Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Ein Spion für Physiker

Neutronen sind perfekte Spione. Sie können alle Materie mühelos durchdringen und merken sich jedes Detail, das sie "gesehen" haben. Deshalb sind sie in der physikalischen Forschung so beliebt. Wenn man sie sehr tief abkühlt, verlieren Neutronen ihr Durchdringungsvermögen und lassen sich in Stahlbehältern fangen wie ein normales Gas. Auf diese Weise kann man ihre charakteristischen Eigenschaften untersuchen. Dirk Dubbers vom Physikalischen Institut berichtet über die Erforschung von kalten Neutronen und wie sich mit einem neuen, in Heidelberg entwickelten Meßsystem die Voraussagen des Urknallmodells sehr viel genauer als bisher überprüfen lassen.

Wenn wir uns morgens auf die Waage stellen, so zeigt diese das Gesamtgewicht der Protonen und Neutronen in unserem Körper an, zum Beispiel 45 Kilo Protonen plus 35 Kilo Neutronen. Der dritte Bestandteil der Atome in unserem Körper, die lebenswichtigen Elektronen, fallen mit zirka 25 Gramm dagegen kaum ins Gewicht. Diese kleine Betrachtung soll zeigen, daß das Neutron, wie seine beiden Kollegen, ein allgegenwärtiger und natürlicher Bestandteil der Welt ist. Aber ist da nicht etwas, was die Neutronen ein klein wenig exotischer macht als die beiden anderen Teilchen? Nun, Elektronen und Protonen lassen sich mit sehr einfachen Mitteln freisetzen und für Forschung oder Anwendung nutzen: Elektronen durch simples Heizen eines Drahts, etwa in einer Fernsehröhre; Protonen durch Füllen einer Leuchtstoffröhre mit Wasserstoffgas statt mit Neon. Neutronen sind heute ebenfalls ein sehr wichtiges Hilfsmittel für Forschung und Anwendung. Aber sie sind keineswegs so einfach frei zu erzeugen wie Protonen oder Elektronen. Das liegt daran, daß Neutronen im Kern des Atoms fest an benachbarte Protonen und Neutronen gebunden sind und nur durch eine Kernreaktion freigesetzt werden können. Neutronenquellen sind daher, anders als die einfachen Elektronen- und Protonenquellen, großtechnische Anlagen. Ein Beispiel ist die Europäische Neutronenquelle des Instituts Max Von Laue-Paul Langevin (ILL) in Grenoble, ein anderes das "Atomei" der Technischen Universität München, das bald durch einen neuen Forschungsreaktor ersetzt werden soll.

Die im Kernspaltprozeß erzeugten Neutronen sind ursprünglich alle sehr schnell, das heißt "heiß" (mehr als zehn Milliarden Grad). Für viele der im Folgenden beschriebenen Anwendungen braucht man aber langsame, das heißt "kalte" Neutronen. In den vergangenen Jahren wurden Methoden entwickelt, freie Neutronen auf Temperaturen weit unterhalb der Umgebungstemperatur herabzukühlen, zum Teil sogar bis herab auf ein Tausendstel Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Dann verlieren diese "ultrakalten" Neutronen sogar ihre besondere Eigenschaft, alle Materie mühelos zu durchdringen, und lassen sich wie ein normales Gas zum Beispiel in Stahlbehältern über Stunden hinweg speichern.

Es ist ein allgemeines Phänomen, daß neue Untersuchungsmethoden der Physik im Laufe der Zeit zu Standardanalyseverfahren in den Nachbardisziplinen werden. Mit den Meßverfahren der Neutronenphysik ist das nicht anders: Die Physiker sind an "ihren" Neutronenquellen inzwischen nur eine von vielen Minderheiten, neben Chemikern, Biologen, Mineralogen, Ingenieuren, Ärzten, Archäologen, Kunsthistorikern, Umweltforschern, Kriminalisten oder Lebensmitteltechnikern. Die Aufgabe der Physiker in dieser Runde ist dabei auch und immer wieder die Entwicklung neuer hochpräziser Forschungs- und Analysemethoden, oft als Nebenprodukt der Arbeiten zu ihren mehr am Grundsätzlichen orientierten Fragen.

