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DNA-Analyse als Dienstleistung

In Rekordzeit und mit der jeweils besten Technologie will die LION bioscience AG die Abfolge der Bausteine im Erbgut von Zellen ermitteln und zum Beispiel aus der Erbinformation Vorhersagen über die Funktion von Eiweißstoffen geben. Das ist für die pharmazeutische Industrie von Nutzen, um gezielter Medikamente entwickeln zu können. Die neugegründete Firma ist eines der ersten vier Projekte, die in den Genuß der Fördermittel aus dem „BioRegio“-Topf kommen. Voraussetzung für die Förderung ist ein Kooperationspartner auf seiten der Industrie. Magnus von Knebel-Doeberitz berichtet über das Dienstleistungskonzept des im Heidelberger Technologiepark angesiedelten Unternehmens.

Die Kraft der belebten Natur kommt aus der Flexibilität, stets Neues, besser Adaptiertes zu schaffen: „Ebensowenig wie der Regen herabfällt, um das Korn auf dem Felde zu tränken, fällt er herab, um das Korn in der Scheune zu verderben. So steht es auch um die Teile in der Natur. Die Zähne beispielsweise, vorne scharf und spitz, um die Nahrung zu zerlegen und hinten breit und kräftig, um die Nahrung gut zu zermalmen, sind nicht um des Zweckes willen so geworden, sondern grundlos gleichsam nebenbei. Dennoch scheint es uns, als seien sie nur um des Zweckes willen so entstanden. So verhält es wohl sich auch mit den anderen Dingen der Natur. Das taugliche entsteht, weil es sich gerade so ergibt, doch nur der, der es besitzt, bleibt erhalten, alles andere geht zu grunde.“ Schon Aristoteles hat in seinen „Physicae auscultationes“ dieses Prinzip erkannt. Jeder Organismus hat eine optimale Adaptation an seine Lebensbedingungen erfolgreich absolviert. Durch die jahrmillionenlange Evolution des Lebens sind in der Natur durch natürliche Selektion Erscheinungsformen entstanden, die sich unter den verschiedensten Lebensbedingungen optimal entfaltet haben. Das trifft beispielsweise zu für Mikroorganismen in der Tiefsee, die sich von Erdöl ernähren, ebenso wie für thermostabile Mikroben, die in Geysieren unter extrem hohen Temperaturen existieren und für alle anderen unter weniger extremen Bedingungen existierenden Wesen. Charles Darwin hat diesen Prozeß in seinem Buch über den Ursprung der Arten eingehend dargelegt.

Ein entscheidender Selektionsvorteil des Menschen war stets sein Ideenreichtum, natürliche Prozesse für seinen Überlebenskampf zu nutzen. Das trat besonders in den letzten 200 Jahren zutage. Aufgrund der technischen Fortschritte, vor allem auf den Gebieten der Physik, der Chemie und der Ingenieurwissenschaften, die sich im Zeitalter der Aufklärung frei entfalten konnten, hat sich das Leben der Menschen auf der Erde grundlegend verändert. Viele Arbeiten, die früher großer Mühsal bedurften, werden uns heute durch Maschinen erbracht. Dennoch ist allen Ingenieuren und Wissenschaftlern klar: So schlau die Gedanken der Konstrukteure bisher auch waren, so kompliziert die Maschinen auch sein mögen, sie reichen bei weitem nicht an das Potential heran, das die Natur in den lebenden Organismen verwirklicht hat. Besonders deutlich wird das, wenn man den Wirkungsgrad der besten Maschinen mit dem der biochemischen Prozesse vergleicht, beispielsweise der Glykolyse. Daß die Natur über wesentlich bessere Tricks verfügt, um den Aufgabenstellungen auf der Erde gerecht zu werden, gilt auch für die Medizin. Kein Pharmakon ist so effizient wie die Selbstheilungskräfte der Natur. Der enorme Erfolg der Impfstrategien, die genau diese Selbstheilungskräfte ausnutzen, ist ein guter Beleg für dieses Postulat.

