Siegel der Universität Heidelberg
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Kunstblut, so gut wie das echte

Ob nach einem Unfall oder bei einer Operation, vielfach hängt das Überleben eines Patienten davon ab, daß der Blutverlust durch Transfusionen ausgeglichen wird. Doch Blutspenden sind nicht unproblematisch, und nicht erst seit der Diskussion um HIV-infizierte Spender. Zwar sind die Risiken einer Bluttransfusion, wie Infektionsgefahr, Unverträglichkeit und die begrenzte Haltbarkeit des Blutes, heute minimiert, aber die Grenzen des Möglichen sind erreicht, und der große Bedarf an Blutkonserven läßt sich aus dem Spendenaufkommen allein oft nicht decken. Deshalb suchen Wissenschaftler nach Blutersatzlösungen, die besser verfügbar und leichter anzuwenden sind. Einen möglichen Ersatz stellen Lösungen aus vernetzten Hämoglobinmolekülen dar. Wolfgang Kuschinsky beschreibt, wie die richtigen Kontakte im rechten Moment eine transatlantische Kooperation auf den Weg brachten, die die Verfügbarkeit eines derartigen Kunstblutes in greifbare Nähe rückt.

März 1996: Unsere Bemühungen, wie bisher Blutersatzlösungen auf Hämoglobin-Basis für unsere klinisch orientierten Grundlagenuntersuchungen zu erhalten, sind endgültig gescheitert. Trotz bester Verbindungen meiner Kollegen aus der Anaesthesiologie am Klinikum Mannheim zu den Pharmafirmen, die solche Lösungen herstellen und erproben, erhalten wir keinen Tropfen dieser begehrten Blutersatzlösungen. Warum „mauern“ die Firmen? Sie wollen ganz bestimmte Lösungstypen möglichst schnell zur Anwendung am Menschen bringen. Sobald genügend Daten aus der Grundlagenforschung angesammelt sind, um eine spätere Zulassung zu ermöglichen, erlischt das Interesse der Firmen an der Grundlagenforschung. Mit der speziellen Blutersatzlösung, die erprobt wird, gehen sie jetzt an die Anwendung am Menschen. Aus der vorherigen Breite der Erprobung wird jetzt eine gezielte Anwendung einer ganz speziellen Blutersatzlösung. Die meisten Fragen, welche im Zusammenhang mit den Blutersatzlösungen auf Hämoglobinbasis aufkommen, sind aber noch nicht beantwortet.

Mai 1996: In Baltimore besuche ich Dr. Enrico Bucci in seinem Labor. Er ist der einzige, der uns weiterhelfen könnte. Bucci arbeitet seit 20 Jahren an der Entwicklung von Blutersatzlösungen auf Hämoglobinbasis und hat hierdurch eine führende Rolle auf diesem Gebiet übernommen. Er besitzt ein umfassendes Know-how und hat hierbei auch eine Methode entwickelt und patentiert, mit der er solche Blutersatzlösungen in der Größenordnung von wenigen Litern herstellen kann. Der Grund meines Besuchs bei ihm ist die Hoffnung, sein Interesse an unseren Experimenten soweit zu wecken, daß er bereit ist, für uns die begehrte Lösung zu produzieren. Diese Hoffnung basiert auch auf meiner Kenntnis, daß Bucci kleine Mengen von Blutersatzlösung an ein Labor an der Johns Hopkins Universität in Baltimore abgibt, mit dem wir in regem wissenschaftlichem Austausch stehen. Bucci zeigt sich von meinen Schilderungen der bisherigen und zukünftigen Experimente sehr angetan. Er ist auch bereit, uns Blutersatzlösung zur Verfügung zu stellen, aber nun kommt das Problem: Seine Laborkapazitäten sind so gering, daß es ihm völlig unmöglich ist, die dauernden Anfragen und Bitten aus der ganzen Welt zu erfüllen und so auch nur einen Bruchteil der Nachfrage zu befriedigen. Unser Dialog läuft zwangsläufig auf die Frage hinaus, ob es möglich sein könnte, solche Hämoglobinlösungen kommerziell herzustellen. Hier kommt mir der Gedanke an den „BioRegio“-Wettbewerb in den Sinn. Zum Glück ist die „BioRegio“-Idee in diesen Tagen soweit verbreitet, daß selbst ein Physiologe in seinem Elfenbeinturm schon etwas davon gehört hat. Ich schildere Bucci sehr vage die Intentionen des „BioRegio“-Projekts. Er zeigt sich sehr interessiert und findet den Gedanken einer transatlantischen Kooperation mit Firmensitz in Heidelberg außerordentlich attraktiv. Vielleicht auch deshalb, weil er sich nach 30 Jahren in den USA seiner Heimat Europa immer noch verbunden fühlt. Ich verspreche, genauere Informationen einzuholen und mit ihm in Kontakt zu bleiben – schon um weiterhin Aussicht auf eine Lieferung von Blutersatzlösung zu behalten. Ansonsten habe ich wenig Hoffnung, etwas zu erreichen.

