisch und den jüdischen Schriftauslegern wie Raschi, Aben Ezra beschäftigt haben und in einen lebendigen Austausch mit den Rabbinern getreten sind. Gerhards profunde Kenntnis der rabbinischen Tradition spiegelt sich nicht nur in seinen Loci, sondern in viel stärkerem Maße auch in seinen Kommentarwerken, vor allem in denjenigen zu alttestamentlichen Büchern, zum Beispiel in seinem Genesis-Kommentar.

Die Arbeitsergebnisse des Forschungsprojekts werden in einer neugegründeten Reihe beim Verlag Frommann-Holzboog (Stuttgart/Bad Cannstatt) erscheinen. Die Reihe trägt den Titel "Doctrina et Pietas. Texte und Untersuchungen zu Theologie und Literatur des 17. Jahrhunderts". Diese Reihe ist die erste, die sich dezidiert der nachreformatorischen Theologie des 17. Jahrhunderts und damit der Epoche der lange Zeit diskreditierten altprotestantischen Orthodoxie widmet.

Inhaltliches Ziel des Projekts ist es, durch Konzentration auf ein Teilthema der Geschichte der altprotestantischen Orthodoxie exemplarisch aufzuzeigen, daß die zu undifferenzierte Einschätzung dieser Epoche als bloße Verfallserscheinung der Reformation unangebracht ist. Um diesem Defizit positive Ergebnisse entgegenzusetzen, soll in verschiedenen Beiträgen gezeigt werden, wie Gerhard die orthodoxe Lehre auf ungeahnt lebendige Weise auf den Gebieten der Predigt, der Erbauungsliteratur, der Frömmigkeit und der konkreten Schriftauslegung in facettenreicher Gestalt umgesetzt hat. Anregungen sind hier besonders aus der germanistischen Erforschung der Barockzeit aufzunehmen.

Editorisches Ziel im Sinne der Grundlagenforschung ist es, zentrale Schriften sowie den Katalog der Gelehrtenbibliothek Gerhards und seines Sohnes zu edieren. Hierdurch soll versucht werden, nicht nur die künftige Weiterarbeit am Thema, sondern auch die editorische, historische und theologische Aufarbeitung der Forschungslücke "Orthodoxie" insgesamt anzuregen.

Bibliographisches Ziel ist es, durch die erstmalige Erstellung eines kritischen Werkverzeichnisses der Schriften Gerhards die erst langsam in Gang kommende Arbeit an der bibliographischen Erfassung des 17. Jahrhunderts zu fördern.

Kirchliches Ziel schließlich wäre es, in Kreisen der protestantischen Kirchen das spätestens seit dem 19. Jahrhundert erloschene theologische und historische Interesse für ihren Kirchenvater des 17. Jahrhunderts neu zu wecken. Vielleicht könnte so das Nachdenken über eine mögliche Inangriffnahme einer Gesamtausgabe der Werke Gerhards zumindest angeregt und seine unvergleichliche Bedeutung für die Wirkungsgeschichte der Barockzeit bis hinein in den Pietismus und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Erinnerung gerufen werden.

Priv.-Doz. Dr. Johann Anselm Steiger
Praktisch-Theologisches Seminar

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