Die biologische Grundlagenforschung der vergangenen 40 Jahre hat wesentliche Erkenntnisse über Informations- und Funktionsabläufe lebender Organismen gewonnen, die einen enormen Einfluß auf unser Naturverständnis genommen haben. Nukleinsäuren wurden als die fundamentalen Steuerungsmoleküle des Lebens, der genetischen Information, erkannt. Sie definieren den Aufbau und die Struktur der Proteine, die ihrerseits aus Aminosäuren zusammengesetzt sind und die eigentlichen funktionellen Moleküle des Lebens darstellen. Nukleinsäuren sind aus vier unterschiedlichen Nukleotiden (Adenosin, Guanin, Cytosin und Thymidin) aufgebaut, die in linearer Form miteinander verbunden sind. Der genetische Informationsinhalt der Nukleinsäuren besteht darin, daß jeweils die Sequenz dreier aufeinanderfolgender Nukleotide für eine bestimmte Aminosäure kodiert. Die Nukleinsäuresequenz kodiert die Reihenfolge der Aminosäuren, die zu einem Protein zusammengefügt werden, und bestimmt so die Funktion und die Eigenschaften des Proteins. Neben den kodierenden Sequenzen auf der DNA gibt es auch nichtkodierende Areale, die regulatorische Funktionen ausüben, und dadurch beispielsweise festlegen können, welche DNA-Abschnitte in einer bestimmten Zelle wann in Proteine überschrieben werden sollen. Kodierende und nichtkodierende Sequenzen, die die Synthese eines Proteins steuern, werden als Gen bezeichnet. Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus bildet das Genom. Diese Erkenntnisse haben den technischen Umgang mit der genetischen Information ermöglicht und damit einen grundsätzlichen Wandel des Biologieverständnisses, einen Paradigmenwechsel, herbeigeführt, der in seinen Konsequenzen heute noch kaum abschätzbar ist. Es ist erstmals in der Wissenschaftsgeschichte möglich geworden, die Information des Lebens zu lesen, indem genetische Informationseinheiten zunächst in ihrer Sequenz analysiert werden (Nukleinsäuresequenzierung). Über theoretische Strukturvorhersagen können Rückschlüsse auf die Funktion eines, durch eine beliebige genetische Information kodierten, Proteins gezogen werden. Das gleiche gilt für die regulatorischen Sequenzen. Das führte zur Entwicklung einer gänzlich neuen wissenschaftlichen Disziplin, der Bioinformatik.

Die Information, die alle funktionellen Abläufe der Natur bestimmt, die Nukleinsäuresequenz, steht auf einmal für den weiteren technischen Umgang mit der genetischen Information bereit. Sie kann in Form bestimmter Nukleinsäuren aus einem Organismus isoliert und in das Genom eines anderen übertragen werden. Es ist zum Beispiel möglich, Bakterien, Hefen oder höhere Organismen gezielt so zu verändern, daß sie größere Mengen eines bestimmten menschlichen Hormons sehr effizient produzieren. Auf der Basis der Sequenzdaten kann man genetische Information auch gezielt verändern und über Struktur- und Funktionsvorhersagen eine modifizierte genetische Information für die wissenschaftliche oder technische Anwendung erstellen. Die Prinzipien der Natur, vor allem die unerreicht hohe Effizienz metabolischer Prozesse, können als Grundlage des neuen „Bioengineerings“ genutzt werden. Es ist möglich, die Gene, die für bestimmte technisch interessante Enzyme kodieren, so zu verändern, daß die Effizienz der Enzyme noch gesteigert oder an bestimmte Aufgabenstellungen adaptiert wird. Zum Beispiel lassen sich die enzymatischen Prozesse, die in Tiefseebakterien zur Energiegewinnung aus Erdöl beitragen, nutzen, um Erdöl nach Tankerunglücken umweltverträglich zu entsorgen. Viele weitere Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen der Technik könnten hier genannt werden. In ihrer Gesamtheit haben die neuen Erkenntnisse über den Umgang mit der Erbinformation zur biotechnologischen Revolution geführt, in der wir uns – ohne es tagtäglich zu bemerken – unaufhörlich und immer schneller selber bewegen.