Was ist nun das Besondere am Neutron, welches es für viele Wissenschaftler so attraktiv macht? Seine wichtigste Eigenschaft wird bereits durch den Namen angezeigt: Es ist elektrisch neutral. Dadurch ist es ihm möglich, ungestört und ohne großes Aufsehen zu erregen in jede Materie einzudringen, um dem Forscher hinterher mitzuteilen, was es dort gesehen hat. Kurz: Das Neutron ist ein perfekter Spion, für eine Vielzahl von Missionen geeignet, denn es registriert sämtliche Kräfte der Natur, mit Ausnahme, wie gesagt, der etwas grobschlächtigen elektrostatischen Kraft. Das Neutron merkt sich nicht nur jedes Detail in der Aufstellung der molekularen Heerscharen im Innern der Materie, die "Struktur", sondern registriert auch jede ihrer Bewegungen, die "Dynamik". Es ist das einzige durchdringende Teilchen, das das Zusammenspiel von atomarer räumlicher Struktur und zeitlicher Dynamik aufklären kann. Dies erklärt die große Anwendungsbreite des Neutrons in der Forschung.

Neutronen haben auch ein großes technisches Potential. Zum Beispiel kann ein mit Hilfe der Neutronentomographie gewonnenes Bild des Innenlebens eines kleinen Elektromotors, da dreidimensional aufgenommen, auf dem Bildschirm von allen Seiten und in jeder Tiefe betrachtet werden. Neutronen sind auch unschlagbar auf dem Gebiet der Spurenanalyse, zeigen zum Beispiel den Abrieb, den die Berührung mit einer Pinzette auf einem Siliziumwafer hinterlassen hat.

Aber diese schönen Analysemethoden, die die Neutronenphysik für alle Interessenten bereithält, sind nicht der eigentliche Gegenstand unserer Arbeit. In den letzten Jahren haben Arbeitsgruppen aus dem Heidelberger Physikalischen Institut sowie aus verschiedenen anderen Laboratorien an der Grenobler Neutronenquelle eine ganze Reihe mehr grundsätzlicher Fragen der Physik untersucht. Bei diesen Experimenten war das Neutron selber Gegenstand der Neugier und nicht nur ein Hilfsmittel wie bei den zuvor genannten Untersuchungen. Zwei der Experimente werden im Folgenden vorgestellt: Im ersten, einem eher bodenständigen Experiment, wurde die Stärke einer der vier bekannten Kräfte der Natur sehr genau vermessen; im zweiten, einem eher spekulativen Experiment, wurde nach einem exotischen Prozeß gesucht, nämlich der spontanen Umwandlung von Materie in Antimaterie. Uns sind heute vier verschiedene Kräfte der Natur bekannt. Zwei davon kennen wir aus dem täglichen Leben: die Gravitationskraft, die unsere Füße auf dem Boden hält - die uns aber nach wie vor große Rätsel aufgibt -, und die viel besser verstandene elektromagnetische Kraft, auf der die gesamte Chemie und Biologie einschließlich unserer Muskelkraft beruhen. Die beiden anderen Kräfte sind weniger leicht erfahrbar, da sie nur eine extrem kurze Reichweite haben. Sie sind aber für das Gefüge unserer Welt ebenfalls sehr wichtig: die "starke" Kraft, die die Atomkerne zusammenhält, und die "schwache" Kraft, die die Leuchtstärke der Sonne, die Häufigkeit der verschiedenen Elemente im Universum sowie die Lebensdauern der meisten instabilen Isotope bestimmt.

