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Braucht der Mensch zwei Nieren?

Warum der Mensch zwei Nieren hat, ist zwar nicht die Frage, die Wilhelm Kriz und seine Mitarbeiter am Institut für Anatomie und Zellbiologie in erster Linie beschäftigt, doch ihre Forschung kann auch darauf eine Antwort geben. Die Wissenschaftler haben eine ganz spezielle Art von Zellen im Visier, die "Füßchenzellen". Sie gewährleisten, daß die Niere ordnungsgemäß nur unerwünschte Stoffe ausscheidet, bilden aber auch ihre Achillesferse. Wenn sie - aus welchem Grund auch immer - zugrunde gehen, können sie nicht ersetzt werden. Mit zwei Nieren hat die Natur sozusagen ein Reservepolster angelegt. Laufen Nierenspender daher Gefahr, selbst ein Nierenversagen zu erleiden?

In zivilisierten Ländern ist es als selbstverständlich in das Bewußtsein der Menschen eingegangen, daß die Nieren im Laufe des Lebens in ihrer Funktion nachlassen können und sich ein Nierenversagen einstellt. Das Weiterleben wird ermöglicht durch den Ersatz der Nierenfunktion, entweder durch eine regelmäßige Blutwäsche, Dialyse, oder durch Transplantation einer gesunden Niere. Dabei ist es unter Verwandten statthaft und von medizinischer Seite durchaus erwünscht, eine Niere zu spenden, somit Spender und Empfänger danach mit nur einer Niere weiterleben. Die Lebenserwartung des Spenders wird dadurch nicht verkürzt, zumindest gibt es keine gegenteiligen Erkenntnisse, und für den Empfänger ist das Weiterleben mit der Niere eines nahen Verwandten die bei weitem beste aller möglichen Therapien.

Dies wirft zunächst die Frage auf: Warum hat der Mensch zwei Nieren? Wie paßt das zusammen? Einerseits zwei Nieren, die in ihrer Funktion relativ häufig versagen, und andererseits die Möglichkeit, mit einer Niere ohne Beeinträchtigung leben zu können. Um diesen Widerspruch zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit dem Aufbau und der Funktion der Niere befassen. Die Niere besteht aus funktionellen Untereinheiten, den sogenannten Nephronen. Davon enthält jede Niere etwa eine Million. Sie werden alle während der vorgeburtlichen Entwicklung gebildet und können nach der Geburt nicht nachgebildet werden. Jedes Nephron beginnt mit einer kleinen Filtereinrichtung, dem Nierenkörperchen oder Glomerulus, einem kugeligen Gebilde mit einem Durchmesser von etwa einem Fünftel Millimeter, 200 æm, und damit gerade für das Auge sichtbar. Nierenkörperchen bestehen aus einem Knäuel aus Blutkapillaren, die in einen kugeligen Becher eingestülpt sind. Ihre Aufgabe ist es, das hindurchfließende Blut zu filtrieren, das heißt, ein Teil der Blutflüssigkeit wird durch die Kapillarwand abgepreßt und gelangt in den Becher. Insgesamt bildet ein Mensch täglich zirka 180 Liter dieses "Primärharns". Aus dem Becher gelangt das Filtrat in ein langes, kompliziert gestaltetes Nierenkanälchen, den Tubulus, in dem der größte Teil des Primärharns wieder rückresorbiert wird. Im Tubulus verbleibt der Urin, der, ein wenig vereinfacht ausgedrückt, nur noch die Stoffe enthält, die der Körper ausscheiden will. Die Kanälchen vieler Nephrone vereinigen sich schießlich zu den Sammelrohren, die in das Nierenbecken münden.

Beide Teile des Nephrons, das Nierenkörperchen und das Nierenkanälchen, verhalten sich sehr unterschiedlich, wenn sie im Verlauf von Erkrankungen geschädigt werden. Die Nierenkanälchen können sich auch nach ausgedehnten Zerstörungen gut erholen und gewinnen ihre Funktionsfähigkeit zumeist vollständig zurück - während der Regenerationszeit ist allerdings so gut wie immer die Dialyse zur Überbrückung nötig. Hingegen können die Nierenkörperchen Schäden nur in begrenztem Umfang reparieren und ein zugrunde gegangener Glomerulus kann nicht ersetzt werden. Mehr noch, mit seinem Untergang degeneriert auch das zugehörige Nierenkanälchen und damit das gesamte Nephron.