Auch in der Medizin wird der Umgang mit der Erbinformation immer wichtiger. So wie alle Eigenschaften lebender Organismen werden auch viele krankhafte Lebensäußerungen durch die genetische Information der Nukleinsäuresequenzen definiert. Dazu gehören so komplexe pathologische Geschehen wie Krebs, Bluthochdruck und Stoffwechselstörungen. Anhand der Sequenzanalyse der pathologisch veränderten genetischen Information gelingt es in bestimmten Fällen, Vorhersagen über eine mögliche, bereits vorliegende oder später auftretende Erkrankung sowie über eine mögliche pharmakologische Behandlungsstrategie zu machen. Vereinzelt werden sogar schon präventive Operationen durchgeführt, um mit Sicherheit auftretende Krankheiten zu vermeiden. Der Bereich der präventiven Medizin wird infolge der neuen Technologie enorm an Bedeutung gewinnen.

Die Sequenzanalyse der genetischen Information stellt eine zentrale und für alle Bereiche der biotechnologischen Forschung und Anwendung grundlegende Basis dar. Die Bedeutung, die der DNA-Sequenzanalytik weltweit zugemessen wird, drückt sich auch in den derzeitigen Bemühungen aus, Genome ganzer Organismen, auch des Menschen, in toto zu sequenzieren.

Um die Abfolge der Nukleinsäuren und damit ihren Informationsgehalt möglichst effizient zu lesen, wurden unterschiedliche Verfahren entwickelt – ursprünglich durch Walter Gilbert und Alan Maxam, chemische DNA-Sequenzierung, und Fred Sanger, enzymatische DNA-Sequenzierung. Die „Sanger-Methode“, die auch als „dideoxy sequencing“ bezeichnet wird, ist bis heute die gebräuchlichste. Die DNA-Analytik auf ihrer Basis erlaubte sehr rasch die Automatisierung des Analyseprozesses. Das European Molecular Biology Laboratory (EMBL) und besonders die Arbeitsgruppe um Wilhelm Ansorge ist in Europa, aber auch weltweit, zu einer der führenden Institutionen geworden, die sich mit der Automatisierung der DNA-Sequenzierung beschäftigen.

Mehr als 95 Prozent der bisherigen DNA-Sequenzanalytik erfolgte in wissenschaftlichen oder klinischen Laboratorien, in denen zunächst kleinere bis mittlere Sequenzanaly- sen anfielen. Diesem Probenaufkommen werden vor allem der „ALF-Automat“ und der „ALF-Express“ gerecht, die beide von der Arbeitsgruppe von Wilhelm Ansorge entwickelt und patentiert wurden und von der Firma Pharmacia vertrieben werden. Die Verkaufszahlen der ALF-Automaten haben in den letzten zwei Jahren sprunghaft zugenommen, was den steigenden Bedarf nach automatischer DNA-Analytik unterstreicht.

Zunehmend wichtiger wird aber auch die Nachfrage nach Sequenzierkapazitäten weit über das bisherige Maß hinaus. Wenn die Genome von Organismen in toto analysiert werden sollen, müssen große DNA-Fragmente gelesen werden, um ein Maximum an genetischer Information zu erhalten. Da alle Lebensprozesse durch die Expression genetischer Information definiert werden, wird auch der Bedarf an der Analyse der exprimierten genetischen Information, beispielsweise unter pathologischen Bedingungen, immer wichtiger. Dafür sind neue Sequenzierautomaten erforderlich, die die Kapazitäten der bisherigen weit übertreffen. Auch hier hat die Arbeitsgruppe von Wilhelm Ansorge einen neuen Automaten entwickelt, „ARAKIS“, der 40 Klone mit Lauflängen von über 1500 bp Länge parallel routinemäßig sequenzieren kann. Durch die Verwendung zweier unterschiedlicher Laser (two dye technique) kann die Kapazität der Automaten verdoppelt werden. Somit ist es nun problemlos möglich, pro Tag 100 kb und mehr auf einem Automaten zu lesen. Das ist im Vergleich zu früheren Verfahren eine Kapazität, die die effiziente Lösung komplexer Sequenzierungsprobleme in allen Bereichen der DNA-Sequenzanalytik erlaubt.

