Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Hier kann man von verdeckter Armut sprechen“

Die von der Bundespolitik festgelegten Bedarfssätze beim Studierenden-BAföG sind zu niedrig und müssten rasch erhöht werden, mahnt das Deutsche Studentenwerk (DSW), Verband der 58 Studentenwerke, die im Auftrag von Bund und Ländern die Ausbildungsförderung umsetzen. Grund für die Forderung ist eine neue und belastbare Studie zu den Lebenshaltungskosten der Hochschüler, die ein Autorenteam vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in Berlin unter Leitung von Dr. Dieter Dohmen im Auftrag des DSW erstellt hat. Zum ersten Mal seit 1990 liegt damit wieder eine empirische Basis vor.

Das wichtigste Ergebnis der Studie: Die BAföG-Bedarfssätze für Studierende sind zu niedrig. Sie decken die tatsächlichen Kosten nur in begrenztem Umfang, und das selbst dann, wenn entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nur die Ausgaben der 15 Prozent am unteren Einkommensspektrum für die Analyse herangezogen werden. Die ermittelte Unterdeckung beträgt beim BAföG-Grundbedarf zwischen 70 und 75 Euro monatlich. Ebenso wenig reichen die Pauschalen fürs Wohnen selbst bei den unteren 15 Prozent kaum zur Deckung der tatsächlichen Mietkosten aus.

Eine Förderlücke sehen die FiBS-Autoren zudem bei den BAföG-Zuschlägen für die Kranken- und Pflegeversicherung, vor allem für über 30-jährige Studierende. Denn die Zuschläge orientieren sich ausschließlich an der studentischen Krankenversicherung, sprich an den 86 Euro im Monat für Studierende, die älter als 25 Jahre sind, jedoch nicht an den viel höheren Beiträgen für über 30-jährige Hochschüler. Diese müssen mehr als 150 Euro monatlich für die Krankenversicherung aufwenden.

Die FiBS-Wissenschaftler orientierten sich für die neue Studie an der Sozialgesetzgebung und zogen als Datengrundlage die 20. Sozialerhebung des DSW von 2012, die amtliche Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes aus dem Folgejahr sowie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) heran. Die jüngste BAföG-Erhöhung zum vergangenen Wintersemester konnte dabei ebenso wenig berücksichtigt werden wie die jetzt veröffentlichten Ergebnisse der 21. Sozialerhebung, die im Sommer 2016 vorgenommen wurde. Zum Winter 2016/2017 sind beim BAföG der Grundbedarf sowie die Wohnpauschale um je 26 Euro angehoben worden – letztere für Studierende, die bei ihren Eltern wohnen, um drei Euro.

Prof. Dr. Dieter Timmermann, Präsident des Deutschen Studentenwerks, erklärte: „Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber bei der Bedarfsermittlung der Sozialleistungen im Sozialgesetzbuch II vorgegeben, den Bedarf empirisch zu ermitteln und dazu alle existenznotwendigen Aufwendungen transparent, sach- und realitätsgerecht auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen. Dies gilt auch für die BAföG-Bedarfssätze. Eine neue Bundesregierung muss nun den studentischen Bedarf auf der Grundlage aktueller Daten – zum Beispiel eben die EVS oder die 21. Sozialerhebung – festsetzen und umgehend eine BAföG-Erhöhung auf den Weg bringen, die die heute aufgezeigten Förderlücken schließt. Wir stehen dabei mit unserer Kritik an normativ-politischen Bedarfssetzungen nicht alleine. Sowohl der Paritätische Wohlfahrtsverband als auch die Diakonie fordern in vergleichbaren Berechnungen für die Sozialleistung eine Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene von derzeit 409 Euro auf 520 und 560 Euro.“

Der Generalsekretär des DSW, Achim Meyer auf der Heyde, kommentierte: „Die Studie zeigt zum einen, dass die Ausgaben von einkommensschwachen Studierenden deutlich unterhalb des BAföG und ALG II-Satzes liegen. Hier kann man von verdeckter Armut sprechen. Wir fragen uns, ob diese Studierenden keinen BAföG-Anspruch haben oder – unter anderem aufgrund des Darlehensanteils – auf die Inanspruchnahme verzichten. Zum anderen verdeutlicht die Studie die Notwendigkeit der mittelbaren Förderung von Studierenden, zusätzlich zur Individualförderung des BAföG. Die Wohnpauschale deckt allenfalls die Mietkosten der Wohnheimbewohner. Wer höhere Mietkosten hat, spart nach der Studie an Ausgaben für das Essen. Damit wird unsere seit langem erhobene Forderung nach einem flankierenden Hochschulsozialpakt wieder einmal bestätigt – Bund und Länder müssen dringend in Ausbau und Sanierung von Wohnheimen investieren.“

Für die FiBS-Studie wurden die 15 Prozent der Studierenden am unteren Einkommensspektrum in die Untersuchung einbezogen – nicht jedoch die BAföG-beziehenden Studierenden selbst. Dieses Verfahren wird auch bei der Berechnung des Regelbedarfs für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe angewendet. Bei diesen 15 Prozent, die über vergleichsweise geringe Einnahmen verfügen und kein BAföG erhalten, vermuten die FiBS-Autoren „verdeckte Armut“.

Im Jahr 2015 wurden laut Statistischem Bundesamt 611 000 Studierende nach dem BAföG gefördert, im Monatsdurchschnitt waren es 401 000. Gewährt wurde dabei im Mittel eine Unterstützung von 448 Euro monatlich. Vier Fünftel der BAföG-geförderten Hochschüler sagen, ohne könnten sie nicht studieren. Die Kosten für die Ausbildungsförderung von Schülern und Studierenden trägt seit zwei Jahren der Bund; 2015 machten sie 2,158 Milliarden Euro aus.

Studie „Ermittlung der Lebenshaltungskosten von Studierenden“ (pdf)

Statements zur FiBS-Studie

Siehe auch: „21. Sozialerhebung: Der finanzielle Druck auf die Studierenden nimmt zu“

Siehe auch CHE: „Kellnern statt Kredit: Immer weniger Studierende verschulden sich“

Siehe auch Hans-Böckler-Stiftung: „Zu wenig Geld für mehr Studierende“