Juni 1996: Ich habe die Möglichkeit Ulrich Abshagen, den „BioRegio“-Koordinator, zu sprechen und trage ihm das Anliegen einer transatlantischen Kooperation mit Enrico Bucci vor. Entgegen meiner eher pessimistischen Erwartung ermutigt mich Professor Abshagen, diesen Gedanken weiterzuverfolgen und eine konkrete Planung vorzulegen. Der Aspekt eines transatlantischen Wissenstransfers in Richtung Heidelberg ist attraktiv.

August 1996: Unser Projektvorschlag wird beim „BioRegio“-Wettbewerb eingereicht. Beteiligt ist neben Bucci noch Klaus van Ackern, aus dessen Klinik in Mannheim die Impulse für die Untersuchungen von Blutersatzlösungen gekommen sind, und sein Oberarzt Dr. Klaus Waschke.

November 1996: Die Bio-Region Rhein-Neckar-Dreieck erhält in Bonn den Zuschlag. Es folgen häufige e-mail-Botschaften zwischen Heidelberg und Baltimore. Wir bereiten uns vor auf das, was hoffentlich kommt. Ohne Internet ist der tägliche transatlantische Dialog kaum vorstellbar.

Blutersatz ist heute klinische Routine. Ob der Blutverlust bei einem Unfall, einer Operation oder anläßlich einer inneren Blutung auftritt, entscheidend ist in allen Fällen die sofortige Wiederherstellung der Transportfunktion des Blutes für das lebensnotwendige Atemgas, den Sauerstoff. Die Risiken einer Bluttransfusion, wie Unverträglichkeit, Infektionen und begrenzte Haltbarkeit des Blutes, sind heute zwar minimiert, aber die Grenzen sind hier erreicht. Der weiterhin hohe Bedarf an Blutspendern und die Hoffnung auf eine bessere Handhabbarkeit der Lösungen erfordern die Suche nach Blutersatzlösungen, die besser verfügbar und leichter anwendbar sind.