Die am EMBL entwickelten Systeme für die DNA-Sequenzanalytik haben im Laufe der letzten Jahre immer wieder entscheidende Impulse in der Technologieentwicklung gegeben und zu kommerziell erfolgreichen Produkten geführt. Die Stärke der Technologie liegt im erfolgreichen Zusammenspiel aller Systemkomponenten: der Hardware in Form der automatischen Sequenzierungsgeräte mit Durchsatz von bis zu 120 Kilobasen pro Lauf, Leselängen bis zu 1500 Basen pro Probe bei einer Genauigkeit über 99 Prozent, der flexiblen Biochemie, die es erlaubt, die Proben unterschiedlichster Herkunft exakt zu analysieren, und der Software, die eine schnellstmögliche Bearbeitung ermöglicht – von der Datenaufnahme über die automatische Sequenzbestimmung bis hin zur Vorbereitung zur tiefergehenden Sequenzanalyse und Datenbankrecherche (GeneSkipper software). Aufgrund der technischen Möglichkeit, im EMBL-Sequenzierungssystem mit zwei Laser-Detektionssystemen simultan zu arbeiten, läßt sich im sogenannten „Doublex“-Verfahren mit Hilfe zweier verschiedenfarbiger Primermoleküle die Sequenzinformation beider DNA-Stränge gleichzeitig in einem Arbeitsschritt bestimmen. Das senkt nicht nur signifikant die Kosten, sondern erhöht auch entscheidend die Genauigkeit, was besonders in der Analytik von klinischem Material in der molekularen Diagnostik vererbbarer Erkrankungen von ganz entscheidender Bedeutung ist.

Durch den Einsatz spezieller langer Glasplatten erlaubt es die EMBL-Technologie, bis zu 1500 Basen in einer Reaktion zu bestimmen (das heißt, bis zu 3000 Basen, wenn auf beiden DNA-Strängen gleichzeitig gearbeitet wird). Damit eignet sich die Technologie ausgezeichnet für die effiziente „full-length-cDNA-Sequenzierung“, bei der es zum Beispiel im „human genome project“ von Interesse ist, die kodierenden Bereiche aller menschlichen Gene zu bestimmen. Derzeit haben die existierenden cDNA-Banken, die in mehreren Genomzentren systematisch sequenziert werden und auch von größtem pharmakologischen Interesse sind, eine durchschnittliche Größe von 1500 bis 1700 Basen und könnten mit Hilfe der EMBL-Technologie in jeweils einem einzigen Experiment gelesen werden.

Parallel zu den Weiterentwicklungen der DNA-Sequenzierautomaten wurden am EMBL auch auf dem Gebiet der Sequenzierbiochemie wesentliche Fortschritte erzielt. Neue Enzyme, mit denen Sequenzreaktionen effektiver durchgeführt werden können und die vor allem die direkte Sequenzierung amplifizierter PCR-Produkte erlauben (thermozyklische Sequenzierung), wurden ebenfalls in den letzten Jahren entwickelt und für die Routineanwendung zur Verfügung gestellt.