Bei jedem Menschen gehen im Lauf des Le-bens Nephrone zugrunde. Im Greisenalter besitzt der Mensch, ohne daß er eine auffällige Nierenerkrankung durchgemacht hätte, häufig nur noch die Hälfte seiner Nephrone, ja, er lebt wahrscheinlich noch ganz gut mit einem Viertel. Auch ein Patient, der sich von einer Nierenerkrankung vollständig erholt und dessen Nierenfunktion wiederhergestellt ist, muß anschließend mit weniger Nephronen leben, von denen möglicherweise viele durch die Erkrankung partiell geschädigt sind. Dadurch kann sich im Anschluß an eine Nierenerkrankung die "normale" Untergangsrate der Nephrone erhöhen und früher oder später ein kritischer Punkt erreicht werden, an dem die verbleibenden Nierenkörperchen nur noch mit Mühe eine ausreichende Blutreinigung aufrecht erhalten können. Normalerweise arbeiten Nephrone, wiederum ein wenig vereinfacht ausgedrückt, bei niedriger Auslastung, sozusagen im Schongang. Wenn nach und nach Nephrone ausfallen, müssen die verbleibenden deren Arbeit übernehmen, indem sie höhere Filtrationsdrücke zulassen und gleichzeitig größer werden, hypertrophieren. Damit werden sie für schädigende Einflüsse empfindlicher; das wird mit abnehmender Nephronenzahl immer kritischer. Es entsteht ein "Circulus vitiosus", der den Eintritt in das chronische Nierenversagen kennzeichnet und verantwortlich dafür ist, daß die Krankheit zum Schluß immer schneller fortschreitet, bis schließlich die verbleibenden Nephrone die notwendige Ausscheidungsleistung nicht mehr vollbringen können und es zur Urämie, zur Harnvergiftung, kommt.

Um das chronische Nierenversagen zu verstehen, muß man also fragen: Warum haben Nierenkörperchen ein so schlechtes Regenerationsvermögen? Meine Arbeitsgruppe am Institut für Anatomie und Zellbiologie befaßt sich seit etwa fünf Jahren mit dieser Frage, und wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß ein ganz besonderer Zelltyp der Nierenkörperchen, die "Füßchenzellen" oder Podozyten, die entscheidende Schwachstelle bildet. Das wird klar, wenn man Bau und Funktion der Nierenkörperchen etwas genauer betrachtet. Um das Blut zu filtrieren und den Primärharn zu bilden, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Es muß ein genügend hoher Blutdruck vorhanden sein, der die Flüssigkeit durch die Kapillarwand in den Becher preßt. Die Kapillarwand, die als Filtermembran fungiert, muß für das Wasser und die im Wasser gelösten kleinmolekularen Substanzen durchlässig sein, undurchlässig dagegen für Bluteiweiße und natürlich für die Blutzellen, die nicht ausgeschieden werden sollen.

Die Filtermembran besteht aus drei Teilen: zur Blutseite hin aus einem "Gefäßendothel", das große offene Poren hat. Es folgt die "Basalmembran", ein (extrazelluläres) Geflecht aus verschiedenen Strukturproteinen, vor allem aus Kollagen. Zur Harnseite hin begrenzt die Zellschicht der "Füßchenzellen" den Filter. Diese hochdifferenzierten Zellen besitzen Fortsätze, mit denen die Zelle in der Basalmembran verankert ist. Dabei greifen die Fortsätze der einen Zelle zwischen die der anderen, ohne sich jemals zu berühren. Sie lassen zwischen sich einen Spalt frei, den sogenannten "Filtrationsschlitz", der zur Harnseite hin von einer dünnen (extrazellulären) Deckschicht, der "Schlitzmembran", bedeckt ist. Durch den Schlitz wird die Flüssigkeit gepreßt. Damit muß der "Primärharn" auf seinem Weg durch den Filter keinen Zellinnenraum passieren, nur so ist die hohe Durchlässigkeit des Filters verständlich.

