Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Es reicht nicht, die Banken zu retten“

Seit 30 Jahren bietet das europäische Bildungsprogramm Erasmus Studierenden, Lehrenden und administrativem Hochschulpersonal die Möglichkeit, Auslandserfahrung innerhalb Europas zu sammeln. Im Juni fand in Heidelberg die „Erasmus+“ Jahrestagung der Nationalen Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) statt – „Erasmus+“ als Programm der Europäischen Union für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport fasst die früheren EU- und Kooperationsprogramme im Hochschulbereich zusammen. Zu den Teilnehmern der Tagung zählte Alan Smith (Foto: Fink), einer der Väter von Erasmus. Smith leitete von 1978 bis 1987 die Verwaltungsstelle der Vorläuferaktion zur Förderung von „Gemeinsamen Studienprogrammen“ und wirkte in dieser Eigenschaft beim Aufbau von Erasmus mit. Nach dem Start des Programms war er bis 1992 Direktor des Büros in Brüssel, das im Auftrag der EU-Kommission für die Gesamtorganisation zuständig war. Anschließend widmete sich Alan Smith in der Europäischen Kommission unter anderem dem Aufbau des Grundtvig-Programms für die Erwachsenenbildung. Mirjam Mohr sprach mit ihm:

Mister Smith, welche Ideen und Ziele hatten die Initiatoren des Erasmus-Programms?

„Die Idee zu Erasmus entstand in einer Zeit in den 1980er-Jahren, als Europa gerade in der Krise war, vor allem wegen wirtschaftlicher Stagnation. Damals beschloss die Europäische Kommission unter Jacques Delors, einen Termin für die Vollendung des europäischen Binnenmarkts zu setzen. Dieser Beschluss hatte Auswirkungen auf alle Sachbereiche und damit auch auf die Bildung. Wenn man einen europäischen Binnenmarkt einrichten will, braucht man aus wirtschaftlicher Sicht auch ‚Humanressourcen‘, die diesen Binnenmarkt ausschöpfen. Gleichzeitig hat man aber auch erkannt, dass man nicht nur die Wirtschaft sondern auch die Bürger für Europa gewinnen muss, wenn die europäische Einigung einen tieferen und langfristigen Sinn haben soll. Somit war klar: Wir brauchen ein Europa der Bürger! Da passte der Vorschlag für das Erasmus-Programm genau, weil Studenten eine sehr starke und wichtige Zielgruppe sind und zudem durch Auslandserfahrungen von der Idee des stärkeren Zusammenhalts zwischen den Völkern besonders profitieren. Diese zweifache Komponente gilt auch heute noch: Europa ist wieder in der Krise, erneut wird nach einer Neuordnung gerufen, und auch jetzt ist man überzeugt, dass wir die Bürger mitnehmen und mitgestalten lassen müssen. Es reicht nicht, die Banken zu retten, sondern wir müssen wirklich die Menschen mit auf diese europäische Reise nehmen. Insofern: Wenn Erasmus noch nicht erfunden wäre, dann müsste man es jetzt erfinden.“

Wie hat sich das Erasmus-Programm in den 30 Jahren seines Bestehens entwickelt?

„Das eigentliche Hochschulprogramm Erasmus hat sich strukturell über die langen Jahre als sehr stabil erwiesen. Es gab aber eine Weiterentwicklung in mehrfacher Hinsicht. Zunächst eine unglaubliche quantitative – inzwischen haben um die vier Millionen Studierende an Austauschprogrammen teilgenommen – Entwicklung, mit der auch eine Fortentwicklung einherging: Am Anfang standen Partnerschaften von Fachbereichen im Mittelpunkt, inzwischen wurde auf die Hochschulebene umgestellt. Zudem gab es eine geographische Erweiterung: Als Erasmus eingerichtet wurde, hatten wir elf Mitgliedsstaaten in der damaligen Europäischen Gemeinschaft, jetzt sind es 28 Mitgliedsstaaten – demnächst leider nur noch 27 – und 33 Länder insgesamt, weil einige Nachbarstaaten der EU wie Norwegen und die Türkei auch teilnehmen. Die Tatsache, dass heute alle Mitgliedsstaaten in alle Richtungen austauschen, ist eine große Errungenschaft. Die dritte große Entwicklung, die ich persönlich sehr wichtig finde, besteht darin, dass das Hochschulprogramm Erasmus inzwischen nicht mehr das einzige Austausch- und Kooperationsprogramm im Bildungsbereich ist. Ich war in der Europäischen Kommission auch für den Programmbereich Erwachsenenbildung und teilweise auch für die Schulen zuständig, und auch diese Bildungssektoren haben, wie die berufliche Bildung, inzwischen EU-Programme. Seit 2014 sind alle zusammengefasst in ‚Erasmus+‘. Dieses kleine Pluszeichen ist äußerlich ein kleiner, tatsächlich aber ein sehr wichtiger Unterschied. Es ist zwar großartig, was Erasmus für die Hochschulen und deren Lehrende und Lernende bewirkt hat, aber die Hochschulen sind nicht allein in der Gesellschaft. Für Europa ist es ebenso wichtig, dass wir die europafernen Schichten und die Europa-Skeptiker erreichen – und das kann man nur, wenn man auch die Schulen, die berufliche Bildung und die Erwachsenenbildung einbezieht.“

Wie hilfreich ist ein solches Austauschprogramm angesichts zunehmender Europakritik und eines sich ausbreitenden Nationalismus?

„Europa steht vor großen Herausforderungen und muss zunächst einmal die ganz großen Fragen in den Griff bekommen – wobei unterschiedliche Meinungen erlaubt sind, was die ganz großen Fragen sind. Meine Überzeugung ist jedenfalls, dass es nicht ausreicht, Europa nur finanziell und wirtschaftlich zu sehen. Wenn man wirklich die Menschen mitnehmen will auf diese europäische Reise, dann muss es auch ein soziales Europa sein, und auch ein Europa, das in der Welt solidarisch ist. Europa muss sich selbst zudem besser kommunizieren: Es kann nicht sein, dass Politiker aus Brüssel zurückkommen und sagen, Brüssel sei an allem schuld. Wir brauchen also eine positive Kommunikationspolitik für Europa. Und drittens benötigen wir die Bildungsprogramme, die in mehrfacher Weise helfen können – nach wie vor gewissermaßen wirtschaftspolitisch, also durch die Herausbildung von Menschen, die bereit sind, europäisch zu arbeiten. Genauso wichtig ist aber, dass diese Bildungsprogramme Bürger aus allen Schichten in das ‚Erlebnis Europa‘ einbeziehen. Außerdem können wir durch die Projekte von ‚Erasmus+‘ einen wichtigen Beitrag zur Lösung sozialer Probleme leisten, bei denen es um Teilhabe an der Gesellschaft geht – etwa die Integration von Flüchtlingen oder die soziale Inklusion. Das sind große Themen, die für die Bevölkerung insgesamt wichtig sind. Und da können die strategischen Partnerschaften und die Mobilität im Rahmen von ‚Erasmus+‘ einen sehr wichtigen Beitrag leisten.“

www.erasmusplus.de

Siehe auch: „Erfolgsstory Erasmus: 30 Jahre internationaler Austausch“