Auch die Medizin profitierte von der verbesserten Analysetechnik. Bis zum Jahre 2003 soll das gesamte menschliche Genom mit seinen etwa drei Milliarden Basenpaaren gelesen worden sein. Wenn diese Informationen dann für vergleichende Analysen zur Verfügung stehen, wird es möglich sein, einzelne Krankheiten auf spezifische Veränderungen in bestimmten Genen zurückzuführen. Heute ist das bereits bei einer kleinen, aber rasch wachsenden Zahl von Erkrankungen möglich, wie bei bestimmten Stoffwechselstörungen, einigen erblichen Krebserkrankungen und bestimmten Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Je mehr Sequenzinformationen zur Verfügung stehen, desto mehr Wechselwirkungen einzelner Varianten der genetischen Information kann man in bezug auf ihre für bestimmte Erkrankungen prädisponierende Rolle hin untersuchen. Die Analyse der komplexen Wechselwirkungen und die daraus ableitbaren Möglichkeiten, Krankheitsprädispositionen frühzeitig zu erkennen und den Ausbruch der Krankheiten gezielt zu verhindern, werden die medizinische Praxis der Zukunft nachhaltig beeinflussen. Für einzelne Erkrankungen ist das bereits Realität, zum Beispiel für die familiäre adenomatöse Polyposis coli. Patienten in diesen Familien erkranken in jungen Jahren an bösartigen Tumoren des Dickdarms. Bisher wurden die Tumoren häufig zu spät erkannt. Heute werden den betroffenen Familienmitgliedern daher regelmäßig aufwendige Vorsorgeuntersuchungen (Darmspiegelungen) empfohlen, um die drohende Tumorerkrankung rechtzeitig entdecken zu können. Nun erbt jedoch statistisch gesehen nur jedes zweite Familienmitglied die Anlage für die Erkrankung, so daß die Vorsorgeuntersuchung bei der Hälfte der Personen gar nicht durchgeführt werden müßte. Den Familienmitgliedern könnten also die belastenden regelmäßigen Darmspiegelungen erspart bleiben.

Durch die DNA-Sequenzanalyse bestimmter Genabschnitte kann ein betroffener Anlageträger identifiziert werden, auch ohne eingreifende Untersuchungen durchführen zu müssen. Dem Patienten kann nun ein spezielles Vorsorgeprogramm vorgeschlagen werden, um eine Tumorerkrankung rechtzeitig festzustellen und zu behandeln. Den nicht betroffenen Personen kann die Sorge, daß sie betroffen sein könnten, durch einen einfachen Test genommen werden. Mit Hilfe der DNA-Sequenziertechnologie des EMBL konnte in der Sektion für molekulare Diagnostik und Therapie an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg die Identifizierung der krankheitsrelevanten genetischen Information für die dort betreuten Patienten und ihre Familien als Routinescreening realisiert werden.

Sequenzanalytik als Grundlage der Biotechnologie

Das Beispiel des erblichen Dickdarmkrebses zeigt, wie rasch die DNA-Analytik bei Erkrankungen zur Routine werden kann. Der Sequenzierbedarf wird dadurch zunehmend größer und sprengt den Rahmen eines wissenschaftlich-klinischen Labors. Die DNA-Analytik im Rahmen der Diagnostik von Krankheitsprädispositionen wirft natürlich vielfältigste ethische Fragen auf, die nicht durch die Kräfte des freien Marktes oder kommerzieller Interessen beeinflußt werden dürfen. Die intensiver einsetzende Diskussion um die molekulargenetische Diagnostik ererbter Krankheitsprädispositionen wird sehr wesentlich zur Klärung bisher ungelöster ethischer Fragen in diesem Feld beitragen. Eine technisch erstklassige Durchführung der DNA-Sequenzdiagnostik, die entsprechende DNA-Sequenzierkapazitäten voraussetzt, sollte in einem kommerziell arbeitenden Labor angesiedelt sein, da nur solche Laboratorien langfristig ausreichende Erfahrungen und technische Voraussetzungen für diese Analysen mitbringen. Dennoch sollte die Nukleinsäureanalytik dort nur in direkter Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Humangenetikern oder anderen fachlich entsprechend ausgewiesenen Ärzten durchgeführt werden. Hierzu müssen jeweils klare Protokolle erstellt und den jeweiligen Fachgremien vorgelegt werden. Ein kommerzielles Labor muß Sorge dafür tragen, daß die molekulare Diagnostik erblicher Krankheitsprädispositionen nur mit Zustimmung der betroffenen Patienten auf Veranlassung der verantwortlichen Ärzteschaft ausschließlich im Interesse betroffener Patienten und ihrer Familien erfolgen darf. Das DNA-Sequenzanalytiklabor ist hier als kompetenter Anbieter der Nukleinsäureanalytik und nicht als Institution, die die Indikationsstellung zur Durchführung entsprechender Tests mit beeinflußt, zu sehen.

In Zukunft werden zunehmend auch Technologien von Interesse sein, die es ermöglichen, komplexere Zusammenhänge der Genexpression darzustellen. Dabei kann es zum Beispiel darum gehen zu analysieren, wie bei bestimmten Krankheitsbildern oder -stadien eine Vielzahl von Genen in ihrer Regulation zueinander verändert werden, bestimmte Gene verstärkt oder vermindert oder gar nicht mehr exprimiert werden. Sollten im Idealfall alle Gene eines Organismus bekannt sein, wird es darum gehen, quantitative Aussagen über die Expressionsrate verschiedener „Transkripte“ im Vergleichsfall – krankhaft versus gesund – zu machen. Mit Hilfe der kürzlich entwickelten SAGE-Technologie (Serial Analysis of Gene Expression) ist es möglich, durch einen geschickten PCR-Klonierungsansatz in Kombination mit einer effizienten Sequenzierungstechnologie ausgehend von der Gesamt-mRNS in kürzester Zeit tausende von „Transkripten“ quantitativ zu erfassen und somit Rückschlüsse auf Veränderungen im Expressionsprofil zu erstellen. Auch hierbei erweist sich die Kombination der Klonierungstechnologie mit der „high-through-put“-EMBL-Sequenzierungstechnologie als glücklich und sehr vielversprechend.

Je mehr genetische Informationen gelesen werden und je mehr über die Funktion der daraus abgeleiteten Sequenzen und Proteine bekannt wird, desto mehr Rückschlüsse auf grundlegende biologische Funktionsprinzipien können direkt anhand der gelesenen genetischen Information gezogen werden. Das führt zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, der Bioinformatik. Als Paradebeispiel für die Effizienz und den Erfolg bioinformatischer Analysen hat sich im vergangenen Jahr die Auswertung der DNA-Sequenzdaten der Bäckerhefe erwiesen, die als Modellorganismus der Biotechnologie gilt. Die Analytik wird sehr rasch weitreichende Konsequenzen auch für die Diagnose, Behandlung und Heilung menschlicher Krankheiten haben (zum Beispiel für die Alzheimer-Erkrankung, siehe Artikel Seite 37).

Das Genom der Bäckerhefe ist so gut wie vollständig entschlüsselt. Um nun über die Funktion der über 6000 Gene Aussagen machen zu können, vergleicht man die Sequenz eines jeden Hefegens mit allen Referenz-Sequenzen, welche in den weltweit verteilten Sequenz-Datenbanken abgelegt sind. Findet man dort eine ausreichend ähnliche Sequenz, deren Funktion bereits bekannt ist, läßt das Rückschlüsse auf die Funktion oder den Informationsgehalt der untersuchten Hefe-Sequenz zu. Bisher wurden solche Analysen von Experten interaktiv am Computer durchgeführt; für das komplexe Hefegenom hätten sie mit modernen Workstations viele Monate in Anspruch genommen. Derart große Sequenzdaten verlangen in zweierlei Hinsicht nach hochleistungsfähigen und hochautomatisierten Werkzeugen. Einerseits aus purer Notwendigkeit höchster Rechenleistung für den Einsatz schnellster Algorithmen und Heuristiken und andererseits als unabdingbare Wissensstütze für Experten. Die sehr schnell wachsenden Datenbanken über Gen- und Protein-Familien von Genom-Projekten übersteigen mittlerweile bei weitem das Wissen, das sich ein Individuum in seiner Lebenszeit aneignen kann.

Die Funktionsanalyse des Hefegenoms wurde im europäischen Technologie- und Produktionszentrum von Silicon Graphics in Cortaillod (Schweiz) in nur drei Tagen durchgeführt und lieferte über zwölf GigaByte Ergebnisdaten. Den drastischen Zeitgewinn ermöglichte der parallele Einsatz eines Verbunds von vier Supercomputern. Das für die weitere genetische Forschung wegweisende Projekt wurde gemeinschaftlich von Wissenschaftlern des EMBL (Heidelberg), des European Bioinformatics Institute (Cambridge) und des European Chemistry Technology Center von Silicon Graphics (Basel) realisiert. Von zentraler Bedeutung für den Erfolg des Projekts war auch der Einsatz eines Software-Pakets aus dem EMBL. Es ermöglicht die automatische Sequenzanalyse und daraus abgeleitete Funktionsvorhersagen. Es verfügt über ein Expertensystem mit regelbasiertem Wissen und entscheidet, welche Sequenzen am besten mit welchem der zur Verfügung stehenden Analyseprogramme auf Homologien und Sequenzeigenschaften hin untersucht werden sollen. Die Ergebnisse werden dann automatisch zu den jeweiligen Sequenzen annotiert. Der Erfolg des Projekts ist einzigartig. Von den über 6000 Gen-Sequenzen des Hefegenoms konnte die Funktion von etwa neun Prozent der dort kodierten Proteine vorhergesagt und ihre dreidimensionale Struktur visualisiert werden. Von weiteren 59 Prozent konnte die Funktion ohne die dreidimensionale Struktur vorhergesagt werden. Bei ungefähr sieben Prozent ließ sich eine wahrscheinliche Funktion vorhersagen.

Für ungefähr 14 Prozent konnte zwar keine direkte Funktion, jedoch eine Homologie vorhergesagt werden. Für lediglich 11 Prozent ließen sich weder Funktion noch Homologie vorhersagen.

Weiterentwicklungen basierend auf der Softwarestrategie, die die Analytik des Bäckerhefegenoms ermöglicht hat, werden LION biosciences durch die Mitgründer und Entwickler des Programms, Dr. Reinhard Schneider und Dr. Georg Casari, zur Verfügung gestellt. Ihre Arbeiten werden in engerer Kooperation mit Dr. Peer Bork, der als Gastwissenschaftler des Max-Delbrück-Zentrums Berlin am EMBL tätig ist, auf die spezifischen Anwendungen der LION AG hin weiterentwickelt. Durch die Bioinformatik wird LION über einen weltweit führenden biomathematischen Beratungs- und Analyseservice verfügen.

Doch wer benötigt genetische Information zu welchem Zweck? Wo sind die Kunden eines auf Nukleinsäureanalytik spezialisierten Unternehmens? Die Entwicklung der molekularen Biologie hat es ermöglicht, die gelesene Information in jeder beliebigen Weise zu verändern, umzusetzen oder anzuwenden. Gezielte Vorhersagen durch Gen-Design ermöglichen die Synthese von „Proteinen nach Maß“, die für jede vorstellbare Nutzung Verwendung finden könnten. Die Technologie birgt ein ungeheures Potential wissenschaftlicher wie industrieller Anwendungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Von Waschmitteln bis zu Pharmaka, von der Umwelttechnologie bis zur Computerindustrie (Konstruktion sogenannter Protein- oder DNA-Chips) reichen die Anwendungsmöglichkeiten.

Wissenschaftliche Institutionen wie auch industrielle Unternehmen aus allen Bereichen der Technik, Chemie, Pharmazie und Medizin werden in zunehmendem Maße Bedarf an DNA-Sequenzanalytik und Auswertung haben, um in der Zukunft auf ihrem jeweiligen Gebiet erfolgreich konkurrieren zu können. Ein spezieller Bedarf besteht an der Verwendung der Nukleinsäure-Sequenzinformationen für die Veränderung von Organismen, die bestimmte gewünschte Leistungen erfüllen, zum Beispiel im Bereich der Umwelttechnologie oder der Energiegewinnung, für die Herstellung verbesserter Produkte der chemischen Industrie, zum Beispiel verbesserter Enzymaktivitäten für Waschmittel. Bedarf besteht außerdem an der Analyse der Genexpressionsprofile lebender Organismen unter bestimmten Bedingungen und der Identifikation neuer Gene, die für bestimmte biologische Funktionen relevant sind, sowie an Vorhersagen der pharmakologischen Beeinflußbarkeit veränderter Proteine bei bestimmten Erkrankungen, an klinischen Diagnosen auf Nukleinsäurenbasis, genetischen Impfverfahren und Gentherapie.