Die Stärke dieser schwachen Kraft im Labor zu messen, ist gar nicht so einfach, eben weil sie so schwach ist. Tatsächlich stützen sich heute die Berechnungen zum "Urknall" des Universums, zum Abbrand der Sonne und zu vielen anderen Prozessen, in denen die schwache Kraft eine Rolle spielt, allein auf die Daten aus einem einzigen meßbaren Prozeß: dem Betazerfall des freien Neutrons. Das freie Neutron ist tatsächlich ein instabiles, das heißt radioaktives Teilchen. Unter dem Einfluß der schwachen Kraft verwandelt es sich nach im Mittel etwa einer Viertelstunde in ein Proton. Dabei sendet es ein schnelles Elektron und ein Antineutrino aus. Diese Instabilität des freien Neutrons steht nicht im Widerspruch zu unserer Eingangsbemerkung: Die vielen Neutronen in unserem Körper sind stabil, weil sie fest im Atomkern eingebunden sind.

Will man den Zerfallsprozeß des freien Neutrons sauber ausmessen, so trifft man auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Umgibt man einen Strahl von kalten Neutronen mit einer Meßapparatur zum Nachweis der Zerfallsprodukte, so zerfällt im Meßvolumen nur etwa eins von zehn Millionen durchfliegenden Neutronen - jedes der anderen Neutronen aber kann, wenn es sich verirrt, einen Strahlungsuntergrund hervorrufen, der die Messung stört. Wegen dieser und anderer Schwierigkeiten variierten die Meßergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen um bis zu sieben Prozent. In den vergangenen Jahren stellte sich nun heraus, daß die Qualität der Meßdaten zum Neutronenzerfall bei weitem nicht mehr ausreichte, um den Anforderungen aus der Kosmologie, der Astrophysik und der Elementarteilchentheorie zu genügen.

Um die zuerst interessierende Meßgröße, nämlich die Lebensdauer des Neutrons, genau zu bestimmen, fanden unsere Kollegen in Grenoble eine elegante Methode: Ultrakalte Neutronen werden in einen der bereits genannten Speicherbehälter gesperrt, und nach einer gewissen Zeit wird nachgezählt, wieviele überlebt haben. Aus deren Anzahl ergibt sich die Lebensdauer. Zur Messung weiterer wichtiger Bestimmungsgrößen der schwachen Kraft müssen jedoch auch die Zerfallsprodukte des Neutrons genau untersucht werden. Hierzu entwickelten Heidelberger Doktoranden und Diplomanden ein neuartiges Instrument. Darin sorgt ein großes supraleitendes Magnetsystem dafür, daß die Zerfallsprodukte sauber aus dem kalten Neutronenstrahl herausgeführt und spektroskopiert werden können.

Mit diesen neuen Verfahren konnten die Meßfehler in den Neutronendaten auf unter zwei Promille reduziert werden. Die Neutronenlebensdauer beispielsweise wurde zu 887,4 ñ1,7 Sekunden bestimmt. Diese neue Qualität der Daten hat dazu geführt, daß die Voraussagen des Urknallmodells zur Entstehung der leichten Elemente jetzt sehr viel genauer überprüft werden können, und daß eine Reihe von präzisen Konsistenztests des gegenwärtigen "Standardmodells der Elementarteilchenphysik" möglich wurden.

Im zweiten Neutronenexperiment, von dem hier die Rede sein soll, geht es um Fragen, die über das gegenwärtige Standardmodell hinausgehen. Ein großer Triumph des Standardmodells war die erfolgreiche Vereinigung der schwachen und der elektromagnetischen Kraft. Rein äußerlich betrachtet haben die schwache und die elektromagnetische Kraft nur sehr wenig miteinander gemeinsam. Dennoch konnte in den vergangenen Jahren in einer Reihe von spektakulären Experimenten vor allem an den Forschungszentren CERN und DESY bewiesen werden, daß es sich um zwei Seiten ein und derselben, jetzt "elektroschwach" genannten Kraft handelt. Der Erfolg ermunterte die Physiker, nach der Vereinigung aller bekannten Kräfte zu suchen.