Die entscheidende, aber auch die anfälligste Struktur der Filtermembran ist die Füßchenzelle. Sie hat zweierlei Aufgaben, zunächst eine mechanische: Jede Arterie und jede Arteriole - das ist die kleinste Arterie, die der Kapillare vorgeschaltet ist - besitzt einen schlauchförmigen Mantel aus glatter Muskulatur, der der Dehnung der Arterie durch den Druck des Blutes entgegenwirkt. In den Filterkapillaren des Nierenkörperchens herrschen nur geringfügig niedrigere Drücke als in den vorgeschalteten Arteriolen. Hier übernehmen die Fußfortsätze der Podozyten die Funktion der Muskelzellen. Die Fußfortsätze enthalten ein kontraktiles System, einen "Muskelapparat", dessen Tonus der Weitung der Kapillaren entgegenwirkt. Darüber hinaus bestimmt die Füßchenzelle entscheidend die Durchlässigkeit des Filters durch die Bildung der Filtrationsschlitze und der Schlitzmembran. Wenn die filigrane Struktur der Filtrationsschlitze aus irgendeinem Grund zerstört wird, verliert der Filter seine Selektivität, das heißt er kann die Substanzen, die nicht filtriert werden sollen, nicht mehr zurückhalten, im Urin werden Eiweiße ausgeschieden.

Die entscheidende Bedeutung der Füßchenzelle für die Anfälligkeit und die begrenzte Regenerationsfähigkeit des Nierenkörperchens konnten wir in mehreren Arbeiten experimentell belegen. Dabei war die Erkenntnis wichtig, daß Podozyten zwar in die Zellteilung eintreten, sie aber nicht zu Ende führen können. Zwar teilt sich der Kern, doch die anschließende Zellteilung bleibt aus. Jeder Versuch einer Zellteilung führt damit bestenfalls zu einer zwei- oder mehrkernigen Zelle. Zudem bringt die Kernteilung, die Mitose, die Füßchenzelle in eine riskante Situation. Sie muß Teile ihres Zellskelettes auflösen, um ein speziell für die Mitose notwendiges Gerüst, die "Spindel", zu bilden. Gleichzeitig soll sie weiterhin die Kapillare gegen den Blutdruck stützen, wobei andere Podozyten sie nur unvollkommen vertreten können. Deshalb birgt jegliche Demontage des Zytoskeletts immer die Gefahr, den expandierenden Kräften des Blutdrucks nicht standhalten zu können und die pathologische Aufweitung einer Kapillare zuzulassen. Dabei riskiert die Füßchenzelle, selbst im Übermaß mechanisch beansprucht zu werden und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu versagen.

Wie schon gesagt, sind für die Filtration relativ hohe Drücke notwendig. Der Blutdruck beträgt beim Erwachsenen im Mittel etwa 100 mm Hg; das ist der Druck in den großen Arterien. Am Beginn der Arteriolen beträgt der Blutdruck etwa noch 70 mm Hg und fällt dann steil zu den Kapillaren hin ab; die hydrostatischen Drücke in normalen Körperkapillaren liegen zwischen 30 und 15 mm Hg. In den Glomeruluskapillaren hingegen herrschen hydrostatische Drücke von immerhin noch 55 bis 45 mm Hg. Wenn der Druck in den Glomeruluskapillaren unter einen Wert von 45 mm Hg abfällt, hört die Filtration sehr schnell auf, das heißt, Drücke in der angegebenen Höhe sind für die Filtration absolut notwendig. Andererseits wird jeder Anstieg des Blutdrucks in den Glomeruluskapillaren über diesen Bereich hinaus sehr schnell zur Gefahr, weil die Fußfortsätze schwächer sind als die Muskelzellen der Arteriolen. Der Druck in den Nierenkörperchen muß also sehr genau reguliert sein, genügend hoch, damit eine Filtration zustande kommt, aber nicht zu hoch, um die dünnen durchlässigen Kapillarwände nicht zu schädigen. Diese "Gratwanderung" kennzeichnet die Struktur und die Funktion des Nierenkörperchens: hohe selektive Durchlässigkeit, aber dennoch widerstandsfähig.

Ein zu hoher Kapillardruck in den Nierenkörperchen bedeutet damit Gefahr. Wie wir heute wissen, ist der systemische Blutdruck, der üblicherweise am Patienten gemessen wird, nicht völlig sicher auf einem bestimmten Niveau einreguliert, sondern schwankt physiologischerweise kurzzeitig nach unten und oben. Auch kurzzeitige Anstiege können sich auf das Nierenkörperchen auswirken. Meistens bleibt das folgenlos. Kritisch wird es erst, wenn ein erhöhter Blutdruck dauerhaft - wenn auch abgeschwächt - an das Nierenkörperchen weitergegeben wird. Alarmstufe besteht, wenn im Verlauf einer Nierenerkrankung die Einstellung des für die Filtration nötigen Blutdrucks nicht mehr ganz so exakt wie üblich erfolgt, ein zu hoher Druck, wenn auch nur zeitweise, auf die Nierenkörperchen durchschlägt und die Strukturen selbst durch den Krankheitsprozeß angegriffen sind.