Daß das Hämoglobin im Mittelpunkt stehen muß, ist klar, da der Transport von Sauerstoff und Kohlendioxid im notwendigen Ausmaß bisher am besten mit Hämoglobin erreicht werden kann. Die molekulare Struktur des Hämoglobins ist bekannt, ebenso wie die Grundmechanismen der Bindung von Sauerstoff und Kohlendioxid an das Hämoglobin. Das Hämoglobin ist in den roten Blutkörperchen gut verpackt. Die Membran jedes roten Blutkörperchens umgibt eine große Zahl von einzelnen Hämoglobinmolekülen. Dieses Verpackungsprinzip hat die Natur bei nahezu allen Wirbeltieren eingehalten. Daß dies sehr effektiv und notwendig ist, zeigt sich, wenn sich die Membranen der roten Blutkörperchen bei bestimmten Erkrankungen auflösen und jetzt freies Hämoglobin im Blut zirkuliert: Die Bindungseigenschaften des Hämoglobins für Sauerstoff werden ungünstig verändert, die Hämoglobinmoleküle zerfallen in ihre vier Einzelteile, welche in wenigen Stunden über die Niere ausgeschieden werden, und die veränderten physikalischen Eigenschaften der Einzelkomponenten des Hämoglobins verändern die Flüssigkeitsverteilung innerhalb des Organismus negativ. Gleichzeitig ist es von Vorteil, daß mit dem Fehlen von Membranen um das Hämoglobin herum auch die Blutgruppen-Unverträglichkeiten nicht mehr vorhanden sind, da diese auf der Membran der roten Blutkörperchen lokalisiert sind. Ziel aller Modifikationen von Hämoglobinlösungen zum Blutersatz muß es sein, die Untereinheiten des Hämoglobins in einem definierten Ausmaß miteinander zu vernetzen, um einen Zustand herzustellen, der der Normalsituation mit verpacktem Hämoglobin zwar nicht ganz gleicht, aber ihr doch möglichst ähnlich ist. Dies wird dadurch erreicht, daß die Hämoglobinmoleküle zwar nicht mehr verpackt, aber zumindest vernetzt werden. Tatsächlich ist es Enrico Bucci gelungen, solche Vernetzungen zwischen den Untereinheiten des Hämoglobins auf chemischem Wege herzustellen. Er stabilisiert die Einzelkomponenten des Hämoglobins durch 3,5-Dibromosalizyl-Sebacat und erreicht dadurch Eigenschaften dieses vernetzten Hämoglobins, welche denen des Hämoglobins in den Erythrozyten erstaunlich ähnlich sind. Auch im lebenden Organismus erfüllen diese vernetzten Blutersatzlösungen offensichtlich ihre Funktion ohne Fehl und Tadel. Als ich zum erstenmal eine Ratte gesehen habe, deren gesamtes Blut mit einer Hämoglobin-basierten Blutersatzlösung ausgetauscht war, habe ich es kaum glauben können, daß hier ein Blutaustausch stattgefunden hatte, denn die Ratte zeigte ein völlig unauffälliges Verhalten.

Maßgeschneiderte Lösungen

Wo liegt nun die Marktlücke für eine Firma, die Blutersatzlösungen auf Hämoglobinbasis herstellt? Welche Bereiche können von den großen Firmen nicht adäquat abgedeckt werden? Das spezifische Profil unserer Firma ergibt sich aus ihrer Flexibilität. Die großen Firmen verfolgen das Ziel, eine bestimmte Blutersatzlösung so schnell wie möglich bis zur Anwendung am Patienten zu entwickeln. Unsere Firma kann demgegenüber maßgeschneiderte Blutersatzlösungen bereitstellen, die für den jeweiligen Forschungsbedarf zugeschnitten sind. Mit Hilfe der maßgeschneiderten Lösungen können die Auswirkungen von Veränderungen in diesen Lösungen auf den Sauerstofftransport und die Sauerstoffversorgung der einzelnen Organe und des gesamten Organismus untersucht werden. Dies zu überprüfen ist einerseits eine typische Aufgabe der Grundlagenforschung, und eine Zielgruppe einer solchen Firma ist deshalb die der Grundlagenforscher. Andererseits ist hier die Trennlinie zur anwendungsbezogenen Forschung nicht klar zu ziehen, denn aus den Erkenntnissen der Grundlagenforschung ergeben sich zwangsläufig Konsequenzen für die Patientenversorgung, welche ja eine Optimierung der Eigenschaften von Blutersatzlösungen für den jeweiligen klinischen Bedarf erlauben. Eine Optimierung kann in Veränderungen der Struktur und der Vernetzung der Hämoglobinmoleküle bestehen.