Bis heute wurden Sequenzanalysen im wesentlichen in akademischen Labors durchgeführt. Der enorm gestiegene Bedarf an Sequenzierleistungen für alle biotechnologischen und biomedizinischen Anwendungen sprengt aber bei weitem die Kapazität, die akademische Institutionen zu leisten vermögen und auch zu leisten gewillt sein dürfen. Hieraus ergibt sich eine starke Nachfrage nach einem Serviceanbieter, der auf höchstem wissenschaftlichen und technologischen Niveau diese Leistung umfassend zur Verfügung stellt. In den USA haben sich in den letzten fünf Jahren bereits zahlreiche Firmen gegründet, zum großen Teil aus universitären Forschungseinrichtungen heraus, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten dem schon vor einiger Zeit stark gestiegenen Bedarf an Nukleinsäureanalytik Rechnung tragen. In Europa hat sich diese Entwicklung noch nicht in vergleichbarem Umfang niedergeschlagen. Hier werden die meisten Aufgaben der Nukleinsäureanalytik nach wie vor von universitären und außeruniversitären öffentlichen Forschungseinrichtungen wahrgenommen. Diese Überlegungen haben zur Gründung von LION bioscience (Laboratories on the Investigation of Nucleotide Sequences) geführt.

Das Unternehmenskonzept von LION bioscience basiert darauf, umfassende Nukleinsäuresequenz-Analytik und -Interpretation jeweils mit der neuesten und effizientesten Technologie anzubieten, und zwar insbesondere als Routinedienstleistung für Institutionen aus Wissenschaft oder Industrie; für Projekte zur Totalanalyse ganzer Genome, beispielsweise als Auftragsdienstleistung für Forschungseinrichtungen und die Industrie; zur Unterstützung der Diagnostik vererbter und anderer Erkrankungen als Dienstleistung für Auftraggeber aus dem Gesundheitssystem; für die Analyse von genetischen Expressionsprofilen von Organismen unter physiologischen und pathophysiologischen Bedingungen; als umfassenden biomathematischen Informations- und Beratungsservice; für die Erstellung von Reagenzien zur Analyse der Expression und Funktion von genetischer Information, zum Beispiel präparierten Sonden oder monoklonalen Antikörpern.

Zusätzlich wird als vorgelagerte Dienstleistung ein Nukleinsäure-Aufarbeitungsservice installiert sowie als nachgeschaltete Leistung die Sequenzauswertung und Interpretation im Rahmen der Bioinformatik angeboten. Die einzelnen Unternehmensziele sollen durch ein umfassendes und wissenschaftlich kompetentes Beratungsprogramm für die Kunden von LION ergänzt werden.

Das Unternehmen wurde im März 1997 durch Prof. Wilhelm Ansorge, Dr. Friedrich von Bohlen, Dr. Peer Bork, Dr. Georg Casari, Prof. Magnus von Knebel-Doeberitz, Dr. Reinhard Schneider und Dr. Hartmut Voss gegründet. Dr. Friedrich von Bohlen hat als Vorstand die Geschäftsführung übernommen. Neben den gesetzlich vorgeschriebenen Organen ist ein wissenschaftlicher Beirat vorgesehen, der die Gesellschaft in fachlicher, technischer und methodischer Hinsicht beraten und unterstützen soll. Unternehmenssitz ist Heidelberg, per se ein Zentrum der molekularen Biowissenschaften in Europa. Von Beginn an ist eine enge Zusammenarbeit mit Hochschulen und anderen Instituten geplant, die auf dem Gebiet der Nukleinsäure-Sequenzanalytik tätig sind. Mit dem EMBL wurde bereits ein Kooperationsvertrag vereinbart. Ähnliche Kooperationsvereinbarungen sind auch mit dem DKFZ und der Universität Heidelberg geplant.

Autor:
Prof. Dr. Magnus von Knebel-Doeberitz
Sektion für Molekulare Diagnostik und Therapie, Chirurgische Universitätsklinik, Im Neuenheimer Feld 110, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 56 28 76

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