Woraus sich auch im Einzelfall die schädigenden Einflüsse auf das Nierenkörperchen zusammensetzen, betroffen ist zum Schluß immer der Podozyt, er ist die entscheidende Zelle, die die Regeneration des Nierenkörperchens nach überstandener Gefahr begrenzt. Der Podozyt ist damit einer Nervenzelle vergleichbar, die ebenfalls nicht ersetzt werden kann; ihr Verlust wird zwar in fortgeschrittenen Stadien deutlich, führt allerdings nicht zum Tod. Sinkt dagegen die Zahl der Nephrone unter ein Minimum, entsteht eine lebensbedrohende Situation, die schließlich nur noch durch Dialyse oder Transplantation beherrscht werden kann.

Mit dem steigenden Durchschnittsalter der Menschen wird das chronische Nierenversagen weltweit zunehmend zu einer lebensbegrenzenden Erkrankung. Die Ersatztherapien, Transplantation und vor allem die regelmäßige Dialyse, sind extrem teuer, belasten schon heute die Gesundheitsbudgets überall in der Welt erheblich, und die Kosten werden weiter steigen. Die Zahl der Patienten, die jährlich in ein chronisches Nierenversagen geraten und einer Behandlung bedürfen, verdoppelt sich in den USA alle acht Jahre, in Deutschland dürfte die Situation sehr ähnlich sein. Da die Behandlungen darüber hinaus zunehmend erfolgreich sind, steigt auch die Lebenserwartung der chronisch Nierenkranken, wodurch sich die Gesamtzahl der Patienten, die auf Dialyse und Transplantation angewiesen sind, noch stärker erhöht. Das chronische Nierenversagen ist schon heute zur teuersten Erkrankung der Inneren Medizin geworden. Deshalb sind alle Forschungsanstrengungen gerechtfertigt, um das Krankheitsgeschehen besser zu verstehen.

Zurück zu der eingangs gestellten Frage: Braucht der Mensch zwei Nieren? Die beiden Nieren, oder besser die Gesamtzahl der in beiden Nieren vorhandenen Nephrone, bedeuten ein Reservepolster. Die Nephrone können mit geringer Auslastung bei vergleichsweise niedrigen Filtrationsdrücken arbeiten. Dadurch ist das Risiko zu versagen geringer. Auch wenn im Lauf des Lebens bei jedem Menschen eine Vielzahl von Nephronen zugrunde geht, wird im allgemeinen die minimal nötige Zahl nicht unterschritten, so daß eine ausreichende Nierenfunktion auch im Alter aufrechterhalten werden kann. Bedeutet das, daß sich ein Nierenspender in eine kritische Situation begibt? Läuft er Gefahr, selbst ein chronisches Nierenversagen zu erleiden? Ja und nein - im Prinzip, wie aus dem bisher Gesagten unschwer ableitbar, natürlich ja, de facto jedoch nein. Zunächst wird in einem zivilisierten Land mit modernen Gesundheitseinrichtungen eine gründliche Untersuchung des Spenders vor der Entnahme einer Niere sicherstellen, daß beide Nieren gesund und voll leistungsfähig sind. Später wird der Spender auf die Funktion seiner einzigen Niere sehr viel stärker achten, als man dies üblicherweise tut. Er wird die Funktion seiner Niere regelmäßig prüfen lassen und seinen Blutdruck regelmäßig kontrollieren. Man wird deshalb sehr viel frühzeitiger als normalerweise jede mögliche Gefahr für seine Niere erkennen, weit vor dem Zeitpunkt, an dem der Eintritt in den skizzierten Circulus vitiosus beginnt. Damit sind Möglichkeiten eröffnet, rechtzeitig präventiv und therapeutisch einzugreifen.

Autor:
Prof. Dr. Wilhelm Kriz, Institut für Anatomie und Zellbiologie, Im Neuenheimer Feld 307, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 86 80

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