Zwei Beispiele hierfür sind experimentelle Veränderungen der Blutersatzlösungen, welche Bindungsfähigkeit für Sauerstoff und Fließeigenschaften betreffen. Die Bindungsfähigkeit des Hämoglobins für Sauerstoff zeigt einen charakteristischen Verlauf. Mit steigendem Sauerstoffpartialdruck steigt die gebundene Menge an Sauerstoff nicht einfach linear an, sondern in einer typisch S-förmigen Beziehung. Zur Charakterisierung dieser Bindungseigenschaften wird der sogenannte p50-Wert verwendet, welcher den Sauerstoffpartialdruck definiert, bei dem 50 Prozent des Hämoglobins mit Sauerstoff beladen sind. Durch Veränderungen in der Vernetzung der Hämoglobinlösungen ist es möglich, diesen p50-Wert zu verändern und damit die Bindungseigenschaften des Hämoglobins für Sauerstoff in definierter Weise zu modifizieren. Hierdurch kann die Sauerstoffaufnahme in der Lunge und die Sauerstoffabgabe im Gewebe verändert werden. Dies muß Auswirkungen auf die Sauerstoffversorgung des Gewebes haben, welche im Prinzip verbessert oder auch verschlechtert werden kann. Hierüber ist so gut wie nichts bekannt, da der p50 bisher nur in Einzelfällen experimentell verändert worden ist, wobei die methodischen Eingriffe schon selbst kritisiert werden können. Hier besteht ein großer Forschungsbedarf, der abgedeckt werden kann, sobald die entsprechenden maßgeschneiderten Blutersatzlösungen verfügbar sind.

Was hat Blut mit Ketchup gemeinsam?

Ein zweites Beispiel für den Einsatz von Blutersatzlösungen auf Hämoglobinbasis ist die Untersuchung von Fließeigenschaften des Blutes. Für den Physiologen ist Blut auch deshalb eine faszinierende Flüssigkeit, weil seine Fließeigenschaften unter verschiedenen Bedingungen nicht konstant sind. Bei der Passage durch die Blutgefäße ist das Blut, je nach Gefäßgröße, mal dünnflüssiger mal zähflüssiger. Hierbei spielt auch die Abscherung der roten Blutkörperchen eine Rolle, also das Ausmaß, in dem sie durch die Gefäßgeometrie und die Fließgeschwindigkeit verformt werden. In dieser Hinsicht ähnelt Blut dem Ketchup: Wenn wir eine Ketchup-Flasche öffnen und umdrehen, fließt kein Ketchup heraus. Ketchup ist zähflüssig, solange es nicht beschleunigt und dadurch abgeschert wird. Geschieht das, zum Beispiel durch einen Schlag auf die Flasche, wird es dünnflüssig und läuft in großer Menge heraus. Durch diese besonderen nicht linearen Eigenschaften, die das Blut mit dem Ketchup gemeinsam hat, ist es vollkommen unmöglich, das Ausmaß der Zähflüssigkeit des Bluts im Organismus quantitativ zu erfassen. Das wäre jedoch von großer Bedeutung, da es therapeutische Ansätze gibt, welche davon ausgehen, daß eine Veränderung der Fließeigenschaften des Bluts günstige Auswirkungen auf die Sauerstoffversorgung einzelner Organe, zum Beispiel des Gehirns, hat. Hierbei fehlt aber zwangsläufig der Nachweis, daß der therapeutische Eingriff wirklich die Fließeigenschaften des Bluts an der gewünschten Stelle im Zielorgan verbessert hat. Das Problem der nicht definierbaren Fließeigenschaften des Blutes im Organismus kann mit Hilfe der Blutersatzlösungen auf Hämoglobinbasis erstmalig elegant gelöst werden: Die Blutersatzlösungen haben eine klar definierte und konstante Zähflüssigkeit und erlauben es damit erstmals, die Rahmenbedingungen für die Durchblutung der einzelnen Organe mit Hilfe quantitativer Werte der Zähflüssigkeit zu beschreiben. Hiermit läßt sich auch die Validität von therapeutischen Maßnahmen überprüfen, welche Änderungen der Fließeigenschaften des Blutes zum Ziel haben.

Also nichts wie los! Am Elfenbeinturm ist eine Tür geöffnet. Wir stehen in den Startlöchern, um „BioRegio“ mit Leben zu erfüllen.

Autor:
Prof. Dr. med. Wolfgang Kuschinsky
Physiologisches Institut der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 40 33
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