Die weitergehende Vereinigung dieser elektroschwachen mit der starken Kraft ist inzwischen auch gelungen - allerdings erst auf dem Papier als "Große Vereinigte Theorie", und dies sogar in mehreren verschiedenen möglichen Varianten. Die experimentelle Prüfung, ob und welche der Varianten die richtige ist, steht jedoch noch aus. Wie könnte eine solche Prüfung aussehen? Die Große Vereinigung verlangt, daß nicht nur die Kräfte, sondern auch die Teilchen im Prinzip alle gleich sind. Deshalb sollten sich auch solche Teilchen ineinander umwandeln können, von denen wir dies bisher überhaupt nicht erwarteten, zum Beispiel Protonen in Elektronen. Nach solchen exotischen Prozessen wird zur Zeit intensiv gesucht. Einige Varianten der großen Vereinigung verlangen sogar, daß sich Materie spontan in Antimaterie umwandelt, so zum Beispiel Neutronen in Antineutronen und umgekehrt. Nach solchen Neutron-Antineutronoszillationen haben in den vergangenen Jahren im Rahmen einer größeren Kollaboration Physiker aus Heidelberg, Grenoble, Padua und Pavia am ILL intensiv gesucht.

Das Prinzip des Experiments ist recht einfach: Man läßt einen hochintensiven kalten Neutronenstrahl über eine möglichst weite Strecke frei fliegen und schaut am Ende nach, ob sich Antineutronen im Strahl befinden. Zum Nachweis des möglichen Antineutrons dient ein wohlbekannter Prozeß: die gegenseitige Vernichtung von Materie und Antimaterie. Um sie herbeizuführen, hängt man eine dünne Kohlenstoffolie in den Strahl: Die Neutronen durchdringen die Folie fast ungehindert; ein Antineutron jedoch wird vernichtet, sobald es auf die Materie der Folie trifft. Dabei sendet es energiereiche Strahlung aus, nach der in einem großen Teilchenspurdetektor gesucht wird. Um das Experiment zu realisieren, mußten viele Schwierigkeiten überwunden werden. Die nicht geringste davon war, daß der Detektor in jeder Sekunde von mehr als hunderttausend schnellen Teilchen aus der natürlichen Höhenstrahlung bombardiert wird. Unter den Meßdaten befand sich jedoch kein Ereignis, das auf die Vernichtung eines Antineutrons zurückzuführen wäre. Aber es herrscht Optimismus, daß nach dem erfolgreichen Nachweis der elektroschwachen Vereinigung auch der Nachweis der Großen Vereinigung der Kräfte in einem der laufenden oder geplanten Experimente gelingen wird.

Inzwischen haben wir einige der für das Neutron-Antineutron-Experiment neu entwickelten Verfahren, vor allem zur Manipulation polarisierter Strahlen im magnetfeldfreien Raum, umgesetzt in eine neuartige und in vielen Disziplinen anwendbare Methode zur Spektroskopie langsamer Bewegungen großer Moleküle. Das in diesem Jahr fertig gewordene Molekül-Spektrometer hat ein um mehr als vier Größenordnungen besseres Auflösungsvermögen als herkömmliche Geräte. Reine Erkenntnissuche ging auch hier, eher unbeabsichtigt, Hand in Hand mit technischem und methodischem Fortschritt, und wir hoffen, diese Tradition auch in zukünftigen Experimenten fortführen zu können.

Just heute, in den frühen Morgenstunden, ist wieder ein Trupp Studenten und Doktoranden des Physikalischen Instituts mit einem großen LKW voller Gerätschaften nach Heidelberg zurückgekehrt. Sie haben viele Monate in Grenoble gearbeitet, unter größten Anstrengungen ihren neuen Apparat zur Messung des Neutronenzerfalls erfolgreich in Betrieb genommen und kommen mit den schönsten Meßergebnissen zurück, erschöpft und glücklich, als kämen sie von einer alpinen Erstbesteigung. Und sie werden einmal die Universität verlassen mit der Gewißheit: Was wir wollen, das gelingt uns auch - ein weiteres schönes Ergebnis unserer Forschung.

Autor:
Prof. Dr. Dirk Dubbers
Physikalisches Institut, Philosophenweg 12, 69120 Heidelberg,
Telefon: (06221) 54 